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Bandpause bekanntgegeben

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“Neun Jahre, fünf Alben, hunderte von Bühnen auf der ganzen Welt und unsere Songs, zusammen gesungen mit jedem Einzelnen von euch.” Nach einigen produktiven Jahren haben Frank Carter & The Rattlesnakes über Instagram eine Bandpause auf unbestimmte Zeit angekündigt. Der Beitrag ist erst wenige Stunden alt. “Voller Traurigkeit teilen wir euch mit, dass die Rattlesnakes eine Pause einlegen werden”, heißt es dort.

Und weiter: “Von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen, in Trauer, Wut und Freude – unsere Band hat es immer zelebriert, am Leben zu sein, egal unter welchen Umständen. Alle Liebe und Dankbarkeit wollen wir der Band zukommen lassen – Gareth, Tank, Elliot und Mitch. Es war ein Privileg, die Bühne mit einigen der besten Musiker teilen zu können, die wir kennen. Feiert zusammen mit uns diese Songs, die unser Leben verändert haben. Unsere UK- und Europatour wird weiterhin stattfinden, und wir freuen uns darauf, euch auf der Tanzfläche zu sehen.”

Gründe für die Inaktivität wurden nicht angegeben. Die Band hat in der Vergangenheit bereits Touren und einzelne Konzerte abgesagt, weil Frontmann Carter mit seiner mentalen Gesundheit zu kämpfen hatte. Bis Mitte November sind die Rattlesnakes allerdings noch auf Tour, unter anderem mit fünf Terminen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Carter trat zuletzt auch als neuer Frontmann der Sex Pistols für eine Reihe von Reunion-Shows auf.

VISIONS empfiehlt: Frank Carter & The Rattlesnakes

22.10.2024 Hamburg – Grosse Freiheit 36
23.10.2024 Leipzig – Conne Island
29.10.2024 Wien – Zentrum Simmering
30.10.2024 München – Backstage Werk
01.11.2024 Pratteln – Z7 Konzertfabrik

Lasst die Hunde los!

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Zwei EPs und ein paar Singles. Viel mehr gab es von Maruja noch nicht zu hören. Ausverkauft sind die Shows der Post-Punks aus Manchester dennoch meistens. Warum beweist allein die neue Single “Break The Tension”, die aus Improvisationssessions während ihrer Proben entstanden ist und die manische Live-Atmosphäre der Band widerspiegelt. Da treffen etwa wahnwitziges Jazz-Drumming und transzendentes Saxofon-Spiel auf brutales Noise-Donnergrollen und Synthie-Kreissägen.

Sänger Harry Wilkinson findet darin sogar noch irgendwie Platz für sein gesprochenes Chaos, das auf der neuen Single das Gefühl der Machtlosigkeit repräsentiert: “Delve into the darker side of the human psyche/ the hunter of vengeance, the anxiousness of feeling trapped by our own narrative, or the loneliness of never being heart”, singschreit er im Song. Die Band selbst sagte zu “Break The Tension”: “Dies ist unsere bisher schonungsloseste Song, lasst die Hunde los!”

Mit ihrem unerbitterlichen Jazz-Punk, den sie im Gegensatz zu Vertretern wie etwa Squid oder Black Midi gänzlich unverkopft auf die Welt loslassen, dürften Maruja bald vermutlich recht weit vorne in Post-Punk-Großbritannien mitmischen.

Ein Debütalbum der Briten wurde bisher aber noch nicht angekündigt, dürfte nächstes Jahr aber überfällig sein.

Live gab es die Band dieses Jahr schon in Berlin, beim Haldern Pop und beim Reeperbahn Festival zu sehen. In Deutschland stehen zwar keine Termine mehr an, wer nicht zu weit von der niederländischen Grenze wohnt, hat im Dezember aber noch beim Zeitgeist Festival in Nijmegen die Gelegenheit, Maruja zu sehen.

Andre Portillo von Late Night Drive Home

Wo und wann hast du das Shirt gekauft?
Mein Bruder hat das Shirt für mich in einem Secondhandladen besorgt, als er vor ein paar Jahren im Urlaub war!

Was bedeutet die Band auf dem Shirt für dich?
Damals wusste mein Bruder, dass ich auf Nirvana stand. Ich habe die ganze Zeit ihre Musik in meinem Zimmer gehört.

Andre Portillo von Late Night Drive Home (Foto: Privat)
Andre Portillo von Late Night Drive Home (Foto: Privat)

Welche persönliche Geschichte verbindest du mit dem Shirt?
Die Musik von Nirvana hat mich mit einer Vielzahl von grungigeren und dunkleren Musikrichtungen vertraut gemacht.

Welche Bedeutung haben Bandshirts ganz allgemein für dich?
Ich denke, dass Bandshirts eine starke Botschaft vermitteln, wenn man sie trägt! Wenn man ein Shirt einer Band trägt, vertritt man ihre Botschaft und trägt sie in die Welt hinaus, es ist fast wie eine Bewegung oder ein Kult.

Diesmal tut es anders weh

Es kommt auf die Perspektive an. Entfernt sich die Spirale eigentlich immer weiter von ihrem Zentrum oder kommt sie ihm immer näher? Und steht dieser scheinbar endlose Kringel für Verwirrung und Chaos oder doch eher für Wachstum? Gar für so etwas wie Wiedergeburt und die Ewigkeit? Spiralen sind überall. In der Kunst, in der Architektur, im Film: Die Schlange Kaa hypnotisiert im Dschungelbuch den kleinen Mogli mit Spiralen in den Augen, Horrorfilme wie “Saw” nutzen die roten Endlosschleifen für ihre ganz eigene Ikonographie und grotesk verdrehte Philosophie. Gewissermaßen ist aber auch die Zahl sechs eine kleine Spirale, je nachdem, wie genau man sie schreibt oder zeichnet.

Touché Amoré widmen ihr sechstes Album der Spirale. Dem Gefühl, sich vorwärtszubewegen, während die Dinge um einen herum immer chaotischer werden, instabil, sich unkontrolliert drehen. “Spiral In A Straight Line” heißt es. Die sechste Platte einer Band, die auf ihren bisherigen Veröffentlichungen die Gefühle von Heimatlosigkeit daheim und Heimatlosigkeit unterwegs vertont hat, davon singt, doch so langsam Zufriedenheit zu finden, aber dann den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil die eigene Mutter an Krebs stirbt. Und dann den Umgang mit den eigenen Gefühlen zu lernen, während die Welt immer weiter ins Chaos abdriftet, man weitere Familienmitglieder statt an eine tödliche Krankheit an die Republikaner verliert – und dabei doch irgendwie Jahr für Jahr älter wird. Seit 2007 stürzen sich Touché Amoré mit voller Wucht rein in die komplizierte Gefühlslage einer Band, die ihren Sturmdrang in schlagkräftigen Post-Hardcore kleidet, der blitzschnelle Haken schlägt und gerade in seinen Anfangszeiten Gift und Galle spuckt, mit intimen Songtexten das Innerste ins Äußerste kehrt, dabei aber auch immer mit cleveren Breaks und melodischen Post-Rock-Figuren spielt.

Als „The Wave“ bezeichnete man um 2011 herum diese, nun ja, Welle an US- Bands, eine neue Art emotionaler Clique deren Gallions­figuren La Dispute, Defeater, Title Fight, Pianos Become The Teeth, Make Do And Mend und eben Touché Amoré heißen – ein erweiterter Freundeskreis an zahlreichen anderen Bands inklusive, der fortan mit auf Tour fuhr, wenn Alben wie “Wildlife”, “Empty Days & Sleepless Nights”, “Shed”, “The Lack Long After”, “End Measured Mile” oder “Parting The Sea Between Brightness And Me” in kleinen Clubs gespielt wurden. Der Name war ein Insider-Witz, der sich verselbstständigte und sich inzwischen auch schon wieder totgelaufen hat, aber man packt Musik nun mal so gern in die passenden Schubladen, auch wenn sie dafür zunächst womöglich erst geschaffen werden müssen. Doch es eint sie ja so viel: den Mut, Hardcore weiterzudenken, ganz nah ranzuzoomen aufs eigene Gemüt, es erst in die Arme zu nehmen und dann mit dem Flammenwerfer draufzuhalten. Geschichten zu erzählen, die es wert sind, und vom Privaten heraus so viel über die Öffentlichkeit, Gegenwart und Gesellschaft zu erzählen, dass es wehtut.

Älter werden

Bis zum sechsten Album hat es aus dieser Gruppe heraus noch niemand geschafft. Touché-Amoré-Sänger Jeremy Bolm ist das bewusst. „Uns ist klar, dass viele Punk- und Hardcore-Bands selten mehr als zwei oder drei Alben schreiben. Dass wir jetzt beim sechsten angelangt sind, ist wirklich verrückt. Und: Sechs ist meine Lieblingszahl, also habe ich alles gegeben, um die Zahl auch würdig zu repräsentieren.“ Bolm trägt inzwischen Glatze, ist im April 41 Jahre alt geworden und scherzt, wie er das Altern für die anderen Bandmitglieder übernehme, die ihren „jugendlichen Charme“ behalten hätten, wie er sagt. Der eigentliche Nachtschwärmer gewöhnt sich dieses Jahr das frühe Aufstehen an und erledigt in den kalifornischen Morgenstunden die Arbeit, die ein neues Album einer Band mit sich bringt – und die neben der eigentlichen Musik im Proberaum, auf Tour und im Studio ganz unromantisch aus E-Mails und Organisatorischem besteht, wie manch anderer Job ebenfalls. Viele der „The Wave“-Bands, sagt er, waren nie so lange Zeit pausenlos aktiv wie die dauer­tourende Maschine Touché Amoré, einige Mitglieder anderer Bands haben schon früh Kinder gekriegt – und erst jetzt, während der Albumaufnahmen, hat seine Band mit Schlagzeuger Elliot Babin ebenfalls einen Vater in den Reihen. „Das ist so verrückt. Wir freuen uns alle sehr für ihn!“

Dass die Band aus Los Angeles altert, daran ist kaum zu denken, wenn man “Spiral In A Straight Line” hört. Das Album ist oft schnell und heftig, hat aber selbst in vergleichsweise langsameren Songs wie “Altitude” oder “Force Of Habit” einen brutalen linken Haken. Lieder wie “Disasters”, “Mezzanine” oder “Finalist” gehören zu den durchschlagkräftigsten Schienbeintritten aus Touché Amorés bisherigem Schaffen. Gleichzeitig bewahren sie sich mit den Singles “Nobody’s” oder “Hal Ashby” den Hang zur Eingängigkeit. Poppig ist das nicht, aber melodiös und catchy. Zudem, und das ist weiterhin der Unterschied zu den wuchtigen Anderthalbminütern der Anfangsphase, traut sich die Band immer mehr, Refrains zu wiederholen, in C-Teilen Luft zu holen, Songs sicher ins Ziel zu bringen. „Für mich fühlt sich die Platte wie ein Mix aus ‘Parting The Sea Between Brightness And Me’ und ‘Stage Four’ an“, sagt Bolm. „Es ist so, als hätten wir während ‘Parting The Sea’ gewusst, wie man Songs schreibt“, ergänzt er und muss darüber lachen.

Touché Amoré (Foto: Sean Stout)

»Je älter ich werde, desto öfter denke ich, dass es Dinge gibt, die ich lieber für mich behalte.«

Jeremy Bolm

„Weißt du, die meisten Songs entstehen weiterhin, weil jemand einfach eine gute Idee mitbringt und wir sie gemeinsam ausarbeiten. Aber wir machen uns darüber hinaus inzwischen viel mehr Gedanken. Warte, ich zeig dir mal was.“ Bolm scrollt durch sein Smartphone, bis er eine frühere Version von “Altitude” gefunden hat. Klickt sie an. Hält die Telefonboxen in die Kamera. Er guckt konzentriert und fragt nach einer Weile: „Hörst du, was ich meine?“ Leider nicht. Im Videochat kommt nichts aus den Boxen. „Seltsam, ich glaube, Zoom filtert fremde Audiodateien einfach raus.“ Ironisch, wie die künstliche Intelligenz versucht, das Urheberrecht zu wahren, wenn doch der Urheber direkt vor dem Bildschirm sitzt. „Na ja. Was ich zeigen wollte: ‘Altitude’ war mal ein richtig schneller Punk-Song, fast so wie ‘Disasters’. Aber dann haben wir geguckt, wie es klingt, wenn wir ihn verlangsamen und ihm vielleicht eine Art Deftones-Energie verleihen. Wir probieren inzwischen aus, was passiert, wenn man schnelle Songs langsam oder eben ruhige Songs schnell spielt. Diese Art von Dekonstruktion zeigt sehr gut, welches Potenzial
eigentlich in einem Lied steckt.“

Dabei entsteht ein Sound, der das Gefühl, sich gleichermaßen in einer Spirale und
dabei doch irgendwie geradeaus zu bewegen, auf den Punkt bringt. Es gehe, so Bolm, um die überwältigende Angst, der man angesichts der weltpolitischen und gesellschaft­lichen Entwicklungen ausgesetzt sei, das fortwährende Gefühl einer Bedrohung, von Stress, von Trauer. „Viele von uns haben ja die Angewohnheit, gleich morgens zum Handy zu greifen und direkt zu lesen, was wieder alles Schreckliches in der Welt geschehen ist. Ich glaube, wir tun uns das schon seit so vielen Jahren an, dass es das Gehirn einfach so programmiert, dass man mit einem gewissen grundsätzlichen Un­behagen durch den Tag geht, auch wenn man so tut, als wäre immer alles okay. Darüber habe ich viel nachgedacht, als ich die Texte zum Album geschrieben habe.“

Im Kreis drehen

Der erste Song, zu dem er sich die passenden Worte überlegt hat, war “Altitude”: „I start to descend/ And as I find my balance I present confident/ And that’s the challenge/ […] I spiral in a straight line/ Like some clever reaction/ I didn’t know how to feel/ Was I impressed that it happened?“, heißt es darin und gibt dem Album seinen Titel. „Als ich den Song zum ersten Mal Freunden vorgespielt habe, sind sie aufmerksam geworden. Und das ist immer wieder passiert. Da wusste ich, dass das der Albumtitel sein könnte, und das hat die weiteren Dinge beeinflusst. Viele Themen auf dem Album wiederholen sich, es geht viel darum, dass man sich um sich selbst dreht.“ Das geht so weit, dass Bolm zum ersten Mal auch bewusst Worte wiederholt und die Spirale damit auch in die Art zu texten mit hineinnimmt. „As I fixate on the road ahead/ It just winds and winds and winds and winds“, heißt es etwa in Nobody’s, „We’re tangled up and it’s not easy/ It’s not easy“ in “Mezzanine”. „Das ist wie ein Leitmotiv auf dieser Platte geworden. Es gibt diese kleinen Wiederholungen, die sich wie eine Spirale durch einige Songs der Platte drehen.“

Touché Amoré (Foto: Sean Stout)

»Viele Themen auf dem Album wiederholen sich, es geht viel darum, dass man sich um sich selbst dreht.«

Jeremy Bolm

Die Spirale bricht sich in den Texten der Platte aber auch auf andere Weise Bahn. Viele Lieder, darunter “Nobody’s”, “This Routine”, “Subversion (Brand New Love)” oder “Goodbye For Now” behandeln Trennungen, beendete Beziehungen und den Versuch eines Neuanfangs. Darauf angesprochen muss Bolm erstmal überlegen, wie er darauf jetzt antwortet. Schließlich ist er als Texter und Sänger der Band inzwischen bekannt dafür, die intimsten Gedankengänge – man denke an “Stage Four”, das schonungslos minutiös und detailliert die Krebserkrankung seiner Mutter, ihren Tod und seinen Umgang damit zum Thema hatte – in den Liedern zu teilen und auch im Anschluss sehr offen darüber zu sprechen. Aber diesmal nicht. „Ich weiß, ich war immer extrem transparent und habe offen über alles gesprochen, was so los ist. Aber je älter ich werde, desto öfter denke ich, dass es Dinge gibt, die ich lieber für mich behalte.“

Aber Bolm wäre nicht Bolm, würde er das nicht zumindest ausgiebig erklären, auch wenn er dabei nicht mehr direkt in die Videochat-Kamera schaut, sondern lieber daran vorbei: „Wir leben in dieser Social-Media-Welt, in der jede und jeder denkt, alles erzählen und sich zeigen zu müssen. Aber wenn eine Beziehung endet, in der es schließlich viel Liebe gab oder gibt, je nachdem, wie sie endet, will man diese Dinge ja auch näher bei sich halten und keine Performance daraus machen und sich weiter erklären. Auf dem Album geht es aber trotzdem darum, dass das Ende einer Beziehung nicht bedeutet, dass das Wachstum aufhört, sondern, dass man die Zeit trotzdem wertschätzen kann. Ich will zeigen, dass sich Liebe auch in andere Gefühle verwandeln und man daraus zu einem besseren Menschen werden kann.“ Bolm ringt ein wenig mit den Worten, findet noch nicht die ganz passende Beschreibung, sieht aber auch: „Es ist ein seltsamer Zwiespalt, ich weiß: zu versuchen, ein Album über etwas zu schreiben, das man eigentlich für sich behalten möchte.“ Oder, um es mit der zentralen Zeile der Albumeröffnung zu beschreiben: „We’re nobody’s business.“ Aus dem Rest kann man sich in den Texten seinen eigenen Reim machen.

Fan bleiben

Über die kleinen und großen Entstehungsgeschichten der Songs spricht Bolm trotzdem gern, fragt man ihn etwa nach dem aus dem Album herausragenden “Subversion (Brand New Love)”. Nach acht zumeist sehr brachialen Stücken erklingen auf “Spiral In A Straight Line” ruhige Gitarrentöne. Bolm schreit nicht, er singt zaghaft: „I had a dream we were finally talking/ But I couldn’t hear you and you couldn’t hear me.“ Und dann die mantramäßig wiederholte Refrain-Zeile: „It’s aching differently this time.“ Bolm singt darüber, wie der Sebadoh-Song “Brand New Love” läuft, als er mit dem Flieger in Adelaide in Australien landet. „Am I displaying progress or subverting silence?/ I can’t see beyond the years behind me.“ Nochmal der Refrain, es wird lauter, es steigert sich, der Sänger beginnt wieder zu schreien. Und dann durchbrechen Touché Amore im C-Teil quasi die vierte Wand: Indie-Rock-Legende Lou Barlow, unter anderem bei Dinosaur Jr. und eben Sebadoh tätig, singt im Hintergrund den Refrain von ebenjenem “Brand New Love”, er fügt sich erstaunlich geschmeidig da rein: „Any thought could be the beginning/ Of the brand new tangled web you’re spinning/ Anyone could be a brand new love/ Follow what you feel, you alone decide what’s real/ Anyone could be a brand new love.“ Es ist, vermutlich gerade weil es so einen harten Kontrast zum Rest des Albums darstellt, wohl der eindringlichste und intensivste Song der Platte.

Bolm kommt aus dem Grinsen kaum raus. „Dass Lou diesen Part singt, ist wohl mein Lieblingsmoment all unserer Alben. ‘Brand New Love’ ist eines meiner zehn Lieblingslieder aller Zeiten. ‘Subversion’ habe ich geschrieben, als wir im März in Australien waren. Ich habe zwar keine Flugangst, aber wenn wir zur Landung ansetzen, höre ich oft einen meiner Lieblingssongs, einfach für den Fall, dass dann doch mal etwas schief geht. Also habe ich beim Anflug auf Adelaide ‘Brand New Love’ angemacht, ein Song, in dem es, soweit ich ihn verstehe, darum geht, eine neue Liebe zu finden, wenn man nicht damit rechnet.“ Und besonders der Refrain hat es Bolm angetan. „Ich hörte mir dann das Ende von ‘Subversion’ an, wo alles groß und laut wird, und ich dachte nur: ‚Oh mein Gott, ich glaube, man kann den Refrain über dieses Outro legen.‘ Klar, das sind zwei völlig unterschiedliche Songs, aber irgendwie fühlt es sich richtig an.“ Bolm stellt die Idee der Band vor. „Bin ich verrückt oder funktioniert das wirklich? Weil: Ich bin der Sänger, ich habe keine verdammte Ahnung, ob das die richtige Tonlage ist oder sonst was für ein Bullshit. Aber die anderen glaubten glücklicherweise auch, dass es funktioniert.“

Touché Amoré (Foto: Sean Stout)

So tasteten sich Touché Amoré an den Indie-Coup langsam heran: Alex Estrada, mit dem sie einst ihr Debütalbum “…To The Beat Of A Dead Horse” aufgenommen haben, produziert die Demos zur neuen Platte. Estrada singt den “Brand New Love”-Part ein, um die Idee einmal zu testen. „Und es hat funktioniert!“ Als es dann an die Albumaufnahmen geht, treibt Bolm die Idee weiter auf die Spitze: „Ich habe Lou Barlow also eine Mail geschrieben, so wohlüberlegt wie möglich: Ich weiß, es ist eine absurde Frage, aber: Willst du deinen Song über unseren Song singen? Und ich schickte ihm den Text und die Idee dahinter und schrieb, wie viel mir sein Lied bedeutet. Er war dafür und wollte es ausprobieren.“ Bolm kann es auch heute nicht fassen: „Diese Stimme auf unserem Song zu hören, das haut mich immer noch um.“

Es ist nicht die einzige Referenz, um nach dem Hören von “Spiral In A Straight Line” tiefer zu graben. So wie “Subversion” eben auf “Brand New Love” und damit auch auf Sebadohs 1992er Compilation “Smash Your Head On The Punk Rock” verweist, spielt auf “Mezzanine” der 1998 erschienene gleichnamige TripHop-Meilenstein von Massive Attack eine Rolle. Mit “Hal Ashby” wiederum zollen Touché Amoré einem von Bolms Lieblingsfilmemachern Tribut – und springen von den 90er-Referenzen ins New Hollywood der 70er. Ashby, der mit Filmen wie “Harold und Maude”, “Das letzte Kommando” oder “Willkommen Mr. Chance” herrlich verschrobene Charaktere auf die Leinwand brachte und ureigene Gesellschaftskommentare schaffte, spielt mit der nach ihm benannten Single eine große Rolle in der Albumkampagne zu “Spiral In A Straight Line”. In dem Anfang September erschienenen Musikvideo verneigt sich die Band mit reichlich Anspielungen auf seine Filme vor dem 1988 verstorbenen Regisseur. Das dazugehörige Poster, von denen die Band unter den Vorbestellenden der Platte einige verlost, ist dem von “Willkommen Mr. Chance” nachempfunden.

Die zentralen Zeilen „A misguided Hal Ashby catastrophe/ Not exactly something you plan to be/ You gotta handle it gracefully“ fassen alles Weitere zusammen: „Viele seiner Filme handeln von diesen im Kern sehr süßen, aber auch sehr tragisch missverstandenen Charakteren“, sagt Bolm. Man denke nur an den immer wieder seinen Selbstmord inszenierenden jungen Harold, der sich am liebsten auf Beerdigungen aufhält und einen Leichenwagen fährt, bis er sich in die lebensfrohe Seniorin Maude verliebt. Oder an den cholerischen und doch gutherzigen Navy-Matrosen Billy Buddusky aus “Das letzte Kommando”, der gemeinsam mit seinem Kameraden Mulhall den kleptomanischen und schüchternen 18-jährigen Meadows ins Militärgefängnis bringen soll, ihn dabei aber auf einen Umweg über Kneipen und ein Bordell mitnimmt. Oder eben der naive und durch und durch weltfremde Gärtner Chance, der im Quasi-Forrest Gump-Vorläufer “Willkommen Mr. Chance” versehentlich politische Karriere mit schlichten Garten-Metaphern macht, die das politische Washington D.C. als große Wirtschaftsweisheiten missversteht.

„Im Song selbst geht es um Missverständnisse, da klickte es einfach bei mir“, sagt Bolm. „Ich bin ein großer Fan von Hal Ashby und habe in den vergangenen Jahren seine Filme wieder und wieder gesehen. ‘Harold und Maude’ zum Beispiel ist ein für mich lebensverändernder Film. Ich mag die Idee, dass jemand, der diese Filme nicht kennt, den Song zum Anlass nimmt, sie sich einmal anzuschauen.“ Und weil das Motiv mit der Spirale so gut passt, dreht sich im Touché-Amoré-Kosmos auch die Personal-Schleife der Platte weiter: Julien Baker hat, nachdem sie bereits auf den Vorgängeralben “Stage Four” und “Lament” ausgeholfen hat, Gesang zum intensiven Albumschluss “Goodbye For Now”, der sich von einem Black-Metal-artigen Intro zu hochemotio­nalem Indierock steigert, beigesteuert. „Ja, das ist jetzt das dritte Mal in Folge“, sagt Bolm und muss lachen. „Sie ist inzwischen wirklich unser MVP, der in letzter Minute einspringt und den Song zusammenhält. Im Demo zu dem Song hat immer etwas gefehlt, das sie jetzt mit ihrer wunderschönen Stimme ausfüllt. Sie hat uns schon so viel gegeben, sie ist einfach super.“

Wie schon 2020 auf “Lament” hat Produzent Ross Robinson, mit dem Bolm inzwischen eine tiefe Freundschaft teilt, der Band auf ihrem sechsten Album zum passenden Sound verholfen. „Es gibt auf dem Album den Song ‘Force Of Habit’, in dem ich unter anderem davon singe, dass ich diese schreckliche Angewohnheit habe, mich im Auto zunächst nicht anzuschnallen. Ich habe darüber nachgedacht, dass diese Dinge, die für einen selbst so schwer abzulegen sind, auch die Leute um dich herum beeinflussen. Also fragte Ross die Band im Studio: Wer hier im Raum wäre froh, wenn Jeremy direkt den Sicherheitsgurt anlegen würde? Und jeder hob seine Hand. Er sagte: ‚Siehst du? Ich will, dass du weißt, dass wir uns Sorgen machen und wollen, dass du damit aufhörst, weil wir nicht wollen, dass dir jemals etwas zustößt.‘“ Bolm überlegt kurz. „Und das ist so typisch für Ross, er wusste, was es mit mir machen würde, zu sehen, wie viele Leute sich um mich sorgen. Das ist etwas, das ich mir merken werde.“

Die Alben der Woche

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Album der Woche: The Smile – “Cutouts”

The Smile (Foto: ShinKatan & Weirdcore)
The Smile (Foto: ShinKatan & Weirdcore)

The Smile legen mit ihrem dritten Album den Status des Radiohead-Nebenprojektes endgültig ab. Nicht einmal ein Jahr ist seit dem Vorgängeralbum vergangen, da legt das manisch kreative Trio bereits nach. Zwischen klinisch sauberen Synthesizern und verstimmten Streichern bedienen Yorke, Greenwood und Skinner einen unbeschreiblichen Stilmix in seiner Gesamtheit.

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Drug Church – “Prude”

drug church prude cover

Drug Church schreiben Texte über allerhand verkorkste Charaktere – und das vollkommen wertfrei. Im musikalischen Kosmos der Hardcore-Band sind alle gleichermaßen eingeladen, ihre kantigen Hymnen mitzusingen. Auf „Prude“ können die ruhig und emotional sein – Gelegenheit zur Eskalation gibt es live so oder so.

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Gewalt – “Doppeldenk”

Gewalt Doppeldenk Cover

Unsere Redaktion ist gespalten: Sind Gewalt gefühlvolle Kritiker oder sind sie nur größenwahnsinnig? Verkörpert „Doppeldenk“ Lebensfreude in dystopischen Versen oder sind die Texte unbedacht? Machen die analogen Drumcomputer die Hörerfahrung rund, oder nerven sie einfach? Pogo-Operation am offenen Herzen oder überhebliche Propheten?

zum Vier-Ohren-Test


Fever 333 – “Darker White”

Fever 333 "Darker White"

Nach einem Besetzungswechsel sind Fever 333 wieder zu viert, und sie bleiben ihrem Stil treu. Aggressiver Rap, Alternative Rock, Metalcore – alles, was gerade am besten passt, wird genutzt. Das Ganze läuft zwar Gefahr, schnell an Luft zu verlieren – bei der Menge Sprengstoff, die verschossen wird, aber auch kein Wunder.

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The Hard Quartet – “The Hard Quartet”

The Hard Quartet Cover

Ein bisschen wahnsinnig, ein bisschen ironisch, viel Spaß an der Sache: The Hard Quartet um Stephen Malkmus und Matt Sweeney klingen wie Pavement auf Speed. Auch wenn sich der Spaß der Supergroup nicht unbedingt auf den Hörer übertragt, hört man ihn doch deutlich heraus. Stringent ist hier nichts – und trotzdem sehr passend.

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Geordie Greep – “The New Sound”

Geordie Greep The New Sound

Black Midi-Gitarrist Geordie Greep stellt sein erstes Soloalbum vor. Der namensgebende „neue Sound“ kommt einer wildgewordenen Collage verschiedenster Stile gleich. Salsa trifft auf Funk, Jazz auf Noise und Yacht Rock auf manische Predigten. Greep pfeift auf jegliche Konventionen und serviert einen brillanten Genre-Cocktail, der erstaunlich gut runtergeht.

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Public Service Broadcasting – “The Last Flight”

public service broadcasting the last flight cover

Public Service Broadcasting machen Geschichtsunterricht zur hörbaren Erfahrung. Auf “The Last Flight” geht es um das Leben der Flugpionierin Amelia Earhart. Statt Gesang stehen häufig Textsamples aus Dokumaterial im Vordergrund, die Kulisse dafür bilden warme Synthesizer, Streicher und angenehm raue Gitarren.

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Godspeed You! Black Emperor – “No Title as of 13 February 2024 28,340 Dead”

godspeed you black emperor no title cover

Lange waren Godspeed You! Black Emperor nicht mehr so politisch explizit wie hier – obwohl sie nach wie vor instrumentale Musik machen. Doch formuliert schon der (Anti-)Titel eine deutliche Positionierung der Kanadier zum Krieg im Nahen Osten und kleidet dieses Statement dann mit ihrem gewohnt apokalyptischem Post-Rock aus.


Bongloard – “DYTYR?”

bongloard dytyr cover

Trotz cleanem Sound haben Bongloard auf ihrem zweiten Album nichts an Noise eingebüßt. Das niederländische Trio interpretiert „Punk“ liberal in alle Richtungen – das klingt dann mal mehr nach Nirvana, mal mehr nach Motörhead, aber es bleibt originell. Dieser Stilmix ist antreibend, hochexplosiv und vor allem ansteckend.

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Arxx – “Good Boy”

arxx good boy cover

Auf Punk folgt luftiger Synthie-Pop: Das queere Indiepop-Duo Arxx überzeugt auf “Good Boy” nicht wie zuvor mit eindringlichen Gitarrensounds, stattdessen experimentieren sie erfolgreich mit Electropop-Sounds. Gefüttert werden diese mit den ihnen bekannten Themen: Frust über den Kapitalismus oder Herzschmerz.

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A Place To Bury Strangers – “Synthesizer”

A Plave to bury strangers cover synthesizer

Der Albumtitel ist hier kein Zufall, war ein selbstgebastelter Synthesizer diesmal doch entscheidender Teil des Songwriting-Prozesses von A Place To Bury Strangers. Ansonsten verkracht sich das Trio hier irgendwo zwischen Fledermaus-Poprock, Noise und Punk – und fasziniert weiterhin durch seine Experimentierfreude.

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Chubby And The Gang – “And Then There Was…”

Chubby And Then There Was Cover

Das Londoner Hardcore-meets-Seventies-Rock-und-Doo-Wop-Projekts Chubby & The Gang um Kreativkopf Charlie „Chubby“ Manning veröffentlicht mit „And Then There Was…“ sein drittes Album. Darauf führt dieser in 16 Songs den Schweinsgalopp der ersten beiden Platten fort und klingt dabei so wüst und unterhaltsam wie eh und je.


Cumgirl8 – “The 8th Cumming”

cumgirl8 the 8th cumming cover

Cumgirl8 haben sich in einem Sexchat kennengelernt, verteilen auf ihren Konzerten Abtreibungspillen und sehen sich als Teil einer cyberfeministischen Bewegung. Ihr Debütalbum klingt dazu nach pulsierendem Wave, der die großen Ikonen feministischer Alternativkultur wie die Slits, Siouxsie & The Banshees oder Le Tigre aufgreift.

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Rat Boy – “Suburbia Calling”

rat boy suburbia calling

Schon Artwork und Titel machen deutlich, dass Rat Boy mit „Suburbia Calling“ eine dieser Platten machen (wollen), die den Geist der britischen Gesellschaft und Popkultur auffangen und bedienen sich dafür an allen Epochen: 60s-Gitarren treffen auf Ska, Britpop auf Yungblud und musicalhaftes Storytelling auf Punk und Pathos.

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Sugar Horse – “The Grand Scheme Of Things”

sugar-horse-the-grand-scheme-of-things-cover

Auf ihrem zweiten Album vermählen Sugar Horse ein weiteres Mal deftigen Sludge Metal mit Elementen von Alternative Rock, Grunge, Noise und sogar Shoegaze – und veranstalten so ein harmonisches Wechselspiel zwischen brachialer Härte und pathetischem Schöngeist. Inklusive einem epochalen Closer von 24 Minuten.

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Human Impact – “Gone Dark”

Human Impact Gone Dark Cover

Das zweite Album von Human Impact, aktuell bestehend aus (Ex-)Mitgliedern von Unsane, Daughters, Made Out Of Babies und Cop Shoot Cop, brodelt mit gerechtem Zorn, Welthass und Widerstandsgeist. Klanglich wütet das Album dazu in Richtung Noiserock und macht aus dem einst projektartigen Zusammenschluss endgültig eine richtige Band.

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God Bullies – “As Above, So Below”

God Bullies As Above So Below Cover

Die nächste große Noiserock-Rückkehr nach Jesus Lizard: 30 Jahre nach ihrem letzten Album sind God Bullies mit einer neuen Platte wieder da. Neben Mike „Father“ Hard ist zwar keiner mehr vom früheren Line-up übrig und Gitarrist David Livingstone inzwischen verstorben, klanglich knüpfen sie aber direkt an den Sound von 1994 an.


Texte von Johannes Pälchen, Julius von Glinski, Fee Briesemeister

Zurück in den Salsa-Club

Geordie, wie fühlst du dich als frisch gebackener Solokünstler und wie war die Resonanz bisher?

Geordie Greep: Es ist aufregend für mich und das Feedback war bislang wirklich sehr gut. Ich hatte gehofft, dass es bei den Leuten ankommt und sie den Song (“Holy, Holy”) verstehen und mögen würden, aber ich war sogar angenehm überrascht, denn es ist immer noch Nischenmusik, die nicht die zugänglichste Sache der Welt ist, um ehrlich zu sein. Dennoch denke ich, dass die Leute die Mühe zu schätzen wissen, die ich mir gemacht habe, um die Musiker ein bisschen netter zu machen.

Ich habe das Gefühl, dass es zumindest ein bisschen zugänglicher geworden ist im Vergleich zu Black Midi.

Auf jeden Fall. Aber es war nicht unbedingt absichtlich, es so experimentell zu machen. Was ich damit sagen will: Ich habe mich weniger bewusst bemüht, es verrückt zu machen als sonst. Ich habe einfach das getan, was für den Song richtig war.

Als wir uns das letzte Mal trafen, sprachst du bereits viel von Salsa-Musik. Héctor Lavoe und Celia Cruz zum Beispiel. In gewisser Weise hast du die lateinamerikanischen Einflüsse deines Soloalbums schon damals  vorweggenommen. Würdest du sagen sagen, dass die Arbeit an deinem eigenen Album organischer verlief?

Bei diesem Album war es eher organisch, das stimmt. Ich habe mich darum bemüht, die Musik, die ich mag, genau darzustellen oder sogar nachzuahmen. Es gibt viele Bands, die Musik machen, die zwar bei ihrer Fangemeinde populär ist, aber sie hören vielleicht alle möglichen anderen Musikrichtungen. Nur versuchen sie nicht unbedingt, eben diese Musik zu machen. Es ist verständlich, dass man in der eigenen Spur bleiben und nicht versuchen will, sich eine andere Kultur anzueignen. Aber ich denke mir dann: Was magst du an der Musik und warum machst du sie nicht? Es wird zu einem Problem, wenn man Musik macht, die man selbst nicht mag. Es ist so als würde man sagen: “Oh, ja, das ist gut genug für mein Publikum, aber ich mag es nicht. Ich mag etwas ganz anderes.” Das ist wirklich ein bisschen lahm. Wenn ich also Celia Cruz und Héctor Lavoe mag, möchte ich natürlich auch solche Sachen ausprobieren.

Woher kommt eigentlich deine flammende Liebe zur Salsa-Musik?

Als ich ein Kind war, arbeitete meine Mutter bis spät in die Nacht in einem Salsa-Club. Meine Schwester und ich waren so sechs Jahre alt und konnten nach der Schule nicht allein zu Hause bleiben, also mussten wir hinten im Lagerraum abhängen. Wir konnten die Musik dann immer durch die Wände hören: Bumm! Bumm! Bumm! Es wurde super laut. Damals habe ich das nie gemocht. Ich fand diese Art von lauter Musik nur nervig und ich konnte die Sprache nicht verstehen. (lächelt)

Aber dann hast du dich doch noch verliebt.

Ja. Vermutlich so vor fünf Jahren. Es war sogar erst durch eine Art Salsa-Parodie oder jemanden wie Joe Jackson, glaube ich. Ich dachte mir: “Oh, vielleicht sollte ich mir noch einmal dieses ganze Salsa-Zeug anhören, das meine Mutter immer hörte, als ich ein Kind war.” Als ich die Musik dann zum ersten Mal auflegte, merkte ich sofort: “Oh mein Gott, warum habe ich dieses Zeug, das so gut ist, all die Jahre verdrängt.” Ich glaube, das erste Album, das ich mir wirklich angehört habe, war „Siembra“ von Willie Colón & Rubén Blades. Es war so anspruchsvoll und so gut zusammengestellt für einen Musikstil, zu dem man stundenlang in Nachtclubs tanzen kann. Es zeigt die Geschichte von hundert Jahren Volksmusiktradition, die im Grunde in Popsongs destilliert wurde. Für mich ist das erstaunliche Musik, die auf jeder Ebene so unfassbar kompliziert ist. Der Rhythmus, die Melodie, die harmonische Struktur. Die besten Stücke kann man sich unendlich oft anhören.

Ich erinnere mich, dass du mir Salsa damals als so etwas wie “die sympathischste Musik aller Zeiten” beschrieben hast.

Ja, und das stimmt auf jeder Ebene. Ich spreche kein Spanisch, aber ich weiß, dass die Texte toll sind. Zumindest haben mir das spanisch-sprechende Leute gesagt. Der Gesang, die Technik. Es ist unglaublich. Der Rhythmus ist unaufhaltsam, aber wirklich raffiniert. Es ist nicht so, dass es nur eine Trommel gibt. Da sind zehn Leute, die die ganze Zeit spielen. Und dann ist die ganze Präsentation so ausgefeilt, aber nicht überproduziert. Es ist einfach so zugänglich, obwohl so viel los ist. Das ist echt verrückt.

Du hast kulturelle Aneignung schon erwähnt. Ich glaube aber nicht, dass das bei eurem Album ein Problem ist, weil du auch Musiker aus der ganzen Welt hinzugezogen hast.

Das ist aber ein Problem, das wir oft mit Black Midi hatten: Meiner Einschätzung nach war es ein Versuch, ein Pastiche einer bestimmten Art von Musik zu machen. Bestimmte Songs fingen etwa als eine Art Funk, Blues, Bossa Nova, Walzer, Kabarett, Soundtrack-Musik oder wie Kurt Weill an. Durch die Art und Weise, wie wir zusammen gespielt haben, und durch die bewusste und unbewusste Art und Weise, wie wir es nach Black Midi klingen ließen, klangen sie am Ende oft alle gleich. Dann dachte ich mir, wenn wir schon einen Song mit lateinamerikanischen Einflüssen oder klassischen Pop-Einflüssen wie von Michael Jackson machen, dann sollten wir Leute nehmen, die so etwas wirklich mühelos spielen können, also gingen wir nach Brasilien und holten diese brasilianischen Jungs. Wenn die Musik so tight und geschmeidig ist wie jetzt, funktioniert der Witz des Ganzen besser.

Würdest du sagen, dass 30 Musiker zu dirigieren die größte Herausforderung in deiner bisherigen Karriere war?

Die größte Herausforderung war das Selbstvertrauen. Im Studio war letztlich alles großartig, aber vorher hat man immer im Hinterkopf, dass man diese Leute bezahlen muss und dass der Tag der Aufnahme zählt. Es gibt keine zweite Chance. Die Herausforderung war also, an die Idee zu glauben. Denn bei Songs wie diesen, die irgendwie an der Grenze zwischen gut und schlecht liegen, ist das anders. Ich glaubte zwar an die Demoversion, aber wenn es nicht richtig gemacht wird, würden sie nicht gut rauskommen. Vor allem, wenn man den Text und die Musik, den Gesang und all das mit einbezieht. Es war sehr grenzwertig, sich im Vorfeld zu verpflichten und zu sagen: “Wir machen es, wir bezahlen die Musiker – und es wird großartig werden.” Das war der große Vertrauensvorschuss.

Beim ersten Anhören hatte ich beim Album-Opener “Blues” den Eindruck, dass ein Bienenschwarm in meinem Schädel gefangen war.

(grinst) Fantastisch! Ich denke, es ist gut, das gleich vorwegzunehmen, oder? Ein Album mit diesem intensiven Gefühl von “Was passiert hier? Das wird jede Minute auseinanderfallen” zu beginnen, wurde in gewisser Weise zu dem improvisiertesten Song. Und von da an (schnippt mit den Fingern) kommt man zum zweiten Track, der vielleicht der raffinierteste ist. Man gibt sofort etwas vor, das dazu passt, und dann beginnt es zu fließen und es wird entspannter.

Was hat dich am meisten beim Schreiben beeinflusst?

Also es ist eine Art Kombination aus all den Sachen, die ich am meisten mag: Etwa Milton Nascimento aus Brasilien, Fusion-Sachen wie Weather Report und Chick Corea, die späteren Sachen von Steely Dan, Donald Fagans Soloalbum „The Night Fly“, Boz Scaggs und Leute wie Van Dyke Parks mit einem tollen Arrangement. Mein Ansatz war: Lasst uns keine Angst haben, hoch hinaus zu wollen und es versuchen.

Fiel die Arbeit dir denn leichter als mit Black Midi?

Auf jeden Fall. Wenn man alleine arbeitet, hat man das Gefühl, dass alles möglich ist. Jede falsche Entscheidung, die ich treffe und die das Album ruiniert, ist meine Schuld. Das ist irgendwie ein schönes, beruhigendes Gefühl, denn wen kümmert das schon. Es kommt, wie es kommt. Wenn man mit anderen Leuten zusammenarbeitet und etwas irgendetwas falsch oder nicht so herauskommt, wie man es sich vorgestellt hat, denkt man immer: “Oh, wenn er nur das machen könnte, wenn ich meine Idee nur so hinbekommen hätte.” Wenn man alleine arbeitet, bleibt weniger dem Zufall überlassen.

Würdest du sagen, dass du ein Perfektionist bist?

(Überlegt) Irgendwie schon, aber ich habe eine Tendenz, immer weiterzumachen. Ich habe eine geringe Toleranz dafür, immer wieder an einem Song zu arbeiten. Ich mache keine 30 Takes. Ich bin nicht diese Art von Musiker, weil ich glaube, dass das am Ende nicht viel bringt. Es geht mehr darum, einen wirklich guten Take mit einer guten Energie zu bekommen und zu versuchen, alle Teile, die man braucht, hineinzubekommen und dann weiterzumachen. Es ist besser, 500 Songs zu machen, die nach und nach immer perfekter werden, als in der gleichen Zeit 10 Songs zu machen, die absolut perfekt sind – aber die Songs sind nicht besser geworden.

Am Ende versucht man doch immer, die Energie des Demos einzufangen, richtig?

Genau. Das ist aber ein Problem: Bei diesem Album war es eines der ersten Male, dass wir Songs wie “Holy, Holy” in Brasilien aufgenommen haben. Die letzten Takes dauerten nur eine halbe Stunde, aber die Musiker spielten den Song zum ersten Mal. Es war also im Grunde das Demo. Es ging dann darum, diese Live-Spontaneität einzufangen. Oft kommt es vor, dass man in einer Band arbeitet und den Song schon so oft gespielt hat, dass er bei der Aufnahme schon etwas verloren hat.

Lass uns mal über die Charaktere in den Texten sprechen. Wovon sind sie inspiriert?

Ach, von ganz verschiedenen Sachen, aber vor allem davon, wie sich Leute präsentieren. Da ist dieser selbstgefällige Angeber. Diese Art von modernem Mann. Erinnerst du dich an Andrew Tate? Es gibt diese Zeile “all the jihadis too”, die die Leute nicht zu verstehen scheinen. Ich habe einmal ein Video von Andrew Tate gesehen, in dem er sein übliches Ding machte und dann sagte: “Sogar der IS sieht sich meine Videos an. Einer von ihnen hat mir eine Nachricht geschickt und gesagt, dass meine Videos großartig sind.” Und ich dachte nur: Was für eine seltsame Aussage. An welchem Punkt der Geschichte sind wir angelangt, an dem jemand, der eine Mainstream-Figur ist, den IS zitiert und das toll findet. Das ist so bizarr. Stellen dir mal vor, so etwas würde jemand in einem Club zu einer beliebigen Person sagen. Wie seltsam wäre das in der Realität? Aber im Internet ist so etwas zur Normalität geworden.

Geordie Greep (Foto: Yis Kid)
Jetzt solo unterwegs: Geordie Greep (Foto: Yis Kid)

»Wenn man alleine arbeitet, hat man das Gefühl, dass alles möglich ist.«

Geordie Greep

Inwiefern spielen Musicals auf dem Album eine Rolle?

Ich stehe überhaupt nicht auf moderne Musicals. Ich finde die Art, wie dort gesungen wird irritierend. Eine Sache, die dieses Album wahrscheinlich mit Musicals gemeinsam hat, ist, dass weniger Wert auf guten Geschmack gelegt wird. Bei der meisten Musik, die heutzutage gemacht wird, sind alle besessen davon, Dinge geschmackvoll zu machen machen. Es gibt etwa kein Solo, der Gesang oder der Text sind völlig schmucklos. Bei einem Großteil der Musik, die gute Kritiken bekommt, liegt die Betonung auf Zurückhaltung und nuanciertem guten Geschmack. Wohingegen meine Lieblingsmusik in etwa so ist: “Oh, lass uns einfach dieses verrückte Solo hier einbauen.” (grinst) Und ich mag diese Art von Kreativität, einfach mit den Dingen loszulegen. Das ist es, was Musicals haben. Sie sind bombastisch, es ist ihnen einfach egal. Darin liegt die Ähnlichkeit zu vielen Musicals begründet.

Wie könnte man sich “The New Sound” in einem Musical vorstellen?

Ich denke eher oldschool. Ich mag es, wenn es ein einfaches Bühnenbild gibt. Scheinwerfer, ganz wenig Kulisse. Nicht zu viel Schauspiel, mehr Fokus auf die Musik.

Anzug, schwarze Krawatte…

Ganz genau. Ich mag es klassisch. So wie bei Mackie Messer.

Du spielst heute Abend mit einer Band, die sich Laufe der Welttournee noch ändern wird. Wie läuft das ab?

Mit der jetzigen Band spiele ich seit März und gehe mit ihnen in Europa und im Vereinigten Königreich auf Tour. Vor ein paar Tagen war ich aber in New York und habe mit US-Musikern gespielt. Ich habe sie zum ersten Mal getroffen, wir haben ein paar Mal geprobt und dann vier Konzerte gegeben. Auch da hatte ich vorher ein paar große Fragezeichen im Kopf: Wie soll ich in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Musikern spielen? Aber es war absolut brillant und hat sich wirklich nach Plan entwickelt. Das Konzept, verschiedene Musikstile zu nutzen, hat sich wirklich bewährt. Der nächste Plan ist, nach Japan zu gehen und zu versuchen, eine japanische Band zu finden. In Brasilien habe ich die gleichen Leute, die auch auf dem Album gespielt haben. Überall, wo ich hinkomme, versuche ich also, mit verschiedenen Leuten zu arbeiten.

Und was ist mit deiner alten Band? Denkst du, dass es mit Black Midi jemals weiter gehen wird?

Nun, ich habe es sehr genossen, dieses Album zu machen und Shows zu spielen. Der ganze Ehrgeiz und Ertrag sind viel größer als die Arbeit mit Black Midi während des gesamten Prozesses. Ich werde also weitermachen und sehen, wie es läuft. Und Black Midi? Wenn es einen Grund gibt, die Band wiederzubeleben: Warum nicht? Aber es muss sich wirklich aufregend anfühlen und kann nicht nur um der Sache willen sein.

Ich habe das Gefühl, ihr habt mit euren drei Alben alles gemacht, was ihr machen wolltet.

Ja, richtig. Was kann man denn noch tun? Als das zweite Album herauskam, sagten die Leute: “Wow, das ist ganz anders als das erste, wie geht es jetzt weiter?” Beim dritten Album hieß es dann: “Wow, wie geht es jetzt weiter?” Die Antwort ist: Wir wissen es im Moment auch nicht. Wenn wir es irgendwann wissen, werden wir es sehen. Sag niemals nie, aber ich denke, dass diese “The New Sound”-Sache für mich im Moment spannender ist und ich will es richtig angehen lassen. Außerdem wird es bald ein weiteres Album geben. Ich versuche, es bis Ende des Jahres aufzunehmen.

Wird dein zweites Album dann wieder in eine andere Richtung gehen?

Nein, nein. Es wird weiter in beide Richtungen gehen: Zu reinen Rocksachen wie auf dem ersten Track und dann auch in Richtung des melodischen Songwritings. Ich kann nur so viel sagen: Es wird cool!

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Irgendwas muss schief gelaufen sein bei der Auslieferung von Roboter Rozzum 7134, genannt: Roz. Er landet unausgepackt am Ufer einer Insel. Eine neugierige Otter-Familie schaltet das fabrikneue Metallwesen aus Versehen ein. Fortan lebt Roz als Fremdkörper in der Wildnis unter diversen Tieren – deren Sprachen er bald versteht und gewillt, also: programmiert ist, zu helfen. Nur: Niemand will seine Hilfe. Alle fürchten sich vor dem Eindringling. Als Roz aus Versehen eine Gänsefamilie auf dem Gewissen hat, fühlt sich der Robo fortan berufen, deren Ei auszubrüten. Doch die Aufgabe ist mit dem erfolgreichen Schlüpfen nicht erledigt. Roz ist jetzt Gänsemama und muss zusehen, dem ungeplanten Nachwuchs das Fliegen beizubringen, damit Brightbill vor Wintereinbruch mit den anderen in wärmere Gefilde ziehen kann.

“Der Wilde Roboter” ist gehalten im neuerlichen Animations-Trick-Mix, der weniger auf Fotorealismus bedacht ist. Chris Sanders (“Lilo & Stitch”) erzählt eine vor klugen Einfällen überbordende Geschichte über Freundschaft und Fürsorge, verhandelt dabei das Ausgestoßen- und Anderssein. Das ist so ernsthaft wie rührend, so süß wie tragisch. Ein ganz großer Wurf. Und während im Original Lupita Nyong’o Roboter Roz synchronisiert hat (neben Kollegen wie Pedro Pascal und Matt Berry), tut das “Tagesschau”-Queen Judith Rakers in der deutschen Version.

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Leider will “Hold Your Breath” nicht recht in die Spur finden. Szenen von gänzlich unterschiedlicher Tonalität folgen zu rasch aufeinander. Dazu geht das Medley von verschiedenen Horror- und Drama-Genres nicht recht auf. Da hilft es obendrein nicht, dass falsche Fährten gestreut werden und sich Angedeutetes einfach in – wortwörtlich – Staub auflöst. Was bleibt ist ein das atmosphärische Setting und Sarah Paulson, die “Hold Your Breath” über den Durchschnitt heben.

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