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Der Vorher-Nachher-Mann: Ein Nachruf auf Steve Albini

Zum Tod von Steve Albini

Der Vorher-Nachher-Mann
Steve Albini wollte nie Musikproduzent genannt werden, höchstens Toningenieur. Dabei war der Mann so viel mehr: Fanzine-Autor, Bandleader, Undergroundgewissen, Berufsquerulant. Zuletzt spielte er halbprofessionell Poker und schrieb einen Blog über das Kochen. Jetzt ist der ewige Außenseiter mit 61 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Markus Hockenbrink.
Steve Albini in seinen Electrical Audio Studios, Chicago, 2005 (Foto: Paul Natkin/Getty Images)
Steve Albini in seinen Electrical Audio Studios, Chicago, 2005 (Foto: Paul Natkin/Getty Images)

Im Herbst 2021 gibt Steve Albini ein vielbeachtetes Interview, das ihm im Nachhinein eine Menge Respekt einbringt. Gerade rechtzeitig, wie man jetzt nach seinem Tod feststellen könnte. Im Grunde ist es eine einzige Entschuldigung, die allerdings aufrichtig klingt und gut formuliert ist. „Ich bin längt fällig für eine Auseinandersetzung über meine Rolle in diesem ganzen Edgelord-Shit“, sagt der Musikproduzent, um danach zu einer Erklärung auszuholen. Weil er lange der Auffassung gewesen sei, dass Worte bloß Worte wären und er persönlich alle kulturellen und sexuellen Barrieren überwunden hätte, dürfe er straflos und guten Gewissens alles um ihn herum beleidigen und provozieren. Tatsächlich ist der Mann, der einmal eine seiner Bands „Rapeman“ getauft hat, fast genauso bekannt für seine ätzenden Kommentare wie für die unglaublichen Musiker:innen und Bands, die er produziert beziehungsweise „aufnimmt“. Eine davon heißt Mclusky, und ihr Sänger Andrew Falkous beklagt sich einmal bei VISIONS darüber, dass er im Laufe seiner Karriere öfter nach Albini gefragt worden ist als nach seiner eigenen Band.

Steven Frank Albini wird am 22. Juli 1962 im kalifornischen Pasadena geboren, doch seine Familie hält es nicht lange an einem Ort. Auf der Reise durch den Mittleren Westen der USA entdeckt er als Jugendlicher die Ramones und Sex Pistols für sich, deren Vorstellung von grenzüberschreitender Punk-Ästhetik ihn sein Leben lang inspirieren soll. Nach der Schule lässt er sich in Chicago nieder, wo er für das Mini-Label Ruthless Records arbeitet und für diverse Fanzines schreibt. Zwischendurch spielt er in mehreren Bands, bis er 1981 Big Black gründet, deren Alben „Atomizer“ (1986) und „Songs About Fucking“ (1987) zu Szeneklassikern werden. Die Musik darauf ist aggressiv, konfrontativ – und durch und durch Albini. „Jeder kann Noten spielen“, sagt er. „Das ist keine Kunst. Die Kunst besteht darin, eine Gitarre dazu zu bringen, Dinge zu tun, die überhaupt nicht wie eine Gitarre klingen. Hier geht es darum, Grenzen zu erweitern.“

Zu diesen Grenzen gehören bald auch die des guten Geschmacks. Albini ist ein passionierter Leserbriefschreiber und selbsternannter Underground-Sheriff, der am liebsten im Namen der reinen Lehre über die Kollegen herzieht. Vor allem die damaligen Lokalmatadore aus Chicago bekommen ihr Fett weg. Liz Phair nennt er „unerträglich“, die Smashing Pumpkins vergleicht er unvorteilhaft mit REO Speedwagon, Urge Overkill sind für ihn „Würstchen in Anzügen, die Frat-Party-Rock spielen und einem albernen Trend folgen, der gar nicht existiert.“ Der Kommentar kommt, nachdem er das Debüt „Jesus Urge Superstar“ (1989) höchstpersönlich produziert hatte, und soll offenbar eine besondere Art der Unbestechlichkeit seinerseits unter Beweis stellen – eine Idee, die für die Albini tatsächlich ins Extrem geht. In seinem Tonstudio Electrical Audio nimmt er jeden auf, der anfragt, ob ihm die Musik gefällt oder nicht. Auch Tantiemen in Form einer Produzentenbeteiligung schlägt er aus Prinzip aus. Das macht seine Arbeitszeit auch für absolute Newcomer erschwinglich.

Verstehen, aufnehmen

Den Ruf, den Albini damit verteidigt, hat er einer jungen Band namens Pixies zu verdanken, deren Album „Surfer Rosa“ (1988) mit ein paar Jahren Verspätung all das verkörpert, was sich Alternative-Rock-Bands damals von einer Produktion wünschen: simpel, aber laut und direkt auf den Punkt. „Richtige“ Produzenten verschlimmbessern Platten nur, findet Albini, seine Methode lautet dagegen: verstehen, was eine Band ausmacht, und dann die Aufnahmetaste drücken. Und hinterher vielleicht noch ein bisschen lästern. Die Pixies sind für ihn „eine Band, die selbst an ihren besten Tagen höchstens langweiligen College Rock spielt“ und kommen ihm nach ihrem kommerziellen Durchbruch vor wie „vier Kühe, die sich nach ihren Nasenringen sehnen“.

»Die Kunst besteht darin, eine Gitarre dazu zu bringen, Dinge zu tun, die überhaupt nicht wie eine Gitarre klingen.«

Steve Albini

Auch für Nirvana, deren Album „In Utero“ ihn 1993 zum Superstar hinter den Reglern macht, findet er nicht nur anerkennende Worte. In einem vielbeachteten Aufsatz namens „The Problem With Music“ beklagt er sich darüber, dass im Zuge ihres Erfolgs Indierock für ihn nun wie „Bierwerbung“ klinge und er diverse Protagonisten der Szene am liebsten „erwürgen“ würde. „Für mich war er der König des Undergrounds“, sagt Bush-Sänger Gavin Rossdale, ebenfalls Albini-Kunde und der Strangulation bis zuletzt entkommen. Er ist einer von mutmaßlich Tausenden Musiker:innen, mit denen der Toningenieur über die Jahrzehnte gearbeitet hat. Die Liste der von ihm betreuten Alben, viele Klassiker der VISIONS-Welt, wirkt endlos und reicht von PJ Harvey, Slint und Jawbreaker über Low, Neurosis und Mono, bis zu Godspeed You! Black Emperor, Joanna Newsom und Cloud Nothings. Nicht zu vergessen Albinis eigene Band Shellac, die seit 1992 seinen Traum integren Lärms verkörpert und gerade erst ihr neues Album „To All Trains“ in den Startlöchern stehen hatte.

Und dann ist da eben noch dieses Interview von 2021. Neben teilweise haarsträubenden rassistischen Bemerkungen, die er über die Jahre getätigt habe, sei er außerdem taub für die Belange von Frauen gewesen, gesteht Albini darin: „Viele Dinge, die ich aus einer ignoranten, bequemen und privilegierten Position heraus gesagt und getan habe, sind schrecklich, und ich bereue sie.“ Die Vorstellung, dass alle Probleme der Welt gelöst sind, nur weil sich jemand wie er auf „edgy“ Weise darüber lustig macht, so Albini weiter, sei im Nachhinein „ein grundlegendes Versagen meiner Wahrnehmung“ gewesen. „Es war für mich ein Prozess der Aufklärung, zu erkennen und zu akzeptieren, dass mein Status als Weißer in Amerika das Produkt institutioneller Vorurteile ist, dass ich deren Vorteile aktiv und passiv genossen habe. Und ich bin dafür verantwortlich, meine Rolle im Patriarchat und in der weißen Vorherrschaft sowie in der Unterwerfung und dem Missbrauch von Minderheiten aller Art zu akzeptieren.“ Hört sich doch gut an, Steve Albini!

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