Die Schotten sind Mitte der 80er-Jahre als verhuschte Indiepop-Nostalgiker gestartet. Schon mit dem zweiten Album zeigt die Band, dass sie jedoch nicht vorhat, sich mit ihren Platten zu wiederholen. Das führt hier zu einem Cover, auf dem sich Primal Scream als Rockband inszenieren. Passend dazu der erste Song: “Ivy Ivy Ivy”, knapp über drei Minuten lang, Powerpop trifft Schweinerock – fast so, als verfolge die Band das Ziel, die schottischen Replacements zu werden. Auch der maschinelle Rocksound von The Jesus And Mary Chain, perfektioniert im gleichen Jahr bei “Automatic”, ist ein Einfluss. Nur, dass Primal Scream das längst nicht so lässig spielen. Die Geister scheiden sich auch bei den Balladen: “You’re Just Dead Skin To Me” ist fantastisch, auf einem Niveau mit den Tränenziehern von Nick Cave & The Bad Seeds aus dieser Zeit. Bei “I’m Losing More Than I’ll Ever Have” versucht die Band, Rock und Ballade zusammenzudenken. Was in dem Moment, in dem Bobby Gillespie stimmlich alles gibt, unfreiwillig komisch klingt. Interessant ist, dass das Stück einen psychedelischen Groove entwickelt, der bald für Primal Scream sehr wichtig werden wird. Ein Album nicht ohne Charme – aber mit recht vielen schwachen Songs.
Bobby Gillespie versucht, an Modern Pop anzudocken. Auf der Gästeliste stehen Haim und Sky Ferreira, wohl in der Hoffnung, mit diesen Namen ein junges Publikum zu gewinnen. Die Platte beginnt mit “Trippin‘ On Your Love”: Primal Scream nach Regelbuch, ein Song wie ein verdrogter Baggy-Trip, klanglich jedoch erstaunlich flach, da helfen auch der Gesang von Haim nicht. Das gilt auch für “(Feeling Like A) Demon Again”, ein Stück, das der Formel einer anderen Band folgt, nämlich New Order. Was auch hier fehlt, ist der Tiefgang. Beinahe wirkt es, als habe Primal Scream, eine Band für große Soundsystems, diese Platte eigens für kleine Boxen produziert. Und so tröpfelt “Chaosmosis” dahin, bis zwei fantastische Stücke die Platte retten: “100% Or Nothing” ist ein wuchtig-stampfendes Plädoyer für die absolute Hingabe, von Gillespie sensationell gesungen. Super auch der Track mit Sky Frerreira: “Bei Where The Lights Get It” einigen sich die beiden darauf, dass das Licht die Seele über die Wunden erreicht.
In den späten 90er- und frühen 00er-Jahren waren Primal Scream eine abenteuerlustige Techno-Rock-Band. Mit “Riot City Blues” kehren sie zum Rock’n’Roll zurück, der eben auch in ihrer DNA steckt. Wie immer, wenn Primal Scream Nostalgie entdecken, sind die Rolling Stones die großen Vorbilder. Und so eröffnen die Band das Album mit “Country Girl”, einem unwiderstehlichen Hit zwischen Folk, Blues, Country und jubilierendem Rock’n’Roll. Ganz früher hat Rod Stewart Songs dieser Art spielen lassen. Wobei sich Bobby Gillespie große Mühe gibt, den lässigen Rocker zu geben. So großartig dieser erste Song ist: “Riot City Blues” ist ein Album wie eine Geste, nicht mehr, nicht weniger. Einige Liedtitel geben brav das Motto vor: “We’re Gonna Boogie”. Andere handeln vom “99th Floor” oder von “Suicide Sally & Johnny Guitar” – prima Zeugs für den kleinen Rockclub um die Ecke. Was man sich beim Hören aber auch denkt: Es gibt für diesen Vintage-Spaß bessere Bands und bessere Sänger.
War “Riot City Blues” eine reine Roots-Veranstaltung, führen Primal Scream zwei Jahre später den Gedanken des Vorgängers fort, verpacken ihn jedoch in einen etwas weniger nostalgischen Sound. Der Titeltrack spielt mit Phil Spectors Idee von der „Wall of Sound“, Bimmelbammel inklusive. Man hätte sich die Produktion allerdings mutiger gewünscht: Die Band konzipiert “Beautiful Future” als große Pop-Platte, bleibt dann jedoch auf halber Strecke stehen. “The Glory Of Love” ist dafür ein gutes Beispiel: Zu einem Bubbelgum-Pop-Beat stellt Bobby Gillespie allerhand Überlegungen über die Liebe an, Harmonien aus Fernost bringen Exotik ins Spiel, aber auch hier: der große Wumms bleibt aus. Dafür stimmt an anderen Stellen Tempo: Der Druck von “Can’t Go Back” ist beachtlich, der “Necro Hex Blues” wird auch Jack White gefallen, “Beautiful Summer” ist eine lässige Übung in Psychedelic.
Der letzte der drei Electro-Brocken, die Primal Scream rund ums Millennium veröffentlichen, ist der am wenigsten gelungene. Was “Evil Heat” nicht zu einem schwachen Album macht. Aber eben auch nicht zu einem, das einen unmittelbar umhaut. Stark ist “Evil Heat”, wenn Primal Scream hemmungslos ihrer Liebe zum Krautrock ausleben: “Miss Lucifer” und “Autobahn 66” führen kosmische Musik in eine Art Cyberpunk-Prärie, bei zweiterem sind die Kraftwerk-Keyboard-Melodien eine offensichtliche Verbeugung in Richtung Düsseldorf. “Detroit” nimmt den damals angesagten Electroclash-Trend auf: Primal Scream spielen Electro für die Rockdisco – oder umgekehrt. Der Rock’n’Roll von “Rise” oder “Skull X” klingt, als hätten Computerviren die Festplatten zerschossen. Was definitiv cool klingt. Einem aber auch auf die Nerven gehen kann. Für Schlagzeilen sorgt Gillespies Duo mit Kate Moss: Der blasse Schotte und das Supermodel singen Lee Hazlewoods “Some Velvet Morning” in einem Stil für Fashion-Shows – elektrisch-glamourös, aber letztlich flach.
In ihrer frühen Phase sind Primal Scream Mitglieder der C86-Clique, benannt nach einem Tape, das im Mai 1986 dem New Musical Express beiliegt. Mit Songs von Bands der „Class of 86“, die für einen neuen britischen Indie-Sound steht: handgemachter Jingle-Jangle-Gitarrenpop in Paisley-Hemden und schüchternen Sängern. Ein Gegenmodell zum 80s-Pop also. Primal Scream eröffnen das Tape mit ihrer ersten Single “Velocity Girl” – ein perfekter Popsong für alle, die ein wenig Windschiefe im Vortrag ertragen können. Auf dem ersten Album, das ein Jahr später erscheint, spielen die Schotten ihren Indiepop bereits mit minimal mehr Druck. Dennoch ist “Sonic Flower Groove” meilenweit von dem entfernt, was diese Band später abliefern wird. Wer sich auf die sanfte Psychedelic von Songs wie “May The Sun Shine Bright For You”, “Imperial” oder “Sonic Sister Love” einlässt, hört mit diesem Debüt einen Indiepop-Klassiker, nicht weit entfernt von dem Sound, den auch die ganz jungen Stone Roses gespielt haben.
Benannt nach den letzten Worten von Goethe: Bevor dieser die Augen für immer schloss, soll er noch einmal nach „mehr Licht“ verlangt haben. Primal Scream nehmen die Forderung zum Anlass, eine zugleich sehr seltsame und sehr gute Platte zu produzieren. Bekommt man viele andere Alben der Band sofort zu greifen, entzieht sich das von David Holmes co-produzierte “More Light” jeder Kategorisierung. Schon der erste Track “2013” ist alles und nichts, besitzt aber ein grandioses Saxofon und eine magische Anziehungskraft. Danach fließt der “River Of Pain” sieben Minuten lang dahin, bluesig, folkig, dröhnend – plötzlich spielen Primal Scream Meditationsmusik. Um direkt im Anschluss mit dem Electro-Rock von “Culturecide” den Zeitgeist zu kritisieren – mit Bobby Gillespie als Rapper zum Gospelchor. Ein zentraler Song von More Light ist “Tenement Kid”, acht Jahre später der Titel von Gillespies Autobiografie, mit einen Schwerpunkt auf seine Kindheit und Jugendjahre in einer Mietshaussiedlung in Glasgow.
Fähnchen im Winde oder Seismografen des Zeitgeistes? Für Primal Scream ist 1994 das Rave-Age schon wieder vorbei, mit “Give Out But Don’t Give Up” gibt sich die Band einer von den Rolling Stones und alten US-Blues-Musikern beeinflussten Rock’n’Roll-Musik hin. Alle hören 1994 verdutzt hin, als Primal Scream mit den Single-Auskopplungen “Rocks” und “Jailbird” um die Ecke kommen: Hier hat sich eine Band komplett neu erfunden. Oder auf alt getrimmt. Je nach Sichtweise. Einige Fans wenden sich entsetzt ab, werfen den immer links und progressiv denkenden Primal Scream sogar Konservatismus vor. Getriggert vom Cover, dem Bild der Konföderationsflagge. Das Foto ist Teil einer Reihe des US-Künstlers William Eggleston, der im Mississippi-Delta nach Spuren des amerikanischen Mythos suchte. Und genauso machen das Primal Scream auf diesem Album auch. Große Balladen wie “(I’m Gonna) Cry Myself Blind” inklusive.
Bei ihrer erneuten Zusammenarbeit mit dem irischen Produzenten David Holmes finden Primal Scream zu einem cineastischen und packenden Sound. Im Kern besitzt “Come Ahead” zwei Ebenen. Da sind erstens die Disco-Soul-Tracks, Songs wie “Ready To Go Home” oder “Love Insurrection”, die pumpen und jubilieren sowie dem Tod entgegentreten, der Einzug in Gillespies Kosmos gefunden hatte: sein Vater erlag einer langen Krankheit, er ziert das Cover, auch der Keyboarder Martin Duffy verstarb. Auf der zweiten Ebene finden sich sehr traurige, nachdenkliche Singer/Songwriter-Songs. Man kann die Erzählung von “Melancholy Man” als selbstmitleidig empfinden. Und die Protestlieder “False Flags” (gegen den Krieg) und “Settlers Blues” (gegen Kolonialismus und Kapitalismus) mögen ein paar Strophen zu viel haben. Aber der dichte und drückende Sound von Holmes macht sie dennoch hörenswert. Über allem schwebt das Stück “Deep Dark Waters”, eine mitreißende Apokalypse-Erzählung, mit grandiosen Gitarren von Andrew Innes – der damit auch den Eindruck widerlegt, bei Primal Scream handele es sich nur noch um ein Soloding von Gillespie.
Blickt man nur auf die Relevanz, ist “Screamadelica” die Nummer eins. Dies ist das Album, mit dem man Primal Scream noch in 50 Jahren verbinden wird. Die Platte erscheint im Herbst 1991 am Peak der Baggy-Bewegung, die Singles wie “Loaded” und “Come Together” haben bereits 1990 den Weg geebnet. Das Album bündelt die Hits, die Tracks zum Auffüllen sind alle nicht übel, dennoch ist “Screamadelica” im Kern eine Singles-Paket. Oder vielmehr: ein Maxi-Single-Paket. Weshalb die 2021 veröffentlichte “Screamadelica”-12‘‘-Singles-Box der beste Weg ist, diese Musik zu hören. Ein Klassiker ist das Album natürlich dennoch. In einer der waghalsigsten Metamorphosen der Rock-Geschichte wandeln sich Primal Scream in nur wenigen Monaten von einer soliden Indie-Gitarrenband in eine Groove-Maschine. “Screamadelica” ist eine Party-Platte für die verrauschten Momente zwischen dunkelster Nacht und dem ersten Morgengrauen. Die Verbindung aus Beats und Slogans erhebt, der Klang ist von zeitloser Klasse. Gillespie tritt als Sänger kaum in Erscheinung. Er ist hier eher: der Zeremonienmeister.
Von Indiepop über Rave und Rock bis zu Alternative-Dance innerhalb einer Dekade: die Abenteuerlust von Bobby Gillespie und seinen Leuten kennt keine Grenzen. Einige Kritiker, die über den Rock’n’Roll von “Give Out But Don’t Give Up” geschimpft haben, schimpfen nun weiter: Was soll dieser Electro-Rock? Entstanden ist er zur Zeit von Big-Beat und TripHop. Primal Scream nehmen sich diese von Grooves, Filmmusik und Samples geprägte Musik und überführen sie in den Rock-Kosmos. Tracks wie “Kowalski” über einen fiktiven und unfassbar coolen Outlaw wirken wie in Songs gepackte Filme, ausgestattet mit Sprach- und Musiksamples aus der Soundtrack- und Soul-Geschichte. Das lange Cool-Jazz-Instrumental “Trainspotting” kennt man schon vom Soundtrack des gleichnamigen Films – was zeigt, wie sehr Primal Scream mit dem Sound von “Vanishing Point” den musikalischen Zeitgeist der auf ihr Ende zusteuernden 90er-Jahre treffen. Einen Popsong bietet das Album aber auch: “Star”, eine Schönheit zwischen Dub und Electro.
Wer denkt, Primal Scream hätten sich mit “Vanishing Point” ausgetobt und würden nun wieder Rockmusik spielen, täuscht sich gewaltig. Das neue Jahrtausend ist gerade mal 31 Tage alt, da verzichtet die Band auf die milden Vokale, setzt auf harte Konsonanten: PRML SCRM: XTRMNTR. Das lässt sich nicht unfallfrei aussprechen. So wenig, wie sich das Album unfallfrei hören lässt. Bobby Gillespie hat “XTRMNTR” als eine Projektion aller Protestplatten aller Zeiten konzipiert. Das Album ist wütend und working class. Es zitiert Bob Dylan, der so viele Fragen stellte, und „A Clockwork Orange“, den Film, der so viele verstörende Antworten fand. Damit keine Verwechslungen aufkommen: Gleich zu Beginn fordern Primal Scream “Kill All Hippies”. Auf Basis eines Samples aus Dennis Hoppers Film „Out Of The Blue“ aus dem Jahr 1980, der die Geschichte eines Mädchens erzählt, das im sozialen Elend der vom Neoliberalismus geprägten frühen 80er-Jahre Halt im Punk und Rock findet. Und eben nicht mehr in der Gefühlsseligkeit der 70er. Der Song entwickelt sich zu einem Funk-Track zwischen Hitze und Kühle, bevor “Accelerator” mit beinahe unzumutbaren lauten Gitarren aufwartet.
So mischt nur einer: Kevin Shields von My Bloody Valentine, auf diesem Album ein informelles Mitglied von Primal Scream, mit seinen ultimativen Gitarren auch prägende Figur bei den Stücken “MBV Arkestra (If They Move Kill’Em)” und “Shoot Speed/Kill Light”. Neben Shields ist noch ein weiterer Britpop-Promi dabei: Mani, Bassist der Stone Roses, bei “Keep Your Dreams” auch als Songwriter beteiligt. Sein Stück ist einer der wenigen Ruhepole in diesem Furor. Der Klassiker der Platte ist gleich zweimal vertreten: “Swastika Eyes” gibt es in Mix-Versionen von den Chemical Brothers und Jagz Kooner. Der Titel ist eine Provokation, der Sound lehnt sich an Electronic Body Music an, vor allem an die Produktionen von D.A.F. aus Düsseldorf – die Liebe von Primal Scream für deutsche Musik aus dem Underground kennt auf auch ihrem stärksten Album keine Grenzen.
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Inhalt
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