Erster Akt: Fuck The Scene!
Stell dir vor, du verehrst die Dead Kennedys. Wegen ihrer Energie. Ihrer Kompromisslosigkeit. Und ihrer Haltung zum Musikbusiness, die sich dadurch auszeichnet, jegliches Einknicken vor Kommerz und Kapitalismus abzulehnen. Und mehr noch, über alle zu schimpfen, die behaupteten, niemals einknicken zu wollen, es dann aber doch tun. Und stell dir dann vor, du liebst den Thrash Metal der 80er, du hörst “Bonded By Blood” von Exodus rauf und runter, hältst Venom und Metallica für so einflussreich wie die Beatles oder Ramones und hast ein großes Herz für Kreator aus Essen. Wenn du unter diesen Voraussetzungen eine Band gründest, dann klingt sie wie Propagandhi.
Es gibt in der kanadischen Provinz Manitoba nur drei Städte, die größer sind als Portage la Prairie. Dass dort dennoch nur etwas mehr als 13.000 Leute leben, verdeutlicht das ganze Elend dieser Region mitten in Kanada: Es ist nicht viel los. Gut, das Wetter ist schöner als anderswo in diesem Land, keine Stadt hat mehr Sonnenstunden als Portage la Prairie. Die lassen sich im großen Park der Stadt genießen, der von einem ringförmigen See umgeben ist. Einer der rund 100.000 Seen von Manitoba. Ein Paradies für Vogelbeobachter und Geocacher. Doch die Natur gibt einem nur wenig, wenn man die Dead Kennedys verehrt, Thrash Metal liebt und unbedingt in einer Band spielen möchte.
Chris Hannah und Jord Samolesky kennen sich aus der Schule und machen das Beste, was man in Kanada aus dieser Gesamtsituation machen kann: Sie treffen sich zum Metalhören und Eishockeyspielen. Der lokale Club trägt den tierischen Beinamen Terriers. Entsprechend hartnäckig gehen schon die Jugendteams zur Sache, auch wenn sie fast jedes Spiel verlieren. Nun ist es so, dass Niederlagen zusammenschweißen, weshalb Hannah und Samolesky eine Art Team im Team gründen. Ein Duo, das sich bald für andere Dinge viel mehr interessiert als für Eishockey. Für Metal. Und für eine linke Revolution. 1986 gründen die beiden eine Band und nennen sie Propagandhi. Beeinflusst von der Namensgebung der Dead Kennedys. Hannah versucht sich an der Gitarre. Samolesky am Schlagzeug. Die beiden definieren ihre Musik als Progressive-Thrash. Progressive wie fortschrittlich denkend. Aber auch wie Grenzen sprengend und komplex agierend. Eine Progressive-Thrash-Band aus Portage la Prairie, bestehend aus zwei Leuten. Na dann, viel Spaß!
Der Aushang im Plattenladen
Records On Wheels ist der Name einer kanadischen Plattenladenkette, eine Filiale befindet sich in Winnipeg, Hauptstadt der Provinz Manitoba mit etwas mehr als 700.000 Einwohnern, gut eine Autostunde westlich von Portage la Prairie. Wer von dort wegwill, der geht nach Winnipeg. Chris Hannah und Jord Samolesky haben es genauso gemacht, nun verfolgen sie das Ziel, aus ihrem Duo endlich eine richtige Band zu machen. In Winnipeg gibt es dafür Perspektiven. Und mit Records On Wheels einen Plattenladen, in dem sie einen Zettel aufhängen: “Progressive thrash band is looking for a bass player”, darunter dann zwei Telefonnummern, mal sehen, was passiert.
Es meldet sich ein einziger Kerl, Scott Hopper. Chris Hannah fährt hin, trifft einen Typen in Unterhose vor, Bierdose in der einen, Joint in der anderen Hand. Alle fünf Minuten steht eine Pause an, mehr trinken, mehr kiffen. Bei einem längeren Break wird neues Bier geholt. Alle weiteren, nun ja, “Proben” laufen ähnlich ab. Irgendwann sagt Hopper dann, er würde lieber einer lokalen Grindcore-Band beitreten. Mittlerweile aber sind Hannah und Samolesky in der Szene von Winnipeg so gut vernetzt, dass sich bald ein Interessierter meldet, bevor sie einen neuen Zettel aufhängen müssen. Es handelt sich um einen Bassisten namens Mike Braumeister, Spitzname “Stinky”, was an seinem Spleen liegt, auch im Hochsommer eine Lederjacke zu tragen, ohne Shirt darunter. Es entstehen ein paar Demotapes. Nur eine echte Show, die hat man bislang noch nicht gespielt.

»Wir haben uns schon immer allein gefühlt. Schon ganz am Anfang, als wir mit der Skatepunk-Szene von Südkalifornien in einen Topf geworfen wurden.«
Chris Hannah
Das ändert sich Anfang der 90er im Royal Albert. Nicht zu verwechseln mit der viktorianischen Halle in London auf der anderen Seite des Atlantiks. Das Royal Albert Arms Hotel in Winnipeg bietet unten eine heruntergerockte Bar, die von der Punk-, Metal- und Hardcore-Szene in Winnipeg als Ort genutzt wird, um endlich live spielen zu können. “Draft Nights” heißen die Events, bei denen alles geht. Drinnen wie draußen. Tumulte inklusive. Es gibt in Winnipeg mit Red Fisher eine Melodycore-Punkband, beeinflusst von den Descendents und All. Doch Propagandhi hängen eher mit den Thrash- und Metal-Bands der Stadt ab. Was auch daran liegt, dass sie mit dem Gehabe der Skate-Punk-Bewegung wenig anfangen können und als veraltetes Hänger-Gehabe mit cooleren Klamotten betrachten. Die Band steht vor der Frage: Komplettverweigerung – oder der Versuch, diese Szene von innen zu verändern? Propagandhi entscheiden sich für zweiteren Weg, der sie im Lauf der Jahre viel Kraft kosten wird.
Ein Anruf aus L.A.
Bewegung kommt in die Sache, als das Trio 1991 eine Show im Vorprogramm von Fugazi spielt und kurz danach ein Besuch aus Los Angeles ansteht: NOFX kommen! Als Support dabei: Propagandhi. Doof, dass sich Bassist Braumeister ausgerechnet jetzt entschließt, Winnipeg zu verlassen und ins boomende Vancouver zu gehen, wie so viele damals: Go West! Es dauert aber nur ein paar Tage, bis der nächste Bassist das Zeug draufhat. Dieses Mal kein freakiger Typ mit Bierdosen- oder Lederjackenspleen, sondern ein eher schüchterner junger Mann namens John K. Samson. Der Gig vor NOFX läuft super, deren Sänger Fat Mike fragt nach einem Demotape. Die Band händigt ihm eines aus, der Titel: “Fuck The Scene”. Im Grunde denkt Chris Hannah: Das war’s wohl auch schon wieder.
Doch kurz darauf meldet sich Fat Mike aus L.A.: Er habe große Lust, eine Single mit Propagandhi für sein Label Fat Wreck Chords aufzunehmen. Das Problem aktuell sei nur, dass er blank sei, weil viel Kohle für eine Session mit Lagwagon draufgegangen sei. Chris Hannah ist sich sicher, danach nie mehr etwas von Fat Mike zu hören. Fuck The Scene! Doch Fat Mike ruft noch ein paarmal an, und eines Tages wird’s konkret: “Kommt rüber nach L.A.!” Sechs Tage in den Westbeach Recorders Studios in Hollywood, gegründet von Brett Gurewitz von Bad Religion, eine der wenigen Punkrock- und Melodycore-Bands, die Propagandhi rückhaltlos bewundern. Bislang spielt die Band ihre Tracks unter DIY-Demo-Bedingungen ein, sprich: Dann, wenn es ihnen gefällt. In L.A. heißt es nun: In sechs Tagen muss die Platte fertig sein. Und es gelingt: “How To Clean Everything” erscheint im Frühjahr 1993.
Wer die Texte ausblendet, hört eine rasante Melodycore-Platte mit dezenten Metal-Einflüssen bei den Riffs. Doch Propagandhi wollen keine Musik für Leute machen, die die Texte ausblenden. Sie wollen, das man hinhört. Und wer das tut, bemerkt, dass Propagandhi ihrer eigenen Szene in die Hacken fahren, mit langen Texten, die über die politische Klasse richten, dazu über alle, die Macht missbrauchen (also alle, die Macht besitzen), sowie über die Szene, die von den Bands zwei Dinge verlangt: ihnen erstens eine gute Zeit und zweitens ein gutes Gewissen gibt. Punk ohne Haltung. Für Propagandhi funktioniert das nicht. In allen Songs ist der Protest an dem eingebaut, was sie selbst tun. Und daran, wie die Szene diese Songs rezipiert. Das ist Dialektik.
Es gibt viele Menschen, die bis heute sagen, dass sie durch dieses Album politisiert wurden. Weil es ihnen zeigte, dass man zwischen Boards und Bier das Gehirn nicht ausschalten darf. Und dass dieser Boys Club mit seinen Skatern und Surfern, Dudes und Bros in Sachen Frauen- und Schwulenfeindlichkeit keinen Deut besser ist als die evangelikalische Gemeinde um die Ecke.
Der Seher
Was einem beim Wiederhören von “How To Clean Everything” (und auch den anderen Propagandhi-Alben) fast gruselig vorkommt, sind die seherischen Fähigkeiten von Chris Hannah. Man feiert regelmäßig die “Simpsons”, weil sie Dinge wie Trumps Präsidentschaft, kaputte Wahlautomaten oder Nobelpreisträger vorhergesagt haben. Chris Hannah besitzt die gleiche Fähigkeit. 1993 etwa stellt er im Song “Haillie Sellasse, Up Your Ass” die Prognose auf, eines Tages werde der Gazastreifen zum Parkplatz für amerikanische Touristen umfunktioniert. Wer also denkt, Trumps Wahnvorstellungen von der “Gaza-Riviera” seien ein Resultat des Wahnsinns im Jahr 2025: Das ist für Chis Hannah bereits 1993 angelegt.
Trotz aller Kritik: Propagandhi sind nun Bestandteil des Punkrock-Wanderzirkus, der Mitte der 90er durch die Staaten tingelt. Richtig wohl in der Haut fühlen sie sich nicht. Weder bei Gigs und Festivals, die von Klamotten-, Skateboard- oder Surf-Marken oder anderen Konzernen gesponsert werden, noch bei räudigen Punkshows, bei denen es vorkommt, dass es Nazi-Skinheads auf die linken und aktivistischen Propagandhi absehen. Auch alle Besucher der Shows sind nicht glücklich mit dieser Band, weil sie auf der Bühne ihre Songs mit langen, politischen, szenekritischen Ansagen umrahmt. Immer häufiger geht es um die grassierende Homophobie und Misogynie in der Szene. Um die Kapitalisierung von Rockmusik, die nicht deshalb weniger zu verdammen ist, weil auf den Hoodies Namen von Punkrockbands stehen. Um die Bro-Culture oder die “Jocks”, die sehr viel Sport treiben, sehr viel darüber reden, sensationelle Sex-Erlebnisse zu haben, bei allen anderen Themen aber schnell intellektuell überfordert sind.
Feige und angepasst
Die Band reagiert auf ihre Stellung in der Szene auf propagandhi-typische Weise. Sie nennt ihr zweites Album 1996 “Less Talk, More Rock”, zitiert damit das, was die “Bros” und “Jocks” der Band zurufen, wenn Chris Hannah auf der Bühne über die Folgen des Kolonialismus spricht. Das Album bietet schon Rock. Aber für alle Ignoranten rockt die Platte zu einem verdammt hohen Preis. Kaum eine Punkplatte bietet in dieser Dichte so viele Inhalte, höchstens noch das Album, das Propagandhi sich bei den Aufnahmen als Vorbild genommen haben: “Bedtime For Democracy”, die letzte LP der Dead Kennedys vor der Auflösung 1986 – eine überbordende Platte mit dem Song “Chickenshit Conformist” als Highlight, bei dem Jello Biafra in den ersten Zeilen feststellt, dass Punk nicht tot sei, es aber verdient hätte. Weil er nur noch ein vergilbter Comic sei, ein engstirniger, selbstzentrierter Gesellschaftsclub. Später im Song zitiert Biafra noch einen Dialog unter Punks: “Wer hat gestern gespielt?” – “Keine Ahnung, hab’ ich vergessen, aber Stagediving hat viel Spaß gemacht.”
Eine sinnentleerte, feige und angepasste Szene: Propagandhi fühlen sich von Jello Biafra verstanden. Im Titelstück “Less Talk, More Rock” ermuntert Chris Hannah die Dümmsten, hart zu diesem Song abzufeiern. Um später von zwei vermeintlichen homosexuellen Erlebnissen zu erzählen. Mit der Schlussfolgerung, dass jeder, der diesen Song feiert, damit diese Sexualität feiert. Ausgetrickst! “Gay-positive” sei das Album, steht auf dem Cover. Das ist 1996 noch eine Provokation. Propagandhi verstehen sich auf “Less Talk, More Rock” meisterhaft darin, Verwirrung zu stiften, falsche Fährten zu legen, den Ignoranten in der eigenen Bubble vor den Kopf zu schlagen.
“Less Talk, More Rock” gehört auf den Olymp der politischen Punkplatten. Damals führt das Album die Band jedoch in mehrere Sackgassen. Die erste betrifft die Verkäufe: Weil die Band keinen Barcode auf dem Cover haben will, stellen einige Händler die Platte gar nicht erst in die Läden. Die LP verkauft sich daher nur halb so gut wie das Debüt, was sicher auch etwas mit dem “Gay-positive”-Branding zu tun hat: Hannah selbst sagt, er hätte es sich in den 80ern nicht getraut, mit einer Platte mit einer solchen Kennzeichnung aus dem Laden zu kommen. Auf eine zweite Sackgasse verweist ein besonderer Song der Platte, “Anchorless”. Ein Ausnahmestück, da weniger wütend und hektisch, dafür melancholisch und poetisch, mit einem Verweis auf die Romane des englischen Schriftstellers P.G. Wodehouse. Bassist John K. Samson schreibt und singt das Lied. Kurz nach der Aufnahme von “Less Talk, More Rock” steigt er aus und gründet mit den Weakerthans eine neue Band, die Punk mit Indierock, Singer/Songwriter und Emo zusammenbringt.
Damit sind Propagandhi wieder einmal nur noch zu zweit. Aber Bassisten zu finden – diese Disziplin beherrschen sie mittlerweile. Sehr rasch kommt Todd Kowalski ins Spiel, zuvor Gitarrist der Winnipeg-Bands I Spy und Swallowing Shit. Am Bass noch komplett unerfahren, aber das macht nichts, denn die Band hat ohnehin vor, eine Pause einzulegen. Auch, damit Hannah und Samolesky ihr eigenes Label gründen können: G7 Welcoming Committee. Eher ein Akt des Widerstands als eine Firma, ein Sprachrohr für radikale linke Bands und Denker. Mit dem Anspruch, eine Organisation zu finden, die nicht in die Falle tappt, im Widerspruch zu den eigenen Zielen zu stehen, indem sie, ob bewusst oder unbewusst, Machtstrukturen und Hierarchien aus der gewinnorientierten Unternehmenswelt nachahmt. Das neue Jahrtausend beginnt, und Propagandhi sind bereit für eine Zukunft.
Zweiter Akt: Back To The Motor League
Die Manitoba Motor League ist eine Art ADAC in der kanadischen Provinz, ein Lobby-Club für Autofahrer, mit diversen Service-Leistungen. Wer in Winnipeg lebt und dort arbeitet, hat einen dieser 9-to-5-Jobs, die nichts anderes versprechen, als dass man am Ende des Monats sein Gehalt bekommt, krankenversichert ist und es zu Weihnachten einen kleinen Bonus gibt. Niemand bei der Motor League macht sich Illusionen.
2001 sind Propagandhi nach ihrer Pause wieder am Start, fünf Jahre nach “Less Talk, More Rock” erscheint endlich das dritte Album. “Back To The Motor League” heißt der Hit der Platte, für nicht wenige Menschen einer besten Punk-Songs überhaupt. Hannah besingt sarkastisch die Party- und Alles-soll-so-bleiben-wie-es-ist-Fraktion der Community, beschimpft Anarchie-Darsteller, Sneaker-Werbeträger, Macho-Einheitsbrei und College-Rock-Bands, die sich als gequälte Künstlerseelen verkaufen. Zwischendrin droppt er zwei Zitate aus Songs der Dead Kennedys, dazu mit “Back To The Motor League” die Ankündigung, dass man ja auch einen Job bei diesem Club annehmen könnte, da geht’s nicht so scheinheilig zu. Am Ende bleibt noch Zeit für die trostlose Feststellung, dass heute ein guter Tag zum Sterben sei: “Today is a good day to die”. Guter Gott, ist dieser Text übellaunig.
Aber: Wie wahnsinnig feiert die Musik die Kraft des Gitarrenriffs. Die Melodycore-Band Propagandhi gibt es nicht mehr. 15 Jahre nach ihrer Gründung wird sie mit ihrem Sound dem gerecht, was Hannah und Samolesky 1993 auf den Zettel kritzeln, als sie einen Bassisten suchen. Ab jetzt spielen Propagandhi Progressive-Thrash. Die gewaltige Dichte der Worte bleibt, hinzu kommen viele Parts pro Song. Plus: Druck, Druck, Druck. Und: Melodien. Das ambitionierte Konzept geht auf, weil die Band auf “Today’s Empires, Tomorrow’s Ashes” einen neuen, kompakten Klang findet. Ab jetzt klingen die Aufnahmen von Propagandhi, als befindet man sich genau in der Mitte des Proberaums – und als spielt einen die Band an die Wand.
Geschärft wird auch das Profil, bei den Coverartworks auf politische Kunst zurückzugreifen. Für “Today’s Empires, Tomorrow’s Ashes” nutzt die Band das Gemälde “The Unfinished Flag” Of The United States des Dichters, Künstlers und Aktivisten Lawrence Ferlinghetti aus San Francisco. Das Bild zeigt die Welt in den amerikanischen Stripes, kritisiert damit den US-Imperialismus. Auf dem Cover des folgenden Albums “Potemkin City Limits” (2005) zeigt die Band einen Ausschnitt aus einem Gemälde des Anarchisten, Malers und Cartoonisten Eric Drooker: “Children’s Games” zeigt spielende und malende Kinder auf einer Straße, bedroht wird das Szenario von in Kreide gemalten Kampfjets.
Der Titel des Albums nimmt diese Idee auf: Die berühmten Potemkin’schen Dörfer stehen für schöne Fassaden, hinter denen nichts steckt – mehr Schein als Sein. In den Texten auf “Potemkin City Limits” verstärkt Chris Hannah seinen Ansatz, weniger auf die eigene Szene zu schauen, sondern das große Ganze in den Blick zu nehmen. Erneut reibt man sich verwundert die Augen, wenn er 20 Jahre, bevor Trump es getan hat, in “A Speculative Fiction” das Szenario eines nahenden Kriegs zwischen den USA und Kanada entwirft, mit einem neuen eisernen Vorhang entlang des 49. Breitengrads, einer Reisewarnung für die USA und der Ausweisung aller Diplomaten. Aber, heißt es am Ende des Songs, sei dies nur eine spekulative Zukunft, kein Grund zur Sorge. Na dann.
Ab jetzt zu viert
2006 trifft die Band eine wichtige Entscheidung: Aus dem Trio soll ein Quartett werden. Der zweite Gitarrist erhält die Aufgabe, Hannahs immer komplexer werdende Gitarren-Arrangements auf der Bühne mitaufzuführen, damit kein Energieabfall zwischen Studioaufnahmen und Liveshows entsteht. Die Wahl fällt auf David Guillas, auch er ein Mitglied der Winnipeg-Szene. Das Propagandhi-Album “Supporting Caste” (2009) ist die erste Platte zu viert – und die erste, die international nicht mehr bei Fat Wreck erscheint. Fans erhalten damals die Möglichkeit, vorab Songs online runterzuladen, wenn sie ein wenig Geld für NGOs spenden. Das Cover zeigt das Gemälde “The Triumph Of Mischief” des indigenen Künstlers Kent Monkman, eine vielschichtige Kritik der Kolonialisierung, indem das Bild eine Parade sexueller, kultureller, sozialer und kriegerischer Übergriffe zeigt. Mit “Tertium Non Datur” singt Chris Hannah einen Song in lateinischer Sprache. Es geht um das so genannte Falsche Dilemma, ein rhetorischer Trick, der annimmt, es gebe auch bei komplexen Themen nur genau zwei Möglichkeiten. Und der dabei absichtlich ignoriert, dass es viele weitere Möglichkeiten dazwischen gibt. Genutzt wird dieses Falsche Dilemma häufig in der Politik. Zum Beispiel, um bei Fragen wie der zur Migration Schwarz-Weiß-Bilder ohne Graubereich zu erzeugen, nach dem Motto: “Wer die Grenzen nicht dicht machen will, nimmt in Kauf, dass Menschen bei Terroranschlägen sterben.” Hannah thematisiert diese populistische Methode bereits 2009. Noch so ein “Seher”-Moment.
So verwirrend und aufreibend die Propagandhi-Story bis dahin ist: Nun kehrt eine Art von Ruhe ein. Auf den folgenden zwei Alben – “Failed States” (2012) und “Victory Lap” (2017) – erhöht die Band die musikalische Komplexität, mit den kanadischen Prog-Göttern Rush mogelt sich eine weitere Band in den unmittelbaren Einflussbereich von Propagandhi. In seinen Texten richtet sich Hannah nun verstärkt auch auf sich selbst, beschreibt “The Days You Hate Yourself”, führt das Drama in “When All Your Fears Collide” von der gesellschaftspolitischen in die private Ebene. Der Eröffnungssong von “Failed States” trägt den Titel “Note To Self” und ist als Aufruf zu verstehen, sich auf keinen Fall der Genügsamkeit und Gemütlichkeit hinzugeben. “The bands. The sports. The booze” – das würde ja reichen. Aber was, wenn die Polizei und die Gerichte sich weigern, die Sünden der Mächtigen zu bestrafen? Hannahs Antwort ist eindeutig: “rise” – aufstehen! 2015 verlässt David Guillas die Band.
Mit einem Aufruf im Internet suchen Propagandhi Ersatz, finden in Tampa, Florida Sulynn Hago – und damit eine Traumbesetzung. Dass das selbstgegründete Label G7 Welcoming Committee seine Arbeit einstellt und die Platten nun über Epitaph erscheinen, zeigt der Band, dass ihr hoher Anspruch dann und wann an seine Grenzen gerät. Hinzu kommt die Frage: Was haben Propagandhi eigentlich bewirkt? Es ist das Jahr 2025, die Menschen tun weiterhin schlimme Dinge. Die Welt geht vor die Hunde. Die Klimakatastrophe ist da. Rechtspopulisten gewinnen Wahlen. Vielfalt wird abgewickelt. Kriege rücken näher. Und die Sex Pistols spielen im Royal Albert, nicht der ranzigen Hotelbar in Winnipeg, sondern der viktorianischen Halle in London. Und Propagandhi? Geben nicht auf. Weil Aufgeben sinnlos wäre. Starten eine neue Runde. Und man höre und staune: Sie kommen “At Peace” – in Frieden.
Dritter Akt: At Peace
Chris, fast 40 Jahre nach der Gründung von Propagandhi haben nach der Ankündigung eures neuen Albums sehr viele Leute gepostet: “Genau diese Band brauche ich jetzt!” Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?
Chris Hannah: Wenn das Ergebnis unserer Arbeit den Menschen hilft, mit den Problemen der Welt zurechtzukommen, dann ist das gut. Wenn die Musik andererseits nur wie ein Schnuller wirkt, der dafür sorgt, dass sich die Menschen besser fühlen, dann aber nichts weiter passiert, dann wäre es nicht sehr hilfreich. Ich weiß es also nicht. Was ich weiß, ist, dass wir immer die gleiche Art von Platten machen, unabhängig davon, welche Regierung gerade wo an der Macht ist. Ich bin nicht begeistert von der Idee, dass schlimme Formen des Imperiums einen fruchtbareren Boden für gute Kunst schaffen. Ich glaube auch nicht an diese Idee, und wenn sie doch wahr sein sollte, dann fände ich sie dumm.
Warum?
Weil sich die Gesellschaft und die sie treibende Kraft, der Kapitalismus, nicht ändern werden. Sie sind immer gleich schlecht. Dieses Schlechte ist nur zu bestimmten Zeiten offensichtlicher zu erkennen.
Wobei sich euer Ansatz geändert hat: In der ersten Phase wolltet ihr die Szene, für die ihr spielt, aufklären.
Vielleicht, ja. Es ist die typische Geschichte von jungen, großmäuligen, schrillen Menschen, die dir ins Gesicht springen, um dich und damit die Welt zu verändern.
Wenn diese Veränderung nicht eintritt, was folgt darauf, Resignation?
Nein, ich würde nicht sagen, dass wir irgendwann resigniert haben oder heute resigniert sind. Ich denke aber, dass uns die Schwere der Situation heute intensiver und unkontrollierbarer vorkommt, als es früher der Fall war. Wir tragen heute mehr Gewicht mit uns herum.

»In gewisser Weise macht ein gutes Artwork die Rezeption eines Albums weniger passiv. Kunst aktiviert. Man hört zu, schaut, denkt nach.«
Chris Hannah
Gab es da einen bestimmten Wendepunkt?
Einer ist 9/11. Kurz vorher, im Jahr 2000 und bis zum Sommer 2001, hatte ich das Gefühl, das eine Bewegung entstanden war, die sich in verschiedenen Teilen der Welt erfolgreich für die Idee einsetzte, die globale soziale Ordnung zu ändern, den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit aufzunehmen. Ich erlebte ein echtes Gefühl einer Möglichkeit. Sehr viele Menschen waren unterwegs. Wir waren damals in Quebec City, wo ein Gipfel stattfand. Es gab gigantische Massendemonstrationen auf den Straßen, alle Bürger der Stadt sprachen sich für das Anliegen der Protestierenden aus, die Leute standen an den offenen Fenstern und riefen uns zu: “Ja, lasst uns das ändern!” Es herrschte Aufbruchstimmung, endlich! Dann kam der 11. September – und es war mit einem Schlag alles vorbei. Es gab plötzlich keinen Raum mehr für abweichende Meinungen, es hieß nur noch: “Hurra, hurra! Amerika, Nordamerika, der Westen!”. Besonders entmutigend war die Erkenntnis, dass sich auch die Kollegen aus der Musikszene nicht davor scheuten, bei diesem Chor mitzumachen. Auch sie scharten sich um die globalen imperialistischen Werte Amerikas, machten irgendeinen patriotischen Mist. Das zu beobachten, war der schwierigste Teil. Dieser Wendepunkt hat seine Spuren in unserer Musik hinterlassen, “Potemkin City Limits” war 2005 unsere wohl dunkelste und verzweifeltste Platte.
Bei diesen Rückschlägen, bei dieser Verzweiflung: Warum lohnt es sich, weiterzumachen?
Ich habe vor wenigen Tagen ein Interview mit Norman Finkelstein gelesen…
…ein streitbarer jüdischer US-Politikwissenschaftler, dessen Eltern das KZ überlebten, seit vielen Jahren Kritiker der Politik Israels.
Er ist jemand, der sich seit 30, 40 Jahren mit Themen rund um Gaza beschäftigt. Vor ein paar Jahren kam er an einen Punkt, an dem er aufgeben wollte. Er dachte, es sei sinnlos geworden. Auf die Frage, warum er doch weitermache, sagte er: “Man kämpft nicht, weil man garantiert gewinnt. Man kämpft auch angesichts einer sicheren Niederlage, denn nur das gibt dem Leben einen Sinn.” Als ich das las, fühlte ich mich zumindest ein wenig ermutigt. Nach dem Motto: “Okay, ja, das ist es, was wir tun. Wir machen einfach weiter, denn was ist die Alternative?” Es gibt keine Alternative, die man für sich selbst rechtfertigen könnte. Man muss in gewisser Weise kämpfend untergehen.
Fühlt ihr euch mit dieser Haltung in der Szene allein?
Wir haben uns schon immer allein gefühlt. Schon ganz am Anfang, als wir mit der Skatepunk-Szene von Südkalifornien in einen Topf geworfen wurden. Weil wir bei einem Label waren, das mit dieser Art von Skatepunk gute Geschäfte machte. Wir waren immer der Ansicht, dass wir uns von Anfang an nicht richtig verstanden gefühlt haben. Wir haben schon versucht, uns mit dieser Szene zu identifizieren. Aber es gelang uns nicht. Die anderen Bands hatten einfach andere Gründe, warum es sich lohnt, bei diesem Zirkus dabei zu sein. Hinzu kam die geografische Distanz: Wir leben in Winnipeg, und von hier aus war es kaum möglich, eine Art Beziehung zu dieser Szene in Südkalifornien aufrechtzuerhalten. Im Nachhinein war diese Isolation aber das Beste, was uns passieren konnte. Als Band allein zu agieren, kann sich deprimierend anfühlen. Auf der anderen Seite hat uns dieser Umstand ehrlich gehalten. Wir waren nie hinter den Dingen her, denen die Szene nachgejagt ist. Wir sind auf Kurs geblieben. Im Guten wie im Schlechten.
Im neuen Song “At Peace” zitierst du aus dem Lied “Lovers In Dangerous Times” von Bruce Cockburn, einem der großen Singer/Songwriter Kanadas: “Nichts, was sich zu erreichen lohnt, erreicht man ohne eine Art von Kampf. Man muss in Dunkelheit treten, bis aus ihr das Tageslicht herausblutet.” Ist das die Form von Hoffnung, die bei Propagandhi möglich ist?
Ja. Der Song “At Peace” ist eine Erkundung der Dunkelheit auf drei Ebenen. Die erste Strophe handelt von der politischen Dunkelheit um uns herum. Die zweite bezieht sich auf die Dunkelheit, die sich ergibt, wenn man nicht dankbar für sein Leben ist. Die dritte schließlich bezieht sich auf die dunklen Momente des Privatlebens. Ich erlebe gerade eine solche düstere Phase. Wir haben in der vergangenen Woche einen guten Freund beerdigen müssen, mir geht es nicht gut damit. Am Ende des Songs “At Peace” wollte ich einen “Pulp Fiction”-Moment erzeugen, in dem diese Ebenen in einen Kern zusammenfließen. Und dieser ergibt sich aus den Zeilen von Bruce Cockburn, die mich sehr angesprochen haben.
Der Song von Cockburn stammt von 1984 und ist in Kanada fast eine heimliche Nationalhymne, oder?
Schon ein bisschen, ja. Als unser Song herauskam, gab es die lustige Rückmeldung von ein paar Leuten, wie cool es sei, dass ausgerechnet wir einen Song von den Barenaked Ladies zitiert hätten, einer in Kanada sehr erfolgreichen, ziemlich albernen Band. Die hatten den Song nämlich 1991 gecovert und einen Hit damit.
Gibt es eine Band, deren Entwicklung für euch vorbildhaft ist?
Judas Priest. Die starteten in den 70ern, hatten ihre große Zeit in den 80ern mit legendären Platten wie “Screaming For Vengeance” oder “Defenders Of The Faith”, aber die Alben, die sie zuletzt rausgebracht haben, “Firepower” und “Invincible Shield”, zählen meiner Meinung nach zu ihren absolut besten. Ich bin nicht in der Lage, auf dem Niveau von Judas Priest zu spielen, aber wir versuchen, ihren Geist einzufangen.
Was für ein Geist ist das?
Man kann es schwer in Worte fassen. (überlegt) Ich hatte bildlich das Plattencover von “Firepower” vor Augen gehabt, als ich die Texte und Riffs für “At Peace” schrieb. Rechts von mir schwebte “Firepower” von Judas Priest, links “If You Swear You’ll Catch No Fish” von SNFU. Vor allem die Art, wie deren Sänger Chi Pig seine Texte schrieb, war für mich sehr wichtig. Er befasste sich mit dunklen, schweren Themen, aber die Texte sind dennoch verdammt lustig. Diese beiden Alben waren bei der Entstehung von “At Peace” wie Prüfsteine.
Wie auf allen euren Alben ist das Cover von “At Peace” von großer Bedeutung. Es zeigt das Gemälde “Custer’s Last Stand” von Edgar S. Paxson aus dem Jahr 1899, eine detailgenau illustrierte Szenerie der Schlacht am Little Bighorn, bei der George Armstrong Custer fiel – damals als Held betrachtet, rückblickend ein brutaler Kriegstreiber gegen die indigene Bevölkerung. Man betrachtet das Gemetzel – und liest den Plattentitel: “At Peace”.
Es gibt viele Möglichkeiten, das Zusammenspiel aus Cover und Titel zu lesen. Es kann Sarkasmus sein. Es könnte aber auch sein, dass es erst eine solche Schlacht geben muss, bevor endlich Frieden einkehrt. Ich weiß es selbst nicht, bin ratlos. Das Bild aber ist großartig. Verrückt. Soziopathisch. Patriotisch. Es gibt ein anderes Gemälde von dieser Schlacht, das Ende des 19. Jahrhunderts von der Brauerei Anheuser-Busch in Auftrag gegeben wurde. Es sollte ein Bild sein, das in jedem Saloon in Amerika hängt, als Propagandastück für die westliche Expansion, als Dokumentation des Sieges gegen die “Wilden”, die versucht haben, uns, die Guten aus dem Westen, zu töten. Absurd.
Warum sind Cover-Artworks für euch so wichtig?
Das Cover ist eine zusätzliche Gelegenheit zur Kommunikation, die wir wahrnehmen wollen. Andere Bands tun das nicht, was uns immer verwundert. In der Punk-Szene in Südkalifornien waren Plattencover absolut irrelevant, entsprechen sahen sie auch aus. Wir haben nie verstanden, dass die anderen Bands diese Ebene nicht genutzt haben. Unser Bezug zu Covern stammt aus der Zeit, in der wir aufgewachsen sind. In der Thrash-Metal-Szene der 80er gab es viele fantastische Plattencover. Wir saßen als Kids da und starrten das Cover an, während wir die Platten hörten. “Pleasure To Kill” von Kreator zum Beispiel. Oder “Dimension Hatröss” von Voivod. In gewisser Weise macht ein gutes Artwork die Rezeption eines Albums weniger passiv. Kunst aktiviert. Man hört zu, schaut, denkt nach. Und, hey, nachdenken ist immer gut!