Es ist ja nicht so, dass in den USA vor Trump alles in Ordnung gewesen wäre. Ende 2004 etwa hat Conor Oberst überhaupt keine Lust, eine Reise nach Europa anzutreten, um dort mit Journalisten zu sprechen. Das liegt nicht an den gleich zwei neuen Alben, die beide am 25. Januar 2005 erscheinen werden: “I’m Wide Awake, It’s Morning” und “Digital Ash In A Digital Urn”. Oder auch: die gutherzige Dr.-Jekyll-Platte und das sperrig-subversive Mr.-Hyde-Gegenstück. Das Problem von Oberst ist das Ergebnis der Präsidentschaftswahl im November 2004. George W. Bush schlägt John Kerry, den Kandidaten der Demokraten.
Anruf vom Boss
Nicht ahnend, was der US-Politik in den folgenden Jahren bevorstehen wird, hält die linksliberale Kunstszene das Ergebnis für eine große Katastrophe. Oberst fürchtet sich zurecht davor, sich auf seiner Pressreise durch Europa immer wieder der Frage stellen zu müssen, was zum Teufel denn in den USA los sei. Seinen Gedanken formuliert er einige Jahre später im GQ-Magazin: “Ich dachte: ‘Alle hassen Amerika und ich muss mein Land erklären – das wird ein Albtraum.'” Als Oberst in dieser miesen Stimmung im Flughafen sitzt und auf den Abflug nach Europa wartet, erhält er einen Anruf. Es meldet sich Bruce Springsteen, um ihm zu sagen: “Geh da rüber und sag ihnen, dass die Hälfte von uns nicht so denkt!”
Ein Pep Talk vom Boss! Oberst und er haben sich im Rahmen der “Vote for Change”-Tour kennengelernt, einer für den Kandidaten Kerry auf die Beine gestellte Tour durch die Swing States der USA, um dafür zu werben, die Demokraten zu wählen. Neben Springsteen und Bright Eyes sind R.E.M., Neil Young und Pearl Jam dabei. Was sich bei diesen Konzerten und später am Gate zeigt: Kurz vor der Veröffentlichung der zwei Alben an einem Tag ist Oberst in der obersten Liga der US-Singer/Songwriter angekommen.
20 Jahre zuvor ist diese Stellung nicht abzusehen. 1995 nimmt Oberst in Omaha, Nebraska erste Lieder unter dem Projektnamen Bright Eyes auf. Mit Texten über die Sehnsucht, einen letzten rettenden Strohhalm ergreifen zu können. Oder über die explosive Mischung aus elendiger Langeweile und großer Hoffnung an jedem verdammten Wochenende. Im frühen Lied “A Few Minutes On Friday” beschreibt der Protagonist, wie er in der spröden Kälte von Nebraska auf einen geliebten Menschen wartet, der dann aber sein Wochenende lieber mit Drinks an der sonnigen Westküste verbringt. Musikalisch steht der Song auf sehr wackeligen Beinen und doch: Schon hier ist die Fähigkeit eines Songwriters angelegt, der 20 Jahre später an Flughafen von Springsteen angerufen wird – man nimmt diesem Typen seine Gefühle ab. Die Verzweiflung. Aber auch das Glück. Und genau um dieses Glück geht es auf “I’m Wide Awake, It’s Morning”. Es ist das erfolgreichste Bright-Eyes-Album, vorgestoßen bis auf Platz 10 der Billboard-Charts, in den USA und Großbritannien mit Gold zertifiziert. Und für viele ist es auch das beste Bright-Eyes-Album, auf jeden Fall Teil der Heiligen Trilogie zusammen mit “Fevers And Mirrors” (2000) und “Lifted, Or The Story Is In The Soil, Keep Your Ear To The Ground” (2002).
Die Erfolge der beiden letztgenannten Alben führen Bright Eyes auf eine neue Ebene. Oberst reagiert darauf, indem er 2003 von Omaha nach New York zieht, ins East Village, Ecke 10th Street/Avenue B, direkt am Tompkins Square Park, einem romanischen Ort, später besungen in einem Song von Mumford & Sons. Es ist für Oberst die erste Lebensstation außerhalb seiner Heimat Nebraska. Alles an Manhattan wirkt besonders und aufregend. In Omaha kennt er fast jeden, und jeder kennt ihn. In New York ist er einer der unzähligen Neuankömmlinge, die versuchen, diese gigantische Stadt zu begreifen. Das funktioniert über Kunst und Musik. Aber auch über Politik: Das Umfeld im East Village bringt ihn dazu, neu über dieses Thema nachzudenken. Über den Krieg im Irak. Darüber, was die Regierung unter Bush Jr. im Kampf gegen den Terror anrichtet. Plötzlich findet sich Oberst, der Einzelgänger aus der Provinz, auf einer Demo wieder, als Teil einer Bewegung. Für ihn ist das eine wertvolle Erfahrung, sie lässt ihn kreativ werden. Im Winter 2003/04 schreibt er in seinem Appartement in New York Dutzende neue Songs. Geprägt von der kalten, klaren Luft. Das Besondere: Sie drehen sich zwar auch weiterhin um ihn – kommen aber größtenteils ohne das Selbstmitleid von früher aus.
Sitzkreis in Nebraska
Aufnehmen will Oberst die neue Musik nicht in New York, sondern im vertrauten Umfeld in Nebraska, dort betreibt Mike Mogis sein Studio Presto!. Mogis ist schon in den frühen Tagen von Bright Eyes der wichtigste Partner von Oberst, darüber hinaus ein Fixpunkt der kreativen Szene rund um das Label Saddle Creek. Im Grunde ist Mogis als Arrangeur, Musiker und Produzent so eng mit Bright Eyes verbunden, dass er schon immer ein Mitglied ist. Doch noch versteht Oberst Bright Eyes weniger als eine Band denn als ein offenes Projekt, mit ihm als Zentrum.
Oberst und Mogis verfolgen die Idee, die winterlichen New-York-Songs als pure Folk-Stücke im Stil der 70er aufzunehmen. Das ist so ziemlich das Gegenteil des Sounds von “Lifted…”, einem Album mit Pauken und Trompeten, Flöten und Chören. Die Aufnahme der Stücke von “I’m Wide Awake, It’s Morning” dauert gerade mal eine Woche, viele Songs werden in einer Art Sitzkreis gespielt, mit dabei ist Obersts neuer New Yorker Kumpel Jesse Harris, der zum Gesang des Songwriters die akustische Gitarre spielt. Was Oberst bei den Sessions wichtig ist: dass jeder Song als Ganzes seinen Weg auf die Platte findet, ohne Schnipseleien. Das ist besonders beim Auftaktstück der Platte eine große Herausforderung. “At The Bottom Of Everything” beginnt mit einem Monolog, in dem Oberst von einer Begebenheit im Flugzeug erzählt: Eine Frau ist auf dem Weg zu ihrem Verlobten, sitzt im Flugzeug neben einem ignoranten Mann, zu dem sie keine Verbindung aufnehmen kann. Bald gerät der Flieger in fatale Turbulenzen. Der Pilot entschuldigt sich und ruft nach dem lieben Gott, die Frau fragt den Mann in ihrer Panik, wohin er denn gewollt habe – und der antwortet, das ganze Flugzeug sei unterwegs zu einer Geburtstagsparty, zu ihrer Geburtstagsparty, weil: “We love you very, very, very, very, very, very, very much!”
Inspiriert ist diese Story zwischen Raymond Carver und David Lynch von Obersts Flug von New York nach Nebraska, auf dem es ebenfalls Turbulenzen gibt. Wenn auch mit gutem Ausgang. Worauf er bei der Aufnahme von “At The Bottom Of Everything” großen Wert legt: Der gesprochene Monolog muss nahtlos in den folgenden Song übergehen, es muss sich um ein- und denselben Take handeln. Das führt dazu, dass die Musiker selbst eine optimale Songperformance wiederholen müssen, wenn der Songwriter mit dem Flow der Wörter des Monologs nicht glücklich ist. Diese Akribie nervt jedoch niemanden, denn alle sind sich einig: Dieser Weg ist wichtig, um dem Album das gewisse Etwas zu geben.
Aus der kleinen Kerngruppe, die im Kreis zusammensitzt, entwickelt sich im Laufe der Produktion ein größerer Auflauf an Leuten. “One big kind of gang”, wie Oberst sich einige Jahre später erinnert. Als Sängerin ist aus der Szene von Omaha Maria Taylor von Azure Ray dabei, das Schlagzeug spielt Jason Boesel von Rilo Kiley, die Keyboards bedient Nick White von Tilly & The Wall – alles Menschen, die seit Jahren miteinander befreundet sind, die sich seit einer gefühlten Ewigkeit kennen. Mit dabei ist auch Nate Walcott, Trompeter bei den Shows und auch im Studio. Jemand, der glaubt, dafür verantwortlich zu sein, hier und da mit seinem Instrument für das “icing on the cake” zu sorgen, die Glasur auf der Torte. Walcott ist daher überrascht, als Oberst ihm eröffnet, Bright Eyes seien ab jetzt zu dritt: “Mike Mogis, du und ich.” Bestand hat diese Triobesetzung bis heute. In diesen produktiven und entspannten Tagen in Nebraska legt Oberst das Fundament von Bright Eyes als eine Band, die ihn bald auch durch düstere Tage tragen wird. Im Grunde betreibt Oberst hier also seelsorgerische und künstlerische Vorsorge.
Wie neu geboren
Auf die Beteiligung von zwei Stimmen ist Oberst besonders stolz. In Louisville, Kentucky nimmt Jim James Gesang auf, der Sänger von My Morning Jacket, einer Band, die seit Ende der 90er mit ihrer Mischung aus Psychedelic Rock und Americana eine ähnliche Karriere hingelegt hat, wie sie Bright Eyes bevorsteht. Die Bands spielen gemeinsam Konzerte, James und Oberst freunden sich an und beschließen am Rande der Sessions zu “I’m Wide Awake, It’s Morning”, in naher Zukunft etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, die Supergroup Monsters Of Folk, die 2009 ein Album veröffentlicht. Im Frühling 2004 besteigen Oberst, Mogis und Taylor ein Flugzeug nach Nashville, um im Herz der Country-Szene mit einer der größten Stimmen des Genres zu arbeiten: Emmylou Harris. Sie singt auf drei Liedern; die Aufnahmen finden in einem Studio “größer als eine Kirche” statt, wie Conor Oberst sich später erinnert. Er und die anderen aus Omaha kommen sich eher wie Fans und Touristen vor, denn als Kollegen dieser Western-Ikone. “Ich hatte ihre Stimme zwar oft auf Aufnahmen gehört, aber sie nicht nur über ein Mikrofon zu hören, sondern sie buchstäblich neben mir zu haben, war ein sehr bewegender Moment”, sagt Oberst.
Damit, dass sie auf “I’m Wide Awake, It’s Morning” zu hören ist, endet eine Linie. Da ist dieser geniale Songwriter aus Nebraska, der 1995 noch zerschossene Lieder auf Kassetten aufnimmt – um zehn Jahre später in einem gigantischen Studio mit Harris zu singen. Man darf sich Oberst in diesen Tagen als einen glücklichen Mann vorstellen. Nachzuhören ist das im bekanntesten Lied des Albums, “First Day Of My Life”, einem simplen, wirkungsvollen Folk-Song. Mit der banalen Botschaft: Dich zu kennen, bedeutet, sich neu geboren zu führen. Die Person aus “A Few Minutes On Friday” – sie ist also doch noch gekommen.