Am anderen Ende der Leitung ins südliche Kalifornien nuschelt ein hörbar verschlafener Dustin Kensrue ein schwaches “Good morning” in den Hörer. Vor geschätzten zwei Minuten sei er aufgestanden, erzählt er und gähnt – oder gönnt sich zumindest eine lange Stöhn- und Sprechpause. Gemessen an der Länge des Klingelns sind wir nicht ganz sicher, ob wir ihn nicht sogar geweckt haben. Schließlich ist es Dank der neunstündigen Zeitverschiebung in Orange grad kurz nach sieben Uhr morgens. Eine jedoch mitunter nicht völlig ungewöhnliche Zeit für den Sänger einer der umtriebigsten Rockbands dieser Tage: “Ich bin nicht unbedingt ein Frühaufsteher, aber auch niemand, der bis mittags in den Federn liegt”, erzählt er und taut dabei langsam auf. “Schließlich habe ich einen Job, der mir Spaß macht, und eine Familie…” Er stockt, die Kaffeemaschine beginnt zu röcheln, dann meldet er sich merklich munterer zurück: “Jetzt ist Linderung in Sicht… Außerdem wird heute ein toller Tag. Meine Frau und ich machen uns gleich nach dem Interview auf den Weg zum Arzt, um das Geschlecht unseres Babys herauszufinden.”
Als Dustins Band Thrice vor etwa zwei Jahren ihre Konzept-EP-Reihe “The Alchemy Index” ankündigte und kurz darauf der erste Teil, “Fire & Water”, sie erstmals auf das Titelblatt eines deutschen Magazins (genau, diesem hier) katapultierte, schien klar: Ihren künstlerischen Zenit, den Fans wie Kritiker bereits mit dem Vorgänger “Vheissu” erreicht sahen, hatte die Band nach Belieben ein Stück weiter verschoben. Die vier EPs (oder zwei Alben) schafften den glaubwürdigen Brückenschlag zwischen der Ambition, die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft in Musik zu übersetzen, die kompositorisch ausgereift klang, und dem Anspruch, sie selbst zu bleiben. Aber wie geht man den Nachfolger eines solchen Mammutprojektes an, so sehr man sich damit auch freigespielt haben mag? Kurz nach dem Erscheinen von “The Alchemy Index” ließ sich Dustin noch euphorisiert zitieren, seiner Band würden nach diesem Album alle Türen offen stehen. Den Fanforen bescherte das seitenlange Threads mit Hoffnungen und Befürchtungen, mit was Thrice als Nächstes aufwarten würden. Darauf angesprochen, lacht Dustin: “Ja, richtig. Das mit den Türen hab ich wohl gesagt, aber das muss ja nicht bedeuten, dass man sie alle gleichzeitig durchschreitet. Erst mal mussten wir uns von dieser großen Denkaufgabe ‘Konzeptalbum’ erholen. Wir haben unsere Instrumente in einen kleinen Raum gestellt und als Band zusammengespielt. Alles kam auf sehr natürliche Art zusammen.”
Das war nicht immer so. Die letzten Alben, gerade das große Kopfzerbrechen namens “The Alchemy Index” planten Thrice lange im Voraus, ohne überhaupt ein Instrument in die Hand zu nehmen, puzzelten an Plänen und Arrangements. Laut Dustin hörte man genau das den Aufnahmen später an. Hört man ihn jetzt reden oder wirft einen Blick in den Bandblog auf thrice.net, fällt auffallend oft das kleine, aber umso wichtigere Wörtchen “Energie”: “Schon bei ‘Vheissu’ schien es mir, als hätten wir viel Energie für dieses epische Gefühl eingetauscht, das damals aufregend, neu und wichtig war, von dem ich aber schon auf ‘The Alchemy Index’ weg wollte”, sagt Dustin und schlürft Kaffee. “Daher auch dieser raue und live eingespielte Earth-Teil des Ganzen und auch mein Soloalbum, das in gewisser Weise in die gleiche Kerbe schlägt. Mir war bei der neuen Platte wichtig, die Energie, die wir live umzusetzen imstande sind, auch auf Platte zu bannen.” Er hält einen Moment inne. “Uns war einfach wichtig, etwas aufzunehmen, das uns berührt: eine klassische Rockplatte. Es tat gut, jeden Plan beiseite zu legen und einfach ins Studio zu gehen, zu spielen.”
So ist “Beggars” nun auch deutlich rauer, reduzierter und – geht es nach Thrice – rhythmusorientierter ausgefallen als jede ihrer früheren Platten. “Es ist ein Gitarrenalbum”, will Dustin verstanden wissen, “außer ein bisschen Fender Rhodes kommen kaum Tasteninstrumente zum Einsatz. Selbst die Gitarrenparts sind schlichter gehalten als sonst. Oft jammten wir im Studio auf Ideen herum, spielten die verschiedenen Parts immer wieder, 20 Minuten lang, bis es etwas Mechanisches bekam. Diese Methode zeigte uns auch, dass die Songs vielleicht nicht acht, sondern nur eine oder zwei Gitarren brauchten, um so zu funktionieren, wie wir es uns vorgestellt hatten.” Hört man “Beggars”, scheint die Reduktion genau das richtige Stilmittel gewesen zu sein. Thrice hatten es noch nie nötig, ihre Songs hinter Bombast zu verstecken, sie im Produktionsglimmer zu vergraben. Auf “Beggars” tragen die Songs ihre Größe mit blanker Brust vor sich her, statt die modernen Aufnahmemöglichkeiten auszunutzen. In diesem Licht scheint es fast, als könnten Thrice nicht aus ihrer Haut und müssten ihren Kosmos mit jeder Platte um zumindest einige Adjektive erweitern: “Ja, in etwa so ist es wohl”, grübelt Dustin vor sich hin. “Wir mögen das Gefühl, uns selbst herauszufordern. Obwohl ich eigentlich überzeugt bin, dass wir unsere Möglichkeiten bei dieser Platte ausgenutzt haben, ohne uns große Steine in den Weg zu legen.”
Trotzdem haben Thrice aus der Arbeit an “The Alchemy Index” ihre Lehren gezogen und an Perspektive gewonnen: “Dadurch, dass wir das Album zum ersten Mal vollkommen allein produziert und alles bei Teppei (Teranishi, Gitarrist) daheim in unserem Studio aufgenommen haben, lernten wir wie nie zuvor, wie wichtig die direkte Zusammenarbeit zwischen uns vieren ist”, so Dustin. “Am Ende haben wir das mehr als alles andere auf die Stücke der neuen Platte angewandt. Es kam uns diesmal nicht so sehr darauf an, wie wir die Songs schreiben, sondern wie wir sie spielen. Es ist schwer zu erklären… Es fühlte sich einfach richtig an, diese Songs in der Art zu spielen und auch gleich aufzunehmen.” Er lacht – vielleicht weil er weiß, wie das für einen Außenstehenden klingen dürfte, der nicht ins Innere der Band blicken kann, die Dustins Leben seit etlichen Jahren mit Inhalt füllt. Vielleicht aber auch einfach, weil er mit dem Ergebnis derart zufrieden ist.