Pearl Jam haben am Samstag in Sydney zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder „Hunger Strike“ von Temple Of The Dog gecovert. Der 1991 erschienene Song wurde von Chris Cornell für die Supergroup bestehend aus Mitgliedern von Soundgarden und Pearl Jam geschrieben. Es gilt als der kommerziell erfolgreichste Song der Band.
Die Alternative-Größen hatten den Song zuletzt 2014 auf einem Benefizkonzert zusammen mit dem 2017 verstorbenen Cornell gecovert. Ohne Pearl-Jam-Frontmann Eddie Vedder spielten Temple Of The Dog den Song dann noch während ihrer ersten Tournee im Herbst 2016 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des einzigen Albums, wobei das Publikum Vedders Parts sang.
Es war nicht das erste Mal, dass Pearl Jam auf ihrer aktuellen Tournee Songs neu interpretieren. Am selben Abend spielte die Band noch Bruce Springsteens „No Surrender“ zum ersten Mal seit 2006. Letzten Monat haben sie etwa mit Vedders Tochter Harper Taylor Swifts „The Best Day“ gecovert und im Juni spielten sie “Hurt” von Nine Inch Nails in einer Akustikversion. An anderer Stelle spielten Pearl Jam zum ersten Mal überhaupt ihren Deep Cut „The Whale Song“ (1990).
Die Show in Sydney war das letzte Konzert ihrer Welttournee zum aktuellen Album “Dark Matter”. Dabei sollten sie ursprünglich auch in Berlin zwei Konzerte spielen, die Pearl Jam aber aus Krankheitsgründen abgesagt haben. Vedder ging bei einem späteren Konzert nochmal konkret auf die Schwere der Krankheit ein und sprach sogar von einer „Nahtoderfahrung“.
Sagen euch Megavier noch was?
Lupus Lindemann (LL): Das Album hatte ich sogar mal auf Kassette.
Als Die Fantastischen Vier euch für ihr neues Album angefragt haben, hattet ihr da die Befürchtung, dass sie etwas ähnliches wie Megavier im Sinn haben könnten?
Tiger Bartelt (TB): Der Name ist gefallen. Im ersten Moment haben wir aber erstmal gar nichts befürchtet. Vielmehr dachten wir: “Geil, jetzt können wir mal HipHop machen.” Aber ihnen ging es darum, Rock auf der Platte zu haben. Wir mussten uns also erstmal langsam annähern.
Wie kam es überhaupt zur Zusammenarbeit?
LL: Der Kontakt kam über einen Fotografen zustande, der die Fantas schon oft fotografiert und für uns mal Livefotos gemacht hat. Ich weiß noch, dass ich auf dem Fahrrad saß, als eine Mail von Thomas D reinkam. Ich dachte, das ist Spam oder Werbung für Bosch. Erst abends habe ich wieder an die Mail gedacht und sie doch angeschaut. Siehe da, es war wirklich Thomas D. Ein paar Tage später haben wir dann mit ihm telefoniert.
Was habt ihr bis dahin mit den Fantastischen Vier verbunden?
TB: Ich habe schon immer mitbekommen, was sie gemacht haben, und meine Frau war früher ein Riesenfan. In Deutschland sind die Fantas einfach so bekannt, dass man das alles irgendwie kennt, aber ich selbst hatte nie eine CD von ihnen.
LL: Ich habe sie 1997 bei meinem ersten Konzert gesehen. Das war ein Metallica-Konzert, und die Fantastischen Vier waren eine ihrer Vorbands. Das war so ein Festival auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart, und sie haben als einzige HipHop-Band zwischen all den Marilyn Mansons und Metallicas gespielt. Das war so mit elf Jahren mein Erstkontakt und auch das einzige Mal, dass ich sie live gesehen habe. Neben der Megavier-Kassette war das meine einzige Verbindung zu ihnen.
Wie ging es dann nach dem Telefonat mit Thomas D weiter?
LL: Unsere erste Idee war, dass die Fantastischen Vier mal wieder ein richtiges Oldschool-HipHop-Album machen könnten. Ich hab angefangen mir die ganzen Klassiker reinzuziehen und hab Dokus gebinged. Tiger hat sich eine Drum Machine gekauft und dann sind wir einmal down the rabbit hole und haben einen Haufen Ideen skizziert…
Ihr habt also angefangen, Beats zu bauen?
LL: Wir haben auch Sachen mit Gitarre und Schlagzeug gemacht, von denen wir dachten, dass man dazu rappen kann. Aber wir haben uns auch an Beats gewagt. Irgendwann haben wir uns dann bei uns im Studio getroffen und sind die Ideen durchgegangen. Dann haben wir gemerkt, dass wir vielleicht etwas über die Stränge geschlagen haben.
TB: Uns war am Anfang gar nicht so klar, dass die Fantas auch gerne ein bisschen von unserem Kadavar-Sound haben wollten. Also mussten wir nach Wegen suchen, unsere Lust auf was Neues mit etwas Vertrautem zu vereinen. Die nächste Idee war dann: “Was wäre wenn die Gorillaz und The Black Keys ein Baby machen würden?”
Ihr habt also nicht Backing-Tracks an die Fantas geschickt, mit dem sie dann weitergearbeitet haben?
TB: In unserer ersten Studiosession hatten wir schon die drei Songs skizziert, die jetzt auch auf dem Album gelandet sind. Die haben wir uns dann näher angeschaut, um den richtigen Vibe zu finden. Thomas, Michi und Smudo hatten schon ein paar Textideen dabei und nach zwei Tagen hatten wir dann tatsächlich drei Skizzen, die wir dann nach und nach ausproduziert haben. Es war super spannend, sich aus der Komfortzone herauszuwagen, immer zwischen Hip Hop- und Rock-Denke zu navigieren, und zu gucken, was dabei am besten funktioniert. Wir haben definitiv dazugelernt!
LL: Aber unseren Kosmos haben wir schon verlassen und uns auf etwas eingelassen, wo wir die Fantastischen Vier sehen, und dass ihre Fans vielleicht cool finden.
»Unsere erste Idee war, dass die Fantastischen Vier mal wieder ein richtiges Oldschool-HipHop-Album machen könnten.«
Lupus Lindemann
Es ist also eine andere Aufgabe, einen Songs zu schreiben, zu dem gerappt werden soll, als ein Stück mit Gesang zu schreiben?
LL: Bei HipHop ist die Musik eigentlich nur Begleitung und unterstützt eine Atmosphäre, die den Text einhüllt. Die Musik soll verstärken, was der Text an Gefühlen ausdrückt. Bei uns selbst kann ich mich höchstens an eine Handvoll Interviews erinnern, in denen es mal um die Texte ging. Die Riffs und Solos waren wichtiger, es ging bei uns nie darum, was wir hier oder dort gesagt haben. Und dann hat man es auf einmal mit einer Band zu tun, bei der es nur um die Texte geht. Das erfordert, dass man sich selbst als Musiker stärker zurücknimmt.
TB: Stimmt! Als es die ersten Texte gab, ist es dann interessant geworden. Die Texte haben uns die Möglichkeit gegeben, uns richtig einzufühlen und mit Hilfe der Texte und der Musik auf die Reise zu gehen. Das war der Punkt, ab dem wir wussten, was zu tun ist.
Laut Michi Beck von den Fantastischen Vier gab es sogar die Idee, ein ganzes Album gemeinsam aufzunehmen.
TB: Als wir fast fertig waren, haben wir uns wirklich gefreut über die Songs und wie alles zusammengekommen ist. Ich weiß, dass ich dann auch mit Thomas noch am Telefon drüber gescherzt habe. Das war dann aber kurz vor der Album-Deadline!
Was nehmt ihr für euch selbst und eure Musik an Erfahrungen aus dieser Zusammenarbeit mit?
TB: Eine Menge! Das war schon irgendwie ein großes und wichtiges Projekt, was sich über die Zeit entwickelt hat. Dran bleiben war manchmal gar nicht so leicht, es gab zwischenzeitlich Momente, wo die Inspiration auf sich warten ließ. Das ist aber normal und man darf eben nie aufgeben. Wir haben mitgenommen, dass wir zu zweit – wir sind ja die Hauptsongschreiber bei Kadavar – Bock und den kreativen Raum haben, um für andere etwas zu machen. Das war unser erster Versuch, ein Sprung ins kalte Wasser, aber der Bock, so etwas auch in Zukunft zu machen, bleibt.
LL: Es ist ja auch interessant, wenn man aus so einer Szene kommt wie wir. Wir haben mit Sieben-Minuten-Songs angefangen und noch ein Riff und noch zehn Wiederholungen gespielt. Hauptsache man kann den Kopf schütteln, mitgrölen und ein Bier dazu trinken. Durch diese Zusammenarbeit haben wir gelernt, wie man in knapp drei Minuten auf den Punkt kommen, kompakter und durchdachter schreiben kann und trotzdem zugänglich für die Leute bleibt. Wenn man dieses System einmal durchblickt hat, dann lässt es sich theoretisch auch auf andere Musikarten anwenden. Durch die Zusammenarbeit mit den Fantastischen Vier haben wir gesehen, dass wir auch Populärmusik schreiben können und eine große Masse an Leuten ansprechen können.
Welchem der drei Songs habt ihr am stärksten euren eigenen Stempel aufgedrückt?
LL: “Inferno”, den Thomas D alleine rappt, kommt für uns schon dem am nächsten, wie wir Musik machen.
TB: Ich finde jetzt rückblickend irgendwie haben doch alle Songs unseren Stempel. Es ist vielleicht nicht der Stempel Kadavar, sondern der Stempel Lupus und Tiger.
In einem der Songs singst du den Refrain auf Deutsch. Ist das etwas, das für Kadavar ein Weg sein könnte?
LL: Als wir die ersten Tests mit den Fantastischen Vier gemacht haben, habe ich wieder gemerkt: Ich kann nicht auf Deutsch singen. Das klingt blöd, ich finde, man muss das wirklich lernen. Wenn man zu deutlich singt, klingt es einfach falsch. Im Englischen ist das leichter. Aber mit den Erfahrungen, die ich jetzt habe, denke ich, dass das für Kadavar interessant sein könnte. Deutsche Texte finde ich bei anderen Bands schließlich auch cool.
Eure bislang letztes Kadavar-Album ist inzwischen vier Jahre alt. Mit welchen Gefühlen blickt ihr auf “The Isolation Tapes” zurück?
CB: Die Platte war ein Wendepunkt in unserer Karriere. Bis dahin sind wir unermüdlich getourt und haben so viel gemacht, dass der erste Lockdown für uns eine riesige Befreiung war. Das hat sich darin niedergeschlagen, musikalisch mal was ganz anderes machen zu können. Wir müssen gar nicht immer tiefer in den Retrorock einstiegen; es ist auch alles gesagt, was das angeht. Wir machen jetzt einfach was anderes. Das hat großen Eindruck bei uns hinterlassen. Dann kam noch Jascha (Kreft) in die Band, was uns aufgemischt und etwas Frisches reingebracht hat. Mit vier Jahren Abstand würde ich sagen, es war gut, dass wir uns getraut haben, das Album zu machen und rauszubringen. Entgegen unseren Erwartungen haben viele Leute die Platte auch gutgefunden.
LL: Hätten wir viel nachgedacht, hätten wir “The Isolation Tapes” vermutlich nicht rausgebracht, weil es so anders war. Ich kann mich noch erinnern, dass ich an dem Tag, an dem die Platte rauskam, Tiger angerufen habe und zu ihm sagte: “Das war ein Fehler, Alter. Was haben wir gemacht? Das wird uns unsere Karriere kosten.” Ich bin dann den ganzen Tag Fahrrad gefahren, weil ich keine verärgerten Kommentare oder Reviews zur Platte lesen wollte. Aber am Ende waren die Reaktionen so, dass sie uns Mut gemacht haben, anderes auszuprobieren und nicht immer in derselben Suppe zu schwimmen. Thomas D hatte “The Isolation Tapes” gehört, bevor er uns kontaktierte – das zeigt, dass wir mit der Platte andere Leute erreicht haben als zuvor.
Wie sieht es mit einem neuen Album aus?
LL: Was soll ich sagen: Ist fertig. Das wird wohl im kommenden Frühjahr erscheinen.
Könnt ihr schon sagen, was man musikalisch erwarten darf?
LL: Wir haben versucht, den Schwung von “The Isolation Tapes” mitzunehmen und uns auch anderes zu trauen. Aber klar, am Ende ist es immer noch Rockmusik. Aber mit unseren Retro-Einflüssen haben wir abgeschlossen.
1978. Im inneren Zirkel von Kiss brodelt es. Die Band befindet sich auf einem absoluten Karrierehöhepunkt. Drei Jahre zuvor hatte “Alive!” die Kassen klingeln lassen, “Rock And Roll All Nite” zum ersten Mal die Top-40 der Singlecharts geknackt. Schlag auf Schlag war es weitergegangen, mit “Rock And Roll Over” (1976) und “Love Gun” (1977) hatte es zwei Studioalben binnen eines halben Jahres gegeben, kurz darauf bereits “Alive II”. Doch im Bandgefüge zeigen sich Risse. Gene Simmons und Paul Stanley besetzen die Chefetage, Ace Frehley feiert Tag und Nacht, und Peter Criss, der mit “Beth” den bis dato größten Hit der Band verantwortet hat, ist kurz davor, die Segel zu streichen. Kiss drohen, in ihre Einzelteile zu zerfallen. Manager Bill Aucoin und Neil Bogart, Chef des Labels Casablanca, haben eine vermeintlich glorreiche Idee: Alle vier Bandmitglieder sollten Soloalben veröffentlichen. So könnte jeder für sich Herr im Hause sein, kreativ arbeiten, ohne die anderen Nervensägen ständig um sich zu haben. Die Meinungen in der Band gehen auseinander, nur Peter Criss ist begeistert. Das Projekt wird durchgezogen. Konsistentes Artwork, die Porträts der Solisten auf dem Cover, am 18. September 1978 passiert es. Kiss veröffentlichen vier Alben auf einmal – vier Soloalben. War das wirklich eine gute Idee?
Bei Genesis gehen die Uhren zur selben Zeit etwas anders. Auch sie haben erfolgreiche Jahre hinter sich. Mit ihrem Album “…And Then There Were Three…”, erschienen im März 1978, haben sie zwar einige Prog-Fans verprellt, dafür weite Teile des Mainstreampublikums erobert. Ende des Jahres findet ihre große Welttournee den Abschluss, Genesis müssen erstmal durchatmen. Derweil versucht Phil Collins verzweifelt, seine Ehe zu retten. Zur Entspannung schreibt er Songs, “In The Air Tonight” heißt einer davon. Er spielt ihn wohl seinen Genesis-Kollegen Tony Banks und Mike Rutherford vor, aber irgendwie scheint es nicht zu passen. So wird das Stück mit dem ikonischen Drumbreak zum Startpunkt für Collins’ erstes Soloalbum überhaupt, “Face Value” (1981), dem Beginn einer der größten Solokarrieren der folgenden Jahrzehnte.
Zweimal Soloalbum, zweimal völlig unterschiedliche Geschichten und Hintergründe, zudem auch zwei grundverschiedene Resultate, doch dazu später noch einmal. 2024 ist die Ausgangslage eine gänzlich andere. In Zeiten von Social Media und TikTok, Garage Band, Ableton und Soundtrap, problematischer Proberaumsituation und immensen Tourkosten, ist Individualität angesagt. Mach’ dein Ding, nicht nur im Baumarkt, auch im eigenen Jugendzimmer. Keiner muss an den Proberaumschlüssel denken, die Bierdosenpyramide entsorgen, den Verstärker runterdrehen, weil es wieder irgendjemandem zu laut ist. Solo ist das neue Ensemble. Welthits lassen sich mit dem Notebook auf dem Schoß erarbeiten. Billie Eilish und ihr produzierender Bruder Finneas können ein Lied davon singen. Auf den Festivalpostern der Big Player, von Roskilde bis Coachella: eine Armada an Einzelkämpfern.
“Are bands dead?”, fragt der englische Journalist James Tapper in einem Guardian-Artikel Anfang 2023 und lässt die Frage bewusst offen. Weil ein Teil der Antworten die Bands in der Bevölkerung verunsichern würde? Als in den 60ern die Beatles, Kinks und Rolling Stones die Epoche der Einzelkämpfer vorerst ablösen, ist es die Gruppendynamik als solche, die zum goldenen Ticket wird. Individualisten, aber eben doch eine Gang – der lustige Beatle, der nette, der schlaue und der stille, irgendwie Solisten, aber doch auch wieder nicht. Tatsächlich geht Paul McCartney bereits zu Zeiten der “Fab Four” allein auf Exkursion, als er 1967 den Soundtrack zum Film “The Family Way” schreibt. George Harrison macht sich 1968 mit “Wonderwall Music” selbständig, auch Ringo Starr kann es kaum abwarten. Am 10. April 1970 erfolgt die offizielle Trennung der Beatles, der Schlagzeuger veröffentlicht sein Solodebüt “Sentimental Journey” bereits zwei Wochen vorher. Und noch im selben Jahr legt John Lennon mit “John Lennon/Plastic Ono Band” sein Solodebüt vor, nachdem er und Yoko Ono 1968 und 1969 drei experimentelle Alben veröffentlicht hatten. Sind die Beatles also an allem schuld? Sie, die der Welt gezeigt haben, wie fantastisch es sich in einer Band leben lässt, am Ende jedoch zum Schluss kamen, dass sie lieber allein als gemeinsam einsam sein wollten?
Aus Spaß wird Ernst
Bei den Melvins beginnen die Einzelexkursionen als Witz, der jedoch macht sich bald selbstständig, womit wir wieder bei Kiss wären. Buzz Osborne, Dale Crover und Joe Preston sind ausgewiesene Fans von Paul Stanley, Gene Simmons & Co., und Anfang der 90er kommen sie auf die Idee, es ihnen gleichzutun. “Das war ein Jux”, so Osborne. “Aber irgendwann ist er aus dem Ruder gelaufen.” Im August 1992 erscheinen also drei Melvins-, nein, drei Solo-EPs, im Look und nach der Art der Kiss-Albumoriginale 20 Jahre zuvor. Für Bassist Preston, dessen Artwork jenes von Ace Frehley adaptiert, ist es der Anfang vom Ende. Preston habe das alles auf die leichte Schulter genommen, so Osborne 2005 in einem Interview mit der CMJ New Music Weekly. So wird aus Spaß am Ende Ernst, aus dem Ruder gelaufen eben. Schlagzeuger Crover hat sich gerade in den vergangenen zehn Jahren als ambitionierter Nebenbeisolist erweisen, mit “Glossolalia” ist kürzlich sein drittes Soloalbum erscheinen. Eine abwechslungsreiche Platte, keine Covergimmicks oder Insiderwitze, die sich verselbständigt haben, sondern ein reifes Werk. Und auch Osborne hat mittlerweile mit “This Machine Kills Artists” (2014) ein vollwertiges Soloalbum veröffentlicht.
Eine Ernsthaftigkeit ist da im Spiel, die früh etwa auch Mark Lanegan antreibt. Mit “The Winding Sheet” veröffentlicht er bereits 1990 sein Solodebüt, als seine Band Screaming Trees gerade dabei ist, Fahrt aufzunehmen. Zwölf Soloalben werden es am Ende, ein prächtiges Portfolio, darin Klassiker wie “Whiskey For The Holy Ghost” (1994), “Bubblegum” (2004) und das finale “Straight Songs Of Sorrow” (2020). Lanegans Einstieg in die solistische Parallelwelt geschieht aus einer gewissen Frustration heraus. Bei den Texten gibt es regelmäßig Diskussionen innerhalb der Band. “Das war ein langwieriger, frustrierender Prozess, der nie Spaß machte, also wurde ‘The Winding Sheet’ mein erster Versuch, es allein zu schaffen”, so Lanegan in seinem Buch “I Am The Wolf: Lyrics And Writings” (2017). Ein per se klassischer Move der kreativ (An)getriebenen: Was im Kontext der Band nicht funktioniert, muss woanders ein Ventil finden. So wird Lanegan im Laufe der Jahre mehr als Solist bekannt, der häufig bei Bands gastiert und mit Bands kooperiert, denn als Bandmitglied mit Parallelkarriere.
Als Julian Casablancas Ende der 2000er Jahre feststellt, dass die Songs, die er schreibt, zunehmend auf Synthies basieren und irgendwie so gar nicht zu den Strokes passen, macht auch er ernst. “In der Band fällt es mir schwer, Songs einzubringen”, so Casablancas im NME-Interview. “Wenn es dann noch irgendwelche verrückten Ideen sind, umso mehr. Dann heißt es gern mal: So läuft es hier nicht.” Der Sänger schwimmt sich auf seinem Soloalbum “Phrazes For The Young” (2009) frei, es bleibt bis dato jedoch das einzige unter seinem Namen. Von 2014 an betreibt er mit den Voidz eine zweite Bandfiliale, die im Kern aus den Musikern seines Soloalbums besteht.
Paul Smith stößt im Proberaum von Maximo Park an ähnliche Grenzen. Er mag im Gegensatz zu seinen Bandkumpels Hall auf dem Gesang und lange Mittelparts. Auch Smith verlegt sich auf einen Zweitjob, vier Sololalben erscheinen zwischen 2010 und 2018. Er ist nicht der einzige “Abtrünnige” der “Class of ’05”, auch Bloc Partys Kele Okereke stellt sich auf eigene Füße, veröffentlicht 2010 mit “The Boxer” das erste von inzwischen sieben Soloalben, darunter mit “Leave To Remain” (2019) auch ein Filmsoundtrack. Tim Burgess von den Charlatans, The Killers-Frontmann Brandon Flowers, Interpols Paul Banks – allesamt haben sie Soloalben im Portfolio, mal mehr, oft weniger abseitig als das Klangbild ihrer angestammten Band. Überhaupt – da sind natürlich auch jene Solokünstler, deren Alleingänge sich oftmals nur in Mikropartikeln von der Musik ihrer Band unterscheiden. Man mache den Vier-Ohren-Test zwischen Dinosaur Jr., wenn sie akustischer unterwegs sind, und J Mascis solo, da wird es zuweilen anspruchsvoll in der Auseinanderhaltung.
Soundfragen
Was Selbstverwirklichung und Sound angeht, ist Steven Wilson in gänzlich anderen Sphären unterwegs als Porcupine Tree. Wie bei den anderen Projekten mit seiner Beteiligung, No-Man und Blackfield, sieht man die vierköpfige Band, bei der zuletzt bis zu drei Mitglieder kreativen Input geben, zuweilen als Wilson plus Backing Band an. Unter dem Alias Bass Communion macht er ohnehin seit Mitte der 90er in Ambient. Als klassischer Solist, also mit seinem bürgerlichen Namen als Interpretsangabe, erweitert der Produzent, Multiinstrumentalist und Sänger seine Soundpalette auf bis dato sieben Alben und einer (Semi-)Covercompilation um Noise, Shoegaze, Industrial, Folk, New Wave, 80er-Pop, Electronica und klassischen 70er-Progrock. Klingt ein Song doch mal nach Porcupine Tree, entfernt oder offensichtlicher, reagiert Wilson auf Nachfragen zunehmend ungehalten. In einer Zeit, in der die Band auf Eis liegt, sieht er klangliche Ähnlichkeiten wohl als Misserfolg.
Same same, but different gilt hingegen für die Kategorie “Punksänger solo”, wobei das Instrumentarium zum Teil drastisch reduziert wird. Bestes Beispiel ist Chuck Ragan von Hot Water Music. Klingt der erste Vorbote von “Love & Lore” dem Sound seiner Stammband durchaus ähnlich, stellt er sich in den 2000er Jahren, allein zur akustischen Gitarre singend, mit einem Mix aus Folk und Bluegrass auf die Bühne, im Gepäck auch Songs von Johnny Cash. Ob nun Ragan oder Jaret Reddick und Erik Chandler von Bowling For Soup, No Use For A Names 2012 verstorbener Frontmann Tony Sly oder Brian Fallon von The Gaslight Anthem – in der Brust so einiger Protagonisten des Punk scheint ein Balladenherz zu schlagen, ein innerer Tumult, bei dem Cash, Billy Bragg und Woody Guthrie ums Plektrum rangeln. Und so geht auch die Trennschärfe zwischen den Einzelpersonen hinter dem Sound verloren.
Eine gänzlich andere Geschichte dagegen ist jene, die uns Fat Mike von NOFX als Cokie The Clown mit seinem Album “You’re Welcome” (2019) erzählt. Beim SXSW-Festival 2010 war er zum ersten Mal im Clownskostüm aufgetreten, ein Mix aus John Wayne Gacy und dem Joker, und hatte das Publikum mit seiner Performance nachhaltig verstört. Auf dem Cokie-Album nach der NOFX-EP um das Alter Ego (2009) nutzt er die Schminke, um schwere persönlichen Themen wie den Suizid eines Freundes, Sterbehilfe und Vergewaltigung zu verhandeln. “Als ich daran dachte, wieviele traurige Geschichten ich bisher erlebt habe und die Idee hatte, daraus Songs zu machen, war klar, dass das nichts mit NOFX zu tun haben würde”, so Fat Mike im VISIONS-Interview zur Platte. “Nichts davon klingt danach. Jeder Song ist anders.”
Goldenes Handwerk
Sind es zum Großteil Sänger und Gitarristen, von denen hier die Rede ist, gibt es natürlich auch die Schlagzeuger als Alleingänger, eine Art Sonderfall im großen Almanach der Soloausflügler. Klar, Phil Collins bleibt das Vorzeigebeispiel schlechthin, auch Ringo Starr haben wir bereits erwähnt, Queens Roger Taylor und Pink Floyds Nick Mason versuchten sich daran, mit teils fürchterlichen Ergebnissen, aber sonst? Tatsächlich tummeln sich neben Dale Crover auch im VISIONS-Kosmos so einige. Nick Hodgson etwa, der zum Zeitpunkt seines Albums “Tell Your Friends” (2018) bei den Kaiser Chiefs jedoch bereits die Segel gestrichen hatte.
Taylor Hawkins muss man erwähnen, der 2016 mit “Kota” eine EP veröffentlicht, auf der er fast alle Instrumente selbst eingespielt hat. Wobei wir schon beim Schlagzeugsolisten schlechthin wären, Dave Grohl, der vor 30 Jahren bereits das Debüt der Foo Fighters allein aufnimmt. Ein Kunststück, das ihm so ähnlich, jedoch um einiges spektakulärer, 2018 ein weiteres Mal gelingt, als er das 23-minütige Instrumentalstück “Play” im Alleingang durchzieht und dabei alle Instrumente bedient. Warum diese egozentrische Leistungsschau, diese eigenwillige Soloalbum-Miniatur? Im zugehörigen Entstehungsvideo klärt er damals auf: Das Projekt sei eine Möglichkeit für ihn, seine Grenzen auszutesten. Möglicherweise wird er zu derartigen Selbstversuchen in den nächsten Monaten wieder mehr Zeit haben. Es heißt, die Foo Fighters würden sich im Zuge der Seitensprung-samt-Baby-Beichte ihres Masterminds eine Auszeit nehmen.
Und was wurde aus Peter Criss und seinem Soloalbum, im September 1978? Der war das Projekt angegangen wie so viele andere der hier erwähnten Künstler – sich endlich mal austoben, in stilistische Galaxien vordringen, die nie zuvor ein Kiss-Fan gesehen hat. Im Fall von Criss sind das R&B und Disco, was bei der Kiss-Army gar nicht gut ankommt, es entwickelt sich zum erfolglosesten der vier Alben. Auf “Dynasty”, dem nächsten Kiss-Album, wird er von Session-Drummer Anton Fig ersetzt. Die Tour zur Platte trommelt er noch, auf “Unmasked” ist er ebenfalls nicht mehr zu hören, kurz danach erfolgt sein Ausstieg. Die Drogen? Oder doch das Soloalbum? “Die Platte war der letzte Sargnagel”, so Criss in seiner Autobiografie “Makeup To Breakup”, ein Satz, der Jahrzehnte später auch von Ex-Melvin Joe Preston hätte stammen können.
1992 verließ John Frusciante die Chili Peppers, 1994 veröffentlichte er sein erstes Soloalbum. Bis heute ist unklar, was er in den Jahren dazwischen getan hat. Die Platte aufgenommen jedenfalls nicht: Die songorientierte erste Hälfte war parallel zur Peppers-LP “Blood Sugar Sex Magik” entstanden, die instrumentale zweite stellte Frusciante auf der anschließenden Tour fertig, auf deren Gipfel er ausstieg. Vermutlich nutzte er die Zeit bis zum Erscheinen seines Debüts, um einen der größten Rockstar-Abstürze der 90er vorzubereiten. Als “Niandra LaDes” endlich rauskam und Frusciante einem TV-Team die Tür öffnete, hatte sich der einstige Athlet in einen wirren Junkie verwandelt, dem vor laufender Kamera die Zähne aus dem Mund fielen. Doch bei aller Tragik steckt unbegreifliche Magie in diesem Album. Eine erhabene Schönheit, der keine verstimmte Gitarre, keine irrsinnige Textzeile, kein noch so windschiefes Bad-Brains-Cover etwas anhaben kann. Zum Glück ging es auch ohne Drogen: Als cleaner Peppers-Rückkehrer nahm er später weitere tolle Soloplatten auf. Dennis Plauk
Mit seinem ersten Solalbum war Thurston Moore noch meilenweit vom folkigen Indierock entfernt, den er uns kürzlich auf “Demolished Thoughts” präsentierte. Zwischen den beiden Sonic-Youth-Alben “Experimental Jet Set, Trash And No Star” und “Washing Machine” platziert, entfernte sich “Psychic Hearts” nicht weit von Moores Band. Die schrägen E-Gitarren, der laszive Gesang und Steve Shelleys Schlagzeug-Einsätze machten das Solodebüt des Indie-Meisters unverkennbar zu einem Album aus dem Sonic-Youth-Umfeld – das obendrein mit Songs wie “Patti Smith Math Scratch” weiblichen Rockmusikerinnen Tribut zollte. Abschluss und Herzstück des Albums ist das knapp 20-minütige Instrumental “Elegy For All The Dead Rock*s”, das sich frei nach Moores Schnauze entfaltet. In seiner sehr demokratischen Band hätten die ebenso guten Mitmusiker Kim Gordon oder Lee Ranaldo den Song vielleicht in eine andere Richtung steuern wollen – auf “Psychic Hearts” genoss Moore zum ersten Mal seine Freiheit, die zu einem vertrackt-fidelen Album führte. Matthias Möde
Damit war wirklich nicht zu rechnen. Mit seiner wegweisenden Emoband Sunny Day Real Estate hatte Jeremy Enigk gerade erst das zweite Album aufgenommen, da machte er sich bereits an die Arbeit für sein erstes Soloalbum. Er hatte eine Vision: sich querzustellen, bloß nicht den Erwartungen zu entsprechen, etwas ganz anderes zu erschaffen. Also arbeitete er wie ein Besessener, spielte Gitarre, Bass, Piano, Schlagzeug und einiges mehr. Er schrieb die Orchester-Arrangements und tat, was er eh am besten kann: singen. Gebrochen, verzweifelt, rau, inbrünstig und doch warm, wunderschön und wahrhaftig. Am Ende hatte er neun Stücke zusammen – eine halbe Stunde Musik, die sich ebenso nah an Nick Drakes “Bryter Layter” ranpirscht wie an Nirvanas “Unplugged In New York”. “Return Of The Frog Queen” ist ein Album wie eine gotische Kathedrale, in der Tim Burton die Weihnachtsgeschichte inszeniert. Es scheint Enigk viel Kraft abverlangt zu haben: Sein nächstes Soloalbum erschien erst zehn Jahre später. Jan Schwarzkamp
Schwer zu sagen, was das erste Soloalbum von Dave Grohl war. Das “Pocketwatch”-Tape, das er 1992 als Nirvana-Drummer unter Late! veröffentlichte? Das erste Foo-Fighters-Album fünf Jahre später, das er komplett selbst aufgenommen hat? Oder doch erst die Filmmusik zu Paul Schraders schwarzhumorigem Drama “Touch” 1997? Fest steht: Der Soundtrack war und ist die erste und einzige Platte, die Grohl unter seinem eigenen Namen herausgebracht hat. Heute wird das Album meistens übersehen, wenn man über die vielen Haupt- und Nebenprojekte von Grohl spricht. Dabei zeigt der überwiegend instrumentale Score eine ungeahnte und spannende Seite an ihm: Hier geht es Grohl einmal nicht um den perfekten Popsong im Hardrock-Outfit, sondern um untermalende, also rein zweckdienliche Musik zwischen Post- und Surfrock. Mit “How Do You Do” gibt es aber auch einen heimlichen Foo-Fighters-Song. Und wirklich unschlagbar wird “Touch” am Schluss, wenn Grohl und Veruca Salt-Sängerin Louise Post ein Duett geben. Dennis Plauk
Die zweite Hälfte der 90er Jahre zeigte die kalifornischen Punkrocker Bad Religion auf dem kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere. Der Preis: Nach dem Majordebüt “Stranger Than Fiction” verließ Gitarrist, Mitgründer und Graffin-Counterpart Brett Gurewitz die Band. Es folgten die drei schwächsten Alben der Bandgeschichte. Im Rückblick rettet Greg Graffins Soloalbum seinen musikalischen Tiefflug dieser Bandphase. “American Lesion” verblüffte mit seinen Songwriting-Qualitäten selbst hartgesottenste Bad-Religion-Fans. Mit Akustikgitarre und Klavier verarbeitet Graffin in den persönlichen Texten die Trennung von seiner Frau. Sensibel, aber ohne jede Rührseligkeit. Im Gegensatz zum etwas überambitioniert wirkenden Solo-Nachfolger “Cold As The Clay” (2006) ist “American Lesion” eine häufig übersehene Platte – zu Unrecht. Erst recht wenn man bedenkt, dass Graffin ein volles Jahrzehnt vor der Konkurrenz damit anfing, als Punkrocker in Singer/Songwriter-Musik zu machen. Jetzt muss das Album nur noch neu aufgelegt werden. Jens Mayer
James Iha war in der Band von Billy Corgan, also war er gar nichts. Iha war aber auch der Publikumsliebling der Smashing-Pumpkins-Fans, „the quiet one“, den man nicht nur bestaunen, sondern sogar sympathisch finden konnte, weil er keinen Scheiß erzählt hat. Ein Soloalbum von ihm hat also Sinn ergeben 1998, zumal es weit genug weg war vom Sound seiner damaligen Hauptband, um erstens Corgan nicht zu beunruhigen und zweitens Leute anzusprechen, die die Pumpkins bereits für eine wandelnde Leiche hielten. “Let It Come Down” ist während der Arbeit an “Mellon Collie And The Infinite Sadness” entstanden und enthält als 70s-Softrock-Platte sozusagen die einzige Rock-Richtung, an der sich die Smashing Pumpkins zu dieser Zeit nicht versucht haben. Iha rundete das Ganze mit sanften Songs und Gesang und der “Pet Sounds”-Schrift auf dem Cover ab; wie weit seine Lieder reichten und wie lange sie einen beschäftigen würden, konnte aber erst die Zeit zeigen. “Let It Come Down” ist mittlerweile 13 Jahre alt, und man braucht immer noch keinen Nachfolger. Daniel Gerhardt
Nach drei Alben mit Heroin-Opfer Scott Weiland hatten die Stone Temple Pilots von ihrem Sänger die Schnauze voll und machten ohne ihn als Talkshow weiter. Um nicht völlig zu versumpfen, schrieb Weiland ein Soloalbum, weit abseits vom Grunge seiner Band. Unter die Arme griffen ihm der kanadische Ausnahmeproduzent Daniel Lanois und Session-Drummer Victor Indrizzo (Masters Of Reality). Mit den Pilots hatten die zwölf Songs höchstens die Stimme gemein. Der Rest war ein übereinander geschichtetes Sound-Patchwork, bei dem kein Stück wie das nächste klang. Weiland tobte sich aus wie ein Besessener. Er machte einen auf Waits-Walzer in “Lady, Your Roof Brings Me Down”, ließ in “Barbarella” seiner Liebe für Bowie freien Lauf und bastelte an dem Stil herum, der Ende der 90er der heißeste Shit war: TripHop. “12 Bar Blues” wurde zum kuriosen Freispiel für Weiland, der ein Jahr später schon wieder mit den Pilots vereint war. Erst 2008 setzte er seine Solokarriere mit dem (über)ambitionierten Doppelalbum “Happy In Galoshes” fort. Jan Schwarzkamp
Nach dem Riesenerfolg des Fugees-Albums “The Score” und der Tour um die Welt zog sich die schwangere Rapperin und Sängerin Lauryn Hill zurück, um ihre Kreativität in eigene Songs zu stecken. Und auch Fugees-Mastermind Wyclef Jean bastelte an einem Soloalbum. Die Zukunft der Band stand also unter keinem guten Stern – das Solodebüt von Hill sollte dafür umso mehr aufleuchten. Auf “The Miseducation Of Lauryn Hill” punktete die damals 23-Jährige sowohl mit ihrer klaren Soul-Stimme als auch mit rauen Raps – ein Mix, der bis dato kaum jemandem gelungen war. Hill brachte HipHop, R’n’B und den Soul der 60s unter einen Hut und zauberte daraus ihre ganz eigenen, stimmigen Tracks. Der größte Hit der Platte, “Doo Wop (That Thing)”, klang nach dem klassischen Rap, den auch die Fugees – dort mit stärkerem karibischem Einschlag – zelebrierten. Für die von Liebe geschwängerten Songs erhielt Hill unter anderem Unterstützung von DJ Supreme und Carlos Santana an der Gitarre. Trotzdem stand immer außer Frage, dass sie der wahre Star der Platte ist. Matthias Möde
Seine Liebe zum klassischen Rock- und Country-Songwriting hat Mike Ness nie verheimlicht, man denke an frühe Social-Distortion-Coversongs wie Johnny Cashs “Ring Of Fire” oder “Backstreet Girl” und “Under My Thumb” von den Rolling Stones. Trotzdem müssen wir an dieser Stelle noch mal festhalten, dass ein Album wie “Cheating At Solitaire” für eine tätowierte Punkrock-Legende wie Ness 1999 ein nicht zu unterschätzendes Risiko darstellte und als Statement seiner Zeit weit voraus war (siehe “American Lesion”). Mal mit Slide-Gitarre, mal mit Saxofon, immer unverzerrt und laid-back präsentieren sich die 15 Songs des bis heute einzigen originären Ness-Soloalbums. Diese Musik schlüsselt Ness’ Einflüsse von Rock über Blues bis Folk Stück für Stück auf. Gastauftritte von Brian Setzer, Royal Crown Revue und Bruce Springsteen waren da nur konsequent – was sich vor allem die Leute merken sollten, die Social Distortion vorwerfen, sie würden auf ihrem neuen Album dem “Boss” nacheifern, weil es der Trend gerade so will. Jens Mayer
Als Life Of Agony sich 1999 erstmals trennten, hatte sich ihr misanthropischer Groove-Metal bereits größtenteils in seine Bestandteile aufgelöst. Die Band machte sich auf ihrem dritten Album “Soul Searching Sun” Luft und ließ Pop und Akustikgitarren zu. Sänger Keith Caputo, das extraordinäre Sorgenkind im Gefüge, trat die Flucht nach vorne an und verabschiedete sich erstmal nach Amsterdam. Zum Kiffen, Meditieren und Songschreiben. “Died Laughing” war das Resultat. Ein Album, das bis auf Caputos unverwechselbare Stimme nichts mit Life Of Agony gemein hatte. Statt in Geschichten über Missbrauch und Drogentrips schwelgte er lieber in farbenfroher Poesie und unverstellten Einsichten. Das war mal poppig, mal grungy, mal akustisch arrangiert. Und mit “New York City” warf es sogar einen Song ab, der zum Hit avancierte. Von “Died Laughing” existiert noch eine “Pure”-Version mit akustischen Versionen und Annie-Lennox-Cover. Doch egal, was Caputo danach aufnahm: Es reicht nicht an sein erstes Freispiel ran. Jan Schwarzkamp
1999 hatte der Solokünstler Chris Cornell noch nicht die Kappe heiß. Die Auflösung von Soundgarden lag gerade zwei Jahre zurück, und Cornell wollte seine Grunge-Credibility noch etwas behalten. Also sparte er sich so brillante´Ideen wie James-Bond-Soundtracks, Michael-Jackson-Coversongs und Ballermann-Discohits mit Klitschko-Clips für schlechte Zeiten auf – und schlechte Zeiten sollten kommen. “Euphoria Morning” aber war der blendende Auftakt einer schließlich verkorksten Solokarriere. Cornell hatte als Co-Songwriter mit Natasha Shneider und Alain Johannes das Kreativduo der Alternative-Band Eleven ins Boot geholt, und auch von Soundgarden gab es Starthilfe: Das vielleicht beste Stück seines Debüts, “Flutter Girl”, war ein umgemodeltes Outtake der Soundgarden-LP “Superunknown” von 1994 und fügte sich nahtlos ein in den Akustik-Rock von “Euphoria Morning”. Mit “Can‘t Change Me” leistete sich Cornell sogar einen echten Hit. Am Ende der Platte gab es ihn dann noch mal auf Französisch. Man dachte damals, schlimmer kann es nicht werden. Dennis Plauk
Dave Navarros Solokarriere hatte kaum angefangen, da war er sie schon wieder leid. Die mentale Anstrengung, die ihn sein Debüt “Trust No One” gekostet hatte, brachte er mit dem schönen Wort „Mindfuck“ auf den Punkt und war froh, bald sein angestammtes Amt als Gitarrist von Jane’s Addiction neu ausüben zu können. “Trust No One” war zwischen Navarros Gastspiel bei den Red Hot Chili Peppers (“One Hot Minute”) und der Reunion von Jane’s Addiction entstanden. Drei Jahre lang doktorte er an der Platte rum, bis sie ihm endlich schwarzseherisch und miesgelaunt genug war, um sie auf die Leute loszulassen. Zu verhallten Hardrock-Gitarren und stoischem Industrial-Schlagzeug sang Navarro mit sanfter Stimme über die Dinge, die ihm das Leben zur Hölle machten: die Drogen, seine Scheidung, das Rockstar-Theater und der Mord an seiner Mutter durch den Stiefvater. Trust no one. Schlechtes Timing erwischte der Clip zur Single “Rexall”, in dem brennende Wolkenkratzer einstürzen: Nach dem 11. September wollte ihn keiner mehr sehen. Dennis Plauk
Vor A Camp hatte Nina Persson das Problem aller hübschen Frauen im profitorientierten Teil der Musikindustrie: Sie wurde nicht für voll genommen, wahrscheinlich weil sie das Romeo und Julia-Lied gesungen hatte, den großen Cardigans-Hit “Lovefool”, der zugegebenermaßen nicht ganz leicht für voll zu nehmen ist. Nach A Camp gab es dieses Problem nicht mehr: Persson ging auf Freischreib-Mission, überraschte mit einer gut durchorganisierten Folkpop-Platte plus knispeliger Elektronik (hat man so gemacht 2001), und die neuen schwarzen Haare waren bestimmt auch kein Zufall. Zwischen “Lovefool” und dem detailgetreuen Drogenlied “Such A Bad Comedown” liegen mehrere Sonnenfinsternissen, und auch “Frequent Flyer” kriegt den leicht beschädigten, betont unnaiven Pop hin, um den sich seitdem auch Perssons Band bemüht. Die konnte nach A Camp nun wirklich nicht mehr weitermachen wie davor – und ließ sich zwei Jahre später ganz pflichtbewusst zu ihrer besten Platte “Long Gone Before Daylight” anstacheln. Daniel Gerhardt
Normalerweise schrie, polemisierte und politisierte er sich in der Hardcore-Band Refused die brennende Lunge aus dem Leib. Bei The (International) Noise Conspiracy tat er das nicht weniger überzeugend – nur mit den Mitteln des Rock’n’Roll. Dazwischen sah sich Dennis Lyxzén veranlasst, über etwas so Profanes wie ein gebrochenes Herz zu schreiben. Das hatte T(I)NC-Organistin Sara Almgren zu verantworten, die sich mit diesem Typ von Division Of Laura Lee aus dem Staub gemacht hatte. Und wie die Geschichte nun mal beweist, lassen sich besonders gute Songs schreiben, wenn man sich hundselend fühlt. Also verarbeitete Lyxzén alias The Lost Patrol auf dem zweiten Soloalbum den Schmerz, den eine verlorengegangene Liebe hinterlässt. “No New Manifesto”, machte er direkt klar, stimmte den “Left And Leaving Blues” an und suchte nach “200 Reasons Why”. Bei all dem Folk, dem Soul und den Balladen halfen Lyxzén viele Freunde durchs Tal. Ein Van-Morrison-mäßiges Experiment von einem, der des Schreiens müde war. Vorübergehend. Jan Schwarzkamp
Dass Courtney Love mit dem (vorläufigen) Ende von Hole 2002 nicht totzukriegen sein würde, war klar. Dass ihr einziges offizielles Soloalbum einer der wichtigsten Grunge-Bands der 90er Jahre aber absolut würdig wurde, hätten nur die Gläubigsten vorhergesagt. Mit Unterstützung von Linda Perry bis Kim Deal nahm die leidenschaftlich verkannte Frontfrau ein Album auf, das gekonnt zwischen Grunge-Lust und Pop schlingerte. “Mono” machte als einer der besten Hole-Songs überhaupt den Anfang, mit hellwachem Rock, gehässigen Zeilen („Well they say that rock is dead/ And they‘re probably right/ 99 girls in the pit/ Did it have to come to this?“) und einem hollywoodreifen Riot-Grrrl-Video, das Prinzessinnen-Mädchen Kettensägenrache laufen ließ. “But Julian, I‘m A Little Bit Older Than You” war das
perfekte selbstironische Boytoy-Stück über den Strokes-Sänger und “Sunset Strip” die nötige rockige Strandballade. „Rock star, pop star, everybodydies.“ Courtney Love hatte es wieder einmal allen gezeigt. Britta Helm
Es geht ja immer um zwei Sachen: zu zeigen, dass man alleine noch viel mehr draufhat als die alte Band, aber auch, dass deren entscheidendes Viertel immer man selbst war. Nachdem Graham Coxon sich mit Damon Albarn zerstritten und Blur verlassen hatte, folgte seinen vier Nebenbei-Soloalben also das ultimative. “Bittersweet Bundle Of Misery” war der hüpfende Seitenhieb auf “Coffee & TV”, der eben auch ohne Albarn nonchalant britpoppen konnte. Mit seiner Nerdbrille, dem günstigen Haarschnitt und den Turnschuhen taugte Coxon sowieso immer schon mindestens so sehr zum Frontmann wie sein drängelnderer Ex-Kollege. Dass er zudem zu künstlerischem Weiterdenken imstande war, zeigten auf “Happiness In Magazines” filmmusikwürdige Songs wie das leise-dramatische “Are You Ready” und seine Stimme, die eh dazu gemacht ist, sie in ein Front-Mikrofon zu nuscheln. Fast noch bemerkenswerter: dass Coxon danach nicht knapp hinter der Blur-Abzweigung stehenblieb, sondern seinen 90er-Jahre-Indiepoprock souverän durchs nächste Jahrzehnt lotste. Britta Helm
Das konnte damals natürlich noch keiner wissen, dass so mal das Ende anfangen würde. 2005 war Dallas Green noch voll integrierter, wenn auch nicht Hauptbestandteil von Alexisonfire und sein Nebenprojekt City And Colour genau das: ein paar Songs im Internet, irgendwann eine erste Platte für besondere Fans. “Sometimes” warf sich nicht mit Frontmann-Verve in rauen Folk, sondern zupfte freundlich am akustischen Indiepop. Wenigstens das Cover erinnerte mit klassischer Tattoo-Schwalbe noch an die harten Zeiten der Hauptband; darunter wand sich Green durch traurige Gefühle, ohne im Selbstmitleid zu versumpfen. “Save Your Scissors” war die lächerlich unspektakuläre Single, ein bisschen schrammelige Akustikgitarre, ein wenig zu hoher Gesang und ein Text wie gerade aufgewacht. „So why does it always seem that every time I turn around, somebody falls in love with me?“ City And Colour machte es von Anfang an richtig, sich selbst nämlich so klein, dass andere es großmachen wollten. Daran, dass das geklappt hat, war mal dieses Album schuld. Britta Helm
Eine der beliebtesten Solorichtungen überhaupt: Folk und Blues. Nur dass die bei Jenny Lewis nicht so klang, wie besoffen in der Retrobar angeheuert, sondern wie von ganz oben geerbt. Mit “Rabbit Fur Coat” zeigte die Frontfrau der guten Indie-Lieblingsband Rilo Kiley, dass sie nicht nur Frontfrau von guten Indie-Lieblingsbands sein, sondern auch wahnsinnig tolle altmodische Songs schreiben konnte. Ihr zur Seite standen die Gospelzwillinge Watson sowie – für das hervorragede Traveling-Wilburys-Cover “Handle With Care” – Conor Oberst, Ben Gibbard und M. Ward. Alle anderen Stücke gehörten ihr, erzählten wilde Geschichten (nicht zuletzt die vom Kaninchenfellmantel) und große Träume, waren schwungvoll und eingängig und altklug und hundsgemein. Jenny Lewis war der ehemalige Kinderstar, der sich seitdem die Füße nicht mehr wusch. So süß ihre Musik auch war, so viele Faustkämpfe trug sie darin aus. Was Rilo Kiley noch unverbindlicher abgefedert hatten, bekam solo eine ganz neue Tiefe, die auch auf den nächsten eigenen Alben blieb. Britta Helm
“Das Lied hab ich ganz allein geschrieben” – die Schlusszeile des Ärzte-Songs “Goldenes Handwerk”, in dem sich Bela B genüsslich über die üblichen Schlagzeuger-Klischees lustig macht, kommt nicht von ungefähr. Klar, der Showman wurde schon immer als charmanter und skurriler Künstler wahrgenommen, dessen schrullige Songs jedes Ärzte-Album erst komplettieren. Aber wo Bandprimus und Hitlieferant Farin Urlaub bereits zwei erfolgreiche und sehr gelungene Soloalben veröffentlicht hatte und live Halle um Halle ausverkaufte, musste Bela B. mit “Bingo” beweisen, dass auch er auf Prime-Time-Ebene funktioniert – vor allem wohl sich selbst. Er hat es bewiesen. Bela B. überraschte Fans und Kritiker mit einer abwechslungsreichen Platte, die trotz aller Eigenwilligkeit nie den Faden verliert, nämlich die starken Songs. Dazu kommen Zeilen für die Ewigkeit („Mach die Gitarre runter, wir wollen deinen Sack nicht sehen“) und ein nicht weniger denkwürdiges Video mit Charlotte Roche zur Single “1.2.3.” Jens Mayer
Ein Soloalbum als Apokalypse, wie naheliegend das doch eigentlich war. Wo bei Metric irgendwann der Beat reingeglitzert hätte, ließ Emily Haines alleine die Spannung nicht los und schickte ihre Klavierzombies ziellos durch die Straßen. Ihre eigenwillige Stimme, sonst von der Hauptband entlastet, schleppte sich trotzig voran, drängte nirgendwo hin und stand trotzdem einsam im Straßenlampenlicht. Die Kanadierin kam gut mit sich alleine klar, auch Metric-Songs schrieb sie schon fern ihrer Band in anderen Ländern. So war “Knives Don‘t Have Your Back” kein Soloalbum, um irgendwem irgendwas zu beweisen. Dass Emily Haines mindestens so sehr Künstlerin wie Musikerin war, war schon vorher klar. Und dass sie am Klavier Songs schreiben konnte, denen alle erdenklichen Richtungen offen stehen, die aber doch wieder nur in ein Taxi steigen, dem Fahrer stumm Geld hinhalten und sich wegfahren lassen. Wahnsinn, dass nach einer Single wie dem wunderschön lethargischen “Dr. Blind” doch noch mal ein ziemlich tanzbares Metric-Album ging. Britta Helm
Eigentlich ist Thom Yorke der letzte Mann bei Radiohead, der ein Soloalbum machen müsste, er hat schließlich mal gesagt, seine Band sei wie die UNO und er wie die USA. Trotzdem gibt es “The Eraser” und einen Eindruck davon, wie Radiohead klingen, wenn Yorke nicht nur alles entscheidet, sondern auch keinem das Gefühl geben muss, mitentschieden zu haben: schon noch nach Radiohead, aber reduziert auf Grundgerüste und Krimskrams-Elektronik, Songs denen das Innenleben fehlt, weil sie von Menschen handeln, denen es genauso geht. Auch das war 2006 nicht neu für Yorke; von “The Eraser” wollte er offenbar keine neuen Komfortzonen, sondern Selbstvergewisserung. Im eigenen Revier (und mit den vertrauten Gefährten Jonny Greenwood und Nigel Godrich) gelang ihm dennoch ein dehnbares, wasserfarbiges Elektro-Album ohne -rock oder -pop dahinter. Auf seine Weise war es sogar wegweisend. Mit “The King Of Limbs” hat Yorke seine Band im letzten Mai nämlich dorthin gebracht, wo er vor fünf Jahren schon alleine war und das Material angetestet hat. Daniel Gerhardt
Eddie Vedder und Sean Penn haben so viel gemeinsam. Beide galten mal als Verweigerer, die schwierigen Köpfe ihrer jeweiligen Branche, und beide haben Kinder mit komischen Namen. Nichtsdestotrotz sind sie in erster Linie ein künstlerisches Traumpaar, denn Musik und Film haben sich selten so gut in die Karten gespielt wie bei “Into The Wild”, Penns viertem Film als Regisseur und Vedders erstem Album als Solokünstler, mit dem er sozusagen seine Sicht der Dinge auf Bruce Springsteens 1982er Album “Nebraska” ablieferte (weitere Parallele zu Penn: Sein erster Film “The Indian Runner” basierte auf der Geschichte des “Nebraska”-Songs “Highway Petrolman”). Gerade noch rechtzeitig, bevor die ganzen Tätowierten darauf kommen konnten, landete Vedder also bei Springsteen und einer überwiegend akustischen Songwriter-Platte, die alles rüberbringt, was Penn von ihr gewollt haben kann: Alaska, die Einsamkeit und den sturen Kopf, den sich beide mit ihrem Helden Alexander Supertramp teilen. Knurrige Männer unter sich, und von innen sind sie ganz weich. Daniel Gerhardt
Peter Fox hat mindestens eine Sache mit Neil Young, Michael Jackson und Justin Timberlake gemeinsam: Er war schon als Mitglied seiner Band super, wurde aber erst als Solokünstler zum richtigen Star. Dabei wäre sein Album “Stadtaffe” genauso gut als logische Konsequenz des Seeed-Sounds bis 2008 denkbar gewesen: persönlicher, dunkler und, ja auch das, erwachsener als davor, aber halt trotzdem mit Hits, die sogar “Haus am See” oder “Schüttel deinen Speck” heißen und trotzdem gut sein können. Was man an Seeed immer zu Abiparty-mäßig fand, fehlt dafür: Aufdringlich sind an “Stadtaffe” nur die Tribaldrum-Beats mit Babelsberger Filmorchester-Verstärkung, und das aus gutem Grund, weil sie das meiste von der Karte kegeln, was vorher deutscher HipHop zu sein glaubte. “Stadtaffe” ist zu groß für solche Kleingeistlabels und Fox offenbar zu schlau, um sich das alles noch mal zuzutrauen. Trotz einskommaeins Millionen verkaufter Platten schließt er ein weiteres Soloalbum bis heute kategorisch aus. Daniel Gerhardt
Bevor Serj Tankian sein Solodebüt für die “Elect The Dead Symphony”-Tour ins Konzerthaus schleppte und wenig später auf seinem zweiten Album “Imperfect Harmonies” mit Orchester und Elektro-Beats experimentierte, bewegte er sich solo nur einen Steinwurf von seiner Band System Of A Down entfernt, die den Metal mit ihrem Wahnsinn belebt hatte. Dabei hätte man aufgrund von Tankians musikalischen Vorlieben fernab von Metal und der experimentellen Weltmusik, die er gemeinsam mit Arto Tunchoyacian als Serart produziert hatte, durchaus mit allem rechnen müssen. Eine erfreuliche Überraschung also für alle Fans von System Of A Down, zumal das 2005 erschienene “Hypnotize” bis heute das letzte Album der Band bleiben sollte. Tankian blieb seinem prägnanten Gesangsstil treu, instrumentierte seine Songs etwas üppigerer, ließ die Klaviermelodien allerdings regelmäßig und ohne große Umschweife von rasenden Gitarren überrennen. Eine neue Seite von Serj Tankian gab es auf “Elect The Dead” nicht zu entdecken. Dafür gute, harte, politisch motivierte Rockmusik. Matthias Möde
Prog mit Porcupine Tree, Artpop mit No-Man, Multikulti mit Blackfield, Krautrock unter dem Pseudonym I.E.M., Electronica als Bass Communion: Steven Wilson schafft sich für jede Vorliebe ein anderes Outfit an, und doch folgte Musik unter eigenem Namen spät in seiner Karriere. Seit 2003 hatte er sporadisch Singles mit Coversongs von Abba bis The Cure aufgenommen, aber sie immer nur kurz und exklusiv über seine Website vertrieben. Erst viel später war er bereit, die Sache im größeren Stil aufzuziehen. Dann aber richtig: “Insurgentes” wurde ein packend inszeniertes und brillant klingendes Album zwischen Porcupine-Tree-Prog, Radiohead-Melancholie und finsterem Ambient, der sich für den nächsten David-Lynch-Film anbietet. Es ist am Ende Geschmackssache, doch für viele überstrahlte “Insurgentes” sogar die nächste Porcupine-Tree-Platte, die nicht lange auf sich warten ließ. Wilson jedenfalls gab das berauschende Echo Selbstbewusstsein, um seine Solokarriere auszubauen: In Kürze erscheint der Nachfolger von “Insurgentes”. Dennis Plauk
Sagen wir mal so: Der Songwriter, der aus irgendeinem Fever-Ray-Track ein Volkswagen-Lied machen könnte, muss schon noch erst geboren werden. Ohne ihren The-Knife-Bruder mit dem immer noch sagenhaft witzigen Namen Olof legte Karin Dreijer Andersson alles noch tiefer, machte die Videos und Kostüme noch gruseliger und nahm den meisten der zehn Fever-Ray-Tracks auch gleich noch den Puls, wo sie schon mal dabei war. Trotzdem gab es vier Singles auf “Fever Ray”; die erste davon hieß “If I Had A Heart”, und man hätte in diesem Satz gerne das erste Wort betont, wenn Dreijer Andersson nicht schon wieder drei Schritte weiter gewesen wäre und aus ihrer komplett abgedunkelten, Dub-inspirierten Synthetik-Musik nicht ein Album übers Kindsein gemacht hätte. Abseits vom persönlichen Ansatz hat “Fever Ray” allerdings nichts mit einem klassischen Soloalbum gemeinsam, da kann Entwarnung gegeben werden. Und wer immer noch nicht glaubt, dass Dreijer Andersson die Coolste ist, muss mal bei YouTube nach „fever ray award“ suchen. Daniel Gerhardt
Fast zeitgleich mit Gründung seiner Band Interpol tourte Paul Banks auch als Solokünstler. Bloß kannte 1998 kaum jemand ihn noch seine Band – bis Interpol mit “Turn On The Bright Lights” weltweit bekannt wurden, sollte es noch dauern. Den mit “Antics” 2004 bestätigten Erfolg seiner Band versuchte Banks auf seinem Solodebüt mit einem Pseudonym unter den Tisch zu kehren: Julian Plenti. Natürlich wusste die halbe Welt trotzdem, dass es sich um den Chef dieser so guten New-Wave-Band handelte, die ständig mit Joy Division verglichen wurde, weil manche Leute müder Vergleiche nie müde werden. Auch wenn die Instrumentierung von Banks’ Solosongs, die er bereits 2006 aufgenommen hatte, zwischen Akustikgitarre und elektronischen Beats nicht gerade nach Interpol klangen, blieb seine Stimme unverkennbar – inmitten welcher Instrumente auch immer. Manchmal stimmen aber selbst die auf “Skyscraper” mit Interpol überein – wenn sich etwa die hallenden Gitarren überlagern oder Interpols Sam Fogarino in “Games For Days” als Gastmusiker am Schlagzeug sitzt. Matthias Möde
Gemeinsam mit seinem Bruder Michael schwelgte Paul Murphy im Winter 2008/09 im Haus seiner Eltern in Erinnerungen, aus denen letztlich die persönlichen Songs für das Solodebüt des Wintersleep-Frontmanns entstanden. Die Brüder benötigten dafür kaum mehr als eine Akustikgitarre, einen Laptop, Scotch und natürlich die fabelhaft melancholische Stimme Paul Murphys, die dank der spartanischen LoFi-Aufnahmen noch besser zur Geltung kommt als inmitten von Wintersleeps Indierock-Arrangements. Die neun Songs, die Murphy ohne seine Band aufnahm und von düsteren Träumen inspiriert sah, entstanden in Gedenken an die kurz zuvor gestorbenen Großeltern und sollten zugleich ein Geschenk an ihre Kinder, seine Eltern, sein. “Postdata” ist damit ein öffentlich gemachtes Stück Familiengeschichte. So heißt es in “Warning”: „You died without warning/ That September morning/ I spoke to you aloud for the last time.“ Am Ende wunderte man sich nur über eines: warum Paul Murphy nicht seinen eigenen Namen auf die Platte geschrieben hatte. Matthias Möde
Zwei Jahre lang suchte Alain Johannes nach den richtigen Worten und richtigen Noten, um den Verlust seiner Frau und Bandpartnerin bei Eleven, Natasha Shneider, auf seinem ersten Soloalbum zu verarbeiten. Melancholisch, aber nicht sentimental. Traurig, aber nicht hoffnungslos. Sanft, aber nicht schwach. Natasha Shneider, die 2008 an Krebs starb und der man eine bewundernswerte Dickköpfigkeit nachgesagt hatte, wäre wohl stolz gewesen auf “Spark”. Denn es wurde ein mutiges kleines Album mit enormer emotionaler Wirkung. Für die brauchte Johannes meistens nur seine Stimme, etwas Percussion und ein eckiges Zupfinstrument namens „cigar box“, das eine geheimnisvolle Aura ins Album trug, wie sie ähnlich auch Shneider ausgestrahlt hatte, etwa als Tour-Keyboarderin der Queens Of The Stone Age. Josh Homme, dem ihr Tod ebenfalls sehr zu schaffen machte, veröffentlichte “Spark” auf seinem Label Rekords Rekords und holte Alain Johannes ins Live-Aufgebot seiner Supergroup Them Crooked Vultures. Ein guter Freund. Dennis Plauk
Herausstechend war J Mascis auch inmitten seiner Bandkollegen von Dinosaur Jr. schon immer. Nicht nur weil er sich so schön mit Lou Barlow streiten konnte, sondern auch wegen seiner genialen, muffigen Art, den unfassbar dünnen langen grauen Haare, den unfassbar gniedeligen, gnadenlos guten Soli. Doch genau die stellte er für sein erstes richtiges Soloalbum (keine Liveplatte, keine Hindu-Gesänge, keine Unterstützung von The Fog) zur Seite. Wie so oft, wenn Bandleader für sich alleine musizieren, klingen auch Mascis‘ Songs etwas zurückgenommener und spartanischer. Er blieb auf “Several Shades Of Why” allerdings der Nerd, der nun an der Akustikgitarre glänzt. Ganz nehmen lassen wollte er es sich natürlich nicht, hin und wieder sanft auf den Verzerrer zu treten. Mit Gästen im Studio, darunter Broken Social Scenes Kevin Drew und Ben Bridwell von Band Of Horses, entstand auf diese Weise das persönlichste J-Mascis-Album (Dinosaur eingerechnet). Es steht dem von ihm unfreiwillig verkörperten Indie-Noise-Slacker-Kultkauz wohl am nächsten. Matthias Möde
Diese Liste erschien ursprünglich im August 2011 in VISIONS 222.
Zuletzt mussten Fans nach “Damn” (2017) fünf Jahre auf ein Nachfolgealbum von Kendrick Lamar warten. Heute Abend hat der Grammy-prämierte Rapper sein neues Album “GNX” überraschend und ohne größere Vorankündigung auf allen Streamingplattformen nur zwei Jahre nach dem Vorgänger veröffentlicht. Zu einer physischen Veröffentlichung ist derweil noch nichts bekannt.
Wenige Hinweise auf eine Veröffentlichung streuten im Oktober nur Lamars ehemalige Labelkollegen SZA, Schoolboy Q und die Produzenten Devin Malik sowie Terrace Martin, der auch an der Platte mitgewirkt hat. Produziert wurde “GNX” aber vor allem unter der Aufsicht von Bleachers-Frontmann Jack Antonoff.
Auf den ersten Eindruck wirkt der Nachfolger von “Mr. Morale & The Big Steppers” (2022) weniger existenzialistisch, weniger von Leid geprägt wie noch sein Vorgänger. Songs wie “Luther” oder “Heart Pt. 6” merkt man Antonoffs poppige Breitwand-Produktion deutlich an. “TV Off” ist dagegen wieder lupenreiner West Coast HipHop, der Titeltrack ein vertracktes, klaustrophobes Stück mit kaputter Pianomelodie und Closer “Gloria” ein musikgewordener Blick in den Sonnenuntergang. Stilistisch zieht Lamar auf “GNX” alle Register, dabei fällt das Album mit 12 Songs zwischen 3 und 5 Minuten ungewöhnlich kompakt für seine Verhältnisse aus.
Dieses Jahr trat Lamar vor allem durch seine Fehde mit Rapper Drake in Erscheinung, die er nach Jahren gegenseitiger Seitenhiebe für die meisten wohl für sich entschied.
Von Juni 2022 bis März 2024 war er zuletzt auf großer Tour mit “Mr. Morale & The Big Steppers”. Im Oktober 2022 war auch VISIONS exklusiv in Paris dabei, als der Ausnahmerapper für sein erstes Livestream-Konzert nichts dem Zufall überließ.
Die Post-Hardcore-Supergroup L.S. Dunes aus Chicago kündigte bereits im Mai ihr zweites Studioalbum „Violet“ an und brachte daraus bisher die Singles „Fatal Deluxe“ und „Machines“ raus. Jetzt folgt die dritte Auskopplung „Paper Tigers“, diese ist im Vergleich zu den anderen beiden Songs etwas getragener und erinnert in Teilen an Radiohead und Placebo mit Hardcore-Elementen.
Gitarrist Frank Iero (My Chemical Romance) war nicht von Anfang an überzeugt davon, dass „Paper Tigers“ die Band genug verkörpern würde, obwohl er der die erste Idee hatte: „Ich glaube, als ich anfing, die Akkordfolge für dieses Lied zu schreiben, schrieb ich es ursprünglich für mich selbst, weil es sich für mich nicht wie ein L.S.-Dunes-Lied anfühlte.“ Später erkannten er und seine Band um Sänger Anthony Green (Circa Survive) jedoch das Potenzial von „Paper Tigers“. Schlagzeuger Tucker Rule (Thursday) kürt den Titel sogar zu seinem persönlichen Lieblingssong der Platte, den er auch auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
“Violet” erscheint am 31. Januar und ist nach dem Debüt “Past Lives” (2022) laut Gitarrist Travis Stever (Coheed and Cambria) „eine akustische Reise in die Tiefen jedes einzelnen Bandmitglieds von L.S. Dunes“, außerdem führt er fort: „Es enthält Melodien, die ich seit meiner Kindheit in mir trage. Nur mit dieser Band konnte ich einen Ort finden, an dem sie in den Songs ein Zuhause finden konnten.“ Tatsächlich haben alle Mitglieder bereits in anderen Bands Erfahrungen gesammelt, L.S. Dunes stellt ein persönlicheres Projekt aller Beteiligten vor.
Neben dem Album haben sie nächstes Jahr zudem den Tour-Support von Rise Against in Aussicht gestellt. Diese kommen für neun Termine nach Deutschland, bei den sechs Stopps im Februar werden sie von L.S. Dunes und Sondaschule unterstützt
L.S Dunes – “Violet”
01. “Like Magick”
02. “Fatal Deluxe”
03. “I Can See It Now…”
04. “Violet”
05. “Machines”
06. “You Deserve To Be Haunted”
07. “Holograms”
08. “Paper Tigers”
09. “Things I Thought Would Last Forever”
10. “Forgiveness”
VISIONS empfiehlt: Rise Against mit L.S. Dunes
12.02. Berlin – Velodrom
14.02. Düsseldorf – Mitsubishi Electric Halle (ausverkauft)
15.02. Hamburg – Sporthalle (ausverkauft)
17.02. München – Zenith
18.02. Frankfurt – myticket Jahrhunderthalle
19.02. Frankfurt – myticket Jahrhunderthalle
Besonders interessant sind da natürlich Turnstile, die zuletzt hauptsächlich auf großen Festival zu sehen waren und durch ihre innovative Herangehensweise an Punk und Hardcore überzeugen. “Moshen und Stagediven ohne Mackertum, gelebte Diversität im Publikum, keine Abgrenzung zwischen Bühne und Saal, ein Mikro frei für alle – beste Voraussetzungen für eine gute Zeit”, so wurden ihre Konzerte in unserer Rezension ihres zuletzt veröffentlichten Albums “Glow On” beschrieben.
Refused wiederum sind am – wiedermal – am Ende ihrer Karriere angelangt. Die schwedische (Post-)Hardcore-Instanz löst sich nächstes Jahr auf und will es vorher nochmal so richtig krachen lassen. Eine Tour in Europa steht noch aus, dafür mit ihrem Auftritt beim Vainstream und dem Jera On Air die ersten Abschiedsshows.
Vidar Landa, Gitarrist der norwegischen Black-Metal-Punks Kvelertak und des Power-Pop-Nebenprojekts Beachheads, hat sein Debüt als Solokünstler angekündigt. Unter dem Künstlernamen King Hüsky soll das gleichnamige erste Album kommendes Jahr erscheinen. Die erste Single “Running” ist seit heute verfügbar.
Der Song stellt einen starken stilistischen Bruch zu Landas anderen Bands dar – sanfter, akustischer Pop mit melancholischen Texten. “King Hüsky” wurde in Landas Heimatstadt Stavanger und mit Unterstützung von Kollegen von unter anderem I Was A King aufgenommen und produziert.
Die Veröffentlichung des Debütalbums wurde für den 9. Mai über Hype City, Border und Redeye angekündigt. Weitere Details sind noch nicht bekannt.
Ungewiss bleibt auch die Zukunft von Landas Hauptband Kvelertak. Nachdem Gitarrist Bjarte Lund Rolland Anfang des Monats ausgestiegen war, gab die Band bekannt, dass das Konzert am 28. Februar 2025 in München das vorerst letzte auf absehbare Zeit sein wird. Genauere Gründe für die Bandpause wurden nicht genannt.
Passend zur heutigen Veröffentlichung ihres Albums “Merciless” haben Body Count ein Musikvideo zum Titelsong veröffentlicht. Darin zu sehen ist Frontmann Ice-T, der ein gefesseltes Mitglied des Ku-Klux-Klans verprügelt, foltert, ihm die Zähne zieht und am Ende erhängt. Dazwischen flackern Archivaufnahmen von Polizeieinsätzen gegen Afroamerikaner und realer Klan-Versammlungen.
Zur Veröffentlichung des Videos äußerte sich Ice-T wie folgt: “Das Video ist brutal. Ich glaube, dass es eine Menge Scheiße auslösen wird.” Weiter erklärte er, dass das Video in seinem Setting und seiner Gewaltdarstellung eines berüchtigten Torture-Porn-Horrorfilms inspiriert wurde. “Ich habe eine Menge grausamer Folter-Filme wie ‘Hostel’ gesehen, während ich das Album geschrieben habe, und die Charaktere sind alle so kaltblütig… Daher kommt die gesamte Energie des Albums.”
“Die Person, die wir im Video umbringen, scheint einige Leute an jemanden zu erinnern, auch wenn das nicht von uns beabsichtigt war. Mal schauen, was da noch passieren wird”, so Ice-T. Auch textlich zeugt der Song von extremen, antirassistischen Botschaften und spiegelt die Bilder des Videos in aggressiven Parolen: “Now I’m on top/ No chance to call your racist cops/ […]/ You can cry moan and plead/ And I don’t give a fuck.”
Body Count zeigen sich auf ihrem aktuellen Album in vielerlei Hinsicht politisch, wenn auch nicht genauso radikal wie mit dem Titelsong. Für ein Cover des Pink Floyd-Songs “Comfortably Numb” konnten sie nicht nur den Gitarristen des Originals, David Gilmour, zur Zusammenarbeit begeistern, sondern auch die Erlaubnis des umstrittenen Mitglieds Roger Waters erlangen. Der Song wurde umgeschrieben, um das aktuelle politische Klima zu beschreiben.