Emma, dein Album “Engine Of Hell” zeugte zuletzt von großen Veränderungen – auch in musikalischer Hinsicht, mit der Rückkehr zum Klavier, dem Instrument deiner Kindheit. Erzählt auch “The Bella Vista” von diesem Wandel?
Emma Ruth Rundle: Ich habe mich auf “Engine Of Hell” von vielem befreit und dabei auch viel von mir offenbart. In gewisser Weise geht “The Bella Vista” noch einen Schritt weiter, hier fehlt die Musik vollständig und der Fokus liegt ganz auf den Texten. Das hat einen praktischen Hintergrund: Ich kann auf Tour einfach nicht so gut Songs schreiben, und ich war zu der Zeit viel unterwegs. Allerdings gibt es ergänzend zum Buch eine LP mit Tondichtungen, einer Art Ambient-Collage aus kurzen Klavierstücken.
Bob Dylan hat 2016 den Literaturnobelpreis erhalten: eine Erinnerung daran, dass Songs Gedichte sein können und umgekehrt. Was hat dich dazu bewogen, dich mit “The Bella Vista” ganz der Lyrik zu verschreiben?
Ich habe Freunde und Kolleginnen, die ihre Gedanken notieren und sie als Grundlage für ihre Songs verwenden. Ich war darin nie gut, weil ich in der Regel zuerst die Musik schreibe und die Songtexte daran anpasse. Aber dieses Mal wollte ich dem Wort den Vorrang geben. Jetzt wo ich älter werde und mich dazu entschieden habe, keinen Alkohol mehr zu trinken, werden die Texte für mich immer wichtiger. Ich wollte bewusster gestalten, was ich mit meinen Texten ausdrücke, also habe ich viel gelesen, etwa Kaveh Akbar, Louise Glück, Jorge Luis Borges.
Du bist bekannt dafür, dich stetig weiterzubilden und neue Kunstformen auszuprobieren. Gibt es neben der Literatur noch weitere Disziplinen, denen du dich in letzter Zeit verschrieben hast?
Ich habe angefangen, mich mit Operngesang und speziell dem Belcanto zu beschäftigen. Ein Freund von mir hat einmal gesagt, dass Vielseitigkeit im Werk von Künstler:innen ein Zeichen von Schwäche ist, da man am Ende nichts richtig beherrscht. Aber Lernen ist großartig, und in der Kunst ist es wichtig, kreativ zu lernen. Das lässt sich ganz gut damit vergleichen, wie wir unser Essen zubereiten. Du kochst etwas fürs Abendessen, fürs Frühstück und Mittagessen, und nach einer Woche merkst du, dass du bald wieder neue Zutaten besorgen musst. Manches davon kannst du vielleicht selbst ernten, anderes einfach im Laden um die Ecke kaufen. Das ein oder andere bekommt man vielleicht vom Nachbarn. Erst wenn man sieht, was es gibt, weiß man auch, was man daraus machen kann.
Deine Gedichte werden von Schwarz-Weiß-Fotografien begleitet. Ist auch das eine neue Zutat in deinem Vorratsschrank?
Ich habe schon in der High School angefangen, mich mit Fotografie zu beschäftigen. Als Fotografin habe ich mich zwar nie betrachtet, aber ich nehme meine Kamera gern überallhin mit. Das ist natürlich alles furchtbar prätentiös, aber es hilft dabei, achtsam zu sein, sich mit dem Moment und der Umgebung zu verbinden. Was kann ich gerade sehen, was spricht mein Auge an? Ich möchte kleine Szenen der Schönheit einfangen und “sammeln”, bevor sie davonwirbeln. Wenn ich nicht dabeibleibe, neige ich automatisch zu Gedanken wie “Oh nein, da ist schon wieder so ein hässlicher McDonald’s.” Ich muss also Fotografieren, um der Schönheit in der Welt Priorität einzuräumen.
Das klingt nach einer heilsamen Praxis. In früheren Interviews hast du davon erzählt, dass du eine Psychotherapie begonnen hast. Steht “The Bella Vista” damit in Zusammenhang?
Das ist eine gute Frage. Dieses Buch ist ganz offenkundig autobiografisch angelegt, doch in den vergangenen Jahren habe ich angefangen, diesen Ansatz zu hinterfragen. Ich arbeite gerade an einem neuen Album, und dabei fasziniert mich die Möglichkeit, eine größere oder abstraktere Geschichte zu erzählen, die immer noch meine Gefühle und mein menschliches Empfinden vermittelt, mich aber nicht mehr dazu zwingt, meine Erfahrungen noch einmal zu durchleben und nachzuerzählen.
Trotz allem gab es auf deinen früheren Alben etwas, das du einmal “warrior energy” genannt hast. In letzter Zeit hat dein Schaffen deutlich leisere Töne angenommen.
Ich frage mich oft, was aus der Frau geworden ist, die ich einmal war. Ich glaube, heutzutage ist die Energie meiner Musik eher kontemplativ, zurückhaltend und introspektiv. Ich fühlte mich lange zu heftigen und tiefgreifenden Themen hingezogen – mittlerweile versuche ich aber, mich auch in dieser Hinsicht zu hinterfragen. Ist das der richtige Weg für die zweite Hälfte meines Lebens? Will ich mich einer tiefen Traurigkeit derart hingeben? Insbesondere seit ich trocken und älter geworden bin, stelle ich fest, dass ich den Klang von akustischen Instrumenten wie dem Klavier sehr mag, und dass es für mich schwieriger geworden ist, von einer Band umgeben zu sein.
Kannst du etwas davon erzählen, wie du dem Alkohol abgeschworen hast?
Bei all dem, was gerade in der Welt vor sich geht, hatte ich in letzter Zeit oft Angstzustände. Ein tief persönliches Buch wie “The Bella Vista” zu veröffentlichen, macht mich ebenfalls nervös – denn obwohl ich als Künstlerin, Performerin und Autorin arbeite, bin ich sehr introvertiert und würde manchmal am liebsten gar nicht wahrgenommen werden. Ich habe alles Mögliche konsumiert, um diese Gefühle besser in den Griff zu bekommen, aber irgendwann ging es mir nicht mehr gut. Auch körperlich war ich in einem schlechten Zustand. Ich musste einfach nüchtern werden, es gab keine andere Wahl. Ich nahm an lokalen Zwölf-Schritte-Programmen teil. Und in gewisser Weise hatte ich Glück, denn all das ist während der Covid-Pandemie passiert, sodass ich mich für die Treffen nicht hinauswagen musste.
Eines deiner Gedichte trägt den Titel “I Read Too Much Hemingway”. Wie so viele andere Literaten taugt er in Sachen gemäßigtem Lebenswandel kaum zum Vorbild.
Es geht eine große Anziehungskraft von den Mythen aus, die wir uns über große Schriftsteller:innen und Künstler:innen und ihre Alkoholprobleme erzählen. Von Ernest Hemingway war ich eine Weile geradezu besessen. Doch all diese Geschichten von großen Schreiber:innen haben alle einen unvermeidlichen Verlauf, nämlich ein unglückliches Leben und einen unglücklichen Tod. Irgendwann war ich an dem Punkt zu sagen: Ich möchte diesen Weg nicht weiter beschreiten.
In “The Bella Vista” verwandeln sich Buchseiten zu Chrysanthemen und Pfingstrosen, in deinem Newsletter erzähltest du zuletzt davon, dass du einen Blumengarten angelegt hast. Das klingt wie ein Gegenentwurf zur Selbstzerstörung à la Hemingway.
Ich bin immer verzweifelt auf der Suche nach etwas, das einfach… hilft. Und dafür sind Pflanzen sehr gut geeignet. Wenn man sie auf eine bestimmte Art und Weise arrangiert, liegt darin auch ein künstlerischer Anspruch. Ich habe nach etwas gesucht, das mich erdet und meine Ängste lindert, aber es geht auch darum, in die Zukunft zu investieren. Man pflanzt etwas, und es kann Jahre dauern, bis etwas daraus erwächst. Und Blumen haben einfach etwas an sich, das mir Freude macht. Das ist vergleichbar mit meiner Liebe zu ihr hier. [Rundle dreht sich zu ihrer Hündin Red um, die rücklings auf dem Teppich liegt] Sie bedarf keiner Worte; sie ist unmittelbar da.
Neben der Natur gehören auch mythologische Verweise zur Bildsprache von “The Bella Vista”. Was fasziniert dich an diesen alten Erzählungen?
Seit jungen Jahren bin ich tief beeindruckt von Mythologie, religiöser Symbolik und Ähnlichem. Für mich ist das nach wie vor ein Zugang, meine eigenen Erfahrungen zu organisieren und ihnen einen Sinn zu geben. Mit den Archetypen nach C.G. Jung, mit Mustern, die sich durch unsere menschlichen Erfahrungen hindurchziehen, lässt sich relativ leicht eine tiefere Bedeutung schaffen.
Dafür greifst du oft auf eine explizit christliche Symbolik zurück.
Obwohl ich mich selbst nicht als religiös betrachte, fühle ich mich auf eine mystische Art und Weise von dieser Symbolik angezogen. Ich habe viel Zeit in der Nähe von Assisi in Italien verbracht, wo eine gute Freundin von mir wohnt. Passenderweise trage ich immer das Gebet des Heiligen Franziskus bei mir, weil es mich an das Prinzip der Selbstlosigkeit erinnert und daran, sich einer Sache hinzugeben. Unsere westliche Welt ist so stark christianisiert, dass es sehr einfach ist, diese Symbole überall zu sehen und sie als Vorlage für mystische Erfahrungen zu nutzen. Selbst eine Heidin wie ich kann sich darauf beziehen.
Nachdem dein Buch nun fertiggestellt und veröffentlicht ist, hast du das Gefühl, damit auch eine Geschichte zum Abschluss zu bringen?
Ja, ganz genau. Das ist glaube ich auch der Grund, warum Therapeuten und andere wohlmeinende Menschen uns so sehr dazu ermutigen, Tagebuch zu führen. Und warum wir Menschen versuchen, unsere Erfahrungen durch Kunst verständlich zu machen. Ich habe einen Schlussstrich gezogen, und das ist ein gutes Gefühl. Jetzt, wo alles verarbeitet ist, trage ich keinen Kummer mehr mit mir herum.