Die “Talking Heads: 77 (Super Deluxe Edition)” soll aus vier LPs, vier 7-Inch-Singles und einem 80-seitigen Hardcover-Buch bestehen, alternativ wird auch eine Version mit drei CDs und einer Blu-Ray angeboten. Neben dem Debütalbum der Talking Heads selbst, beinhaltet die Reissue auch Demos, Outtakes und einige bislang unveröffentlichte Songs. Mit dabei ist unter anderem eine Neuauflage der Akustik-Version von “Psycho Killer”, in der der verstorbene Cellist Arthur Russell zu hören ist.
Talking-Heads-Frontmann David Byrne erklärt zu der Zusammenarbeit: “Wir kannten Cellist und Singer/Songwriter Arthur Russell aus der Downtown World. Er ist früh an AIDS gestorben und hat zeit seines Lebens viele unterschiedliche Alben veröffentlicht […]. Er ließ ein riesiges Erbe an Alben zurück[…]. Ich habe [“Psycho Killer”] immer eher als ein etwas intimeres Folk-Rock-Ding gesehen, als den Rocksong, den die Leute zu lieben scheinen. Deshalb hatte ich eine besondere Verbundenheit zu dieser Version.”
Die anderen beiden LPs und die dritte CD beinhalten Live-Aufnahmen eines Konzerts der Talking Heads vom 10. Oktober 1977 im legendären New Yorker Club CBGB. Im Buch, das der Box beiliegt, sollen unveröffentlichte Fotos, Flyern, Artworks und Liner Notes von allen Bandmitgliedern und dem ursprünglichen Toningenieur Ed Stasium zu finden sein.
Auf der Blu-Ray sollen sich Dolby-Atmos-Versionen, Dolby-5.1-Versionen und eine hochauflösende Stereo-Version von “Talking Heads: 77” befinden. Beide Versionen erscheinen am 8. November und sind über den Bandshop vorbestellbar. Die Vinyl-Variante kostet umgerechnet knapp 135 Euro, die Version mit CDs und der Blu-Ray gib es umgerechnet ab circa 90 Euro.
Vorheriges Jahr haben sich die Talking Heads anlässlich des 40-jährigen Jubiläums ihres Konzertfilms “Stop Making Sense” für ein Interview zusammen getan, das erste Mal seit über 20 Jahren. Seitdem sollen unter anderem Live Nation der New-Wave-Band über 70 Millionen Euro für eine Reunion-Tour angeboten haben. Die Band hatte abgelehnt.
Heute startet mit dem Reeperbahn Festival wieder Europas größtes Event für Newcomer:innen. Im Rahmen des viertägigen Clubfestivals veranstaltet Epitaph mit seinen Sublabels Anti- und Hellcat am Freitag ein Benefiz-Showcase im legendären Molotow. Es treten auf: das Londoner Genre-Chamäleon Sam Akpro, die Indie-Shoegazer Late Night Drive Home und die Indie-Punk-Kombo Rat Boy. In Kooperation mit VISIONS wollen die drei Labels am Freitagabend insgesamt 5000 Euro für die Seenotrettung im Mittelmeer sammeln. Über sea-watch.org kann bereits gespendet werden. Der Fundraiser von Sea-Watch wird noch bis Ende des Jahres fortgeführt.
Mitgebracht hat das Team von Epitaph außerdem eine ganze Reihe spezieller Merch-Gegenstände und teils signierte Testpressungen, die sie ab 19 Uhr am Freitag an ihrem Stand im Molotow verkaufen. Der Erlös geht ebenfalls an Sea-Watch. Angeboten werden unter anderem von Architects-Frontmann Sam Carter signierte Testpressungen seiner Band, ein unterschriebenes Rancid-Skateboard, (signierte) Skatedecks von Parkway Drive, Millencollin und den Descendents, sowie Slipmats, Boxsets, Pintgläser von Frank Turner und Ausgaben des Buches von Touché Amoré. Weitere Testpressungen ohne Unterschrift werden unter anderem von NOFX, Bad Religion, Dag Nastry, RKL, Pennywise und Samiam angeboten.
Alle weiteren Infos zum Epitaph-Event “Make Noise For Safe Passage” findet ihr hier. Alles zu den drei aufstrebenden Label-Newcomern findet ihr in unserem Vorbericht zum Showcase-Abend.
Im Grunde ist es im Jahr etwas zu früh für den elegant nostalgischen Prog-Pomp von Meer. Er passt eher in den Herbst. Auf “Wheels Within Wheels” (Karisma, 23.08.) , dem dritten Album der Norweger, schärft die Band um die Geschwister Johanne-Margrethe und Knut Kippersund Nesdal ihre Stilmelange aus orchestralem Pop und klassischem Progrock weiter und überschreitet ein paar Mal die Grenze zum gutgemeinten Kitsch, ganz so wie es Muse und Biffy Clyro seit Jahren tun. Das Wohltuende an Meer ist die konsequente Integration von Streichern, die nicht nur Feature, sondern fester Bestandteil des Ensembles sind, wie die hymnische Single “Behave” eindrücklich demonstriert. Für Fans von Big Big Train, Einar Solberg oder Gazpacho könnten Meer eine Offenbarung sein.
Der Schritt zum neuen Album von Ty Segall könnte nicht größer sein, denn weder hat dieser etwas mit Prog am Hut, noch ein großes Ensemble im Rücken. Im Gegenteil widmet sich der Sänger und Gitarrist auf “Love Rudiments” (Drag City, 30.08.) seiner ersten musikalischen Liebe, dem Schlagzeug. In vier instrumentalen Szenen collagiert Segal Drum-Patterns, Percussion, Vibrafon und spärliche Elektronik zu Songgebilden. Dabei stehen auf jeden Fall zusammenhängende Strukturen im Fokus, nicht der sinnfreie Soloexzess an einem Instrument, das zu Improvisation geradezu einlädt. Segall stellt sich der Herausforderung, nur mit Percussion interessante Musik zu kreieren und triumphiert.
Der Improvisation liefern sich hingegen Kungens Män vollständig aus. Das schwedische Sextett wandelt in den vier Longtracks ihres Albums “För Samtida Djur 2” (Majestic Mountain, 30.08.) auf den Spuren von Can und Faust. Der zweite Teil ihres Konzeptwerkes “für zeitgenössische Tiere” ist eine freigeistige Meditation mit motorischen Rhythmen und wenig tonaler Variation. Krautrock ist die vielbemühte Klammer um das, was die Formation hier ausbreitet. Leider machen diese 40 Minuten aus Ein-Akkord-Jams nicht wirklich Spaß, eher gibt sich die Band einer Form von gepflegter Langeweile hin, die mutmaßlich nur sie interessiert. Man kann den Geist der Pioniere beschwören, aber ein zweites “Tago Mago” nicht aus dem Ärmel schütteln.
Schon einfacher ist der Ansatz von Craig Klein, der sein Soloprojekt Ohr deutlich an Kraut- und frühe britische Elektronik der 80er anlehnt. Das zweite Album “Afterglow” (Headstate, 30.08.) sprüht vor Reminiszenzen an The Stone Roses, Happy Mondays, Depeche Mode und Erasure. Der trashige Homerecording-Sound der Tracks gibt dem gesamten Album die Aura einer LoFi-Produktion von Techno-Punks. Die Realität hingegen ist eine andere, verarbeitet Klein doch auf “Afterglow” den plötzlichen Tod seines Vaters. Dieser war selbst großer New-Age- und Krautrock-Fan, was die sporadischen Verweise auf Tangerine Dream erklärt. Gemessen am existentiellen Ballast, den Klein in der Produktion mit sich herumtrug, ist “Afterglow” dennoch ein wunderbar sonniges Album geworden.
Auch die Wahl-Berliner Zoon Phonanta, mit Wurzeln in Wales und Dänemark verbeugen sich stilistisch vor der Ära der Kosmischen Musik. Das Trio aus Bass, Schlagzeug und Synthesizer hält Vergleichen mit Zombi, Majeure oder Maserati ebenso stand wie es sich bei der Ästhetik von John Carpenter und Jean-Michel Jarre bedient. Schichten aus voluminösen Analog-Synthesizern, blubbernde Sequenzer und gelegentlich durchs Bild huschende Gastgesänge von Gemma Rey machen “Zoon Phonanta” (Bronzerat/Rookie, 30.08.) zu einem angenehmen Nostalgietrip für die einen und zu einer neuen Klangdimension für Kinder des Digitalzeitalters.
In einem umfassenden Statement berichtet Johnny Marr von den Vorwürfen, die sein ehemaliger Bandkollege Morrissey gegen ihn gemacht hat – allen voran zum markenrechtlich geschützten Namen der Band: “2018, nachdem eine dritte Partei versucht hatte, den Namen The Smiths zu verwenden – und nach der Entdeckung, dass der Markenname nicht im Besitz der Band war – wandte sich Marr über seine Vertreter an Morrissey, um gemeinsam den Namen The Smiths schützen zu lassen.” Morrissey soll auf die Anfrage nicht geantwortet haben, weshalb Marr die Marke selbst eingetragen ließ, allerdings gemeinsam mit Morrisseys Anwälten vereinbarte, dass die Marke “zum gegenseitigen Nutzen” beider Parteien gehalten wird.
Anfang des Jahres soll Marr dann “als Geste des guten Willens” eine Abtretung der gemeinsamen Eigentumsrechte an Morrissey unterzeichnet haben – welches bislang allerdings ebenfalls nicht von Morrissey unterschrieben wurde. Marr sieht sich entsprechend selbst in der Verantwortung, den Bandnamen zu schützen.
Weiter hatte Morrissey seinem ehemaligen Bandkollegen vorgeworfen, Angebote für eine Reunion-Tour ignoriert zu haben: “Was das Angebot einer Tour angeht, ich habe es nicht ignoriert – ich habe nein gesagt”, so Marr. Weiter nimmt er auch anderen Gerüchten den Wind aus den Segeln, die ihm vorgeworfen hatten, eine Tour mit einem neuen Sänger zu planen. Ebenfalls von Marr abgelehnt: eine weitere The-Smiths-Best-Of-Platte, “mit Hinblick auf die bereits existierende Anzahl.”
Ende August hatte Morrissey auf seiner Webseite ein Statement veröffentlicht, in welchem er behauptete, dass Marr ein “lukratives Angebot für eine weltweite Tournee als ‘The Smiths'” ignoriert hätte. Kurz zuvor hatte Marr auf seinem X-Account auf eine Fan-Anfrage zu einer Smiths-Reunion reagiert, aber statt einer eindeutigen Antwort, nur ein Foto des rechtspopulistischen Politikers Nigel Farage kommentiert.
In der Touristeninformation von Bischofswerda wird man sehr freundlich begrüßt, was gibt es auch Schöneres, als einem Ortsfremden die Schönheiten der Heimat vorzustellen. Das “Tor zur Oberlausitz” mit seinen 12.000 Einwohnern hat in dieser Beziehung einiges zu bieten. Den frisch restaurierten Altmarkt zum Beispiel mit seinem klassizistischen Rathaus, den Tierpark und das Apothekenmuseum, den Evabrunnen und die Waldbühne, auf der jedes Jahr die kleinsten Karl-May-Festspiele Deutschlands stattfinden, aufgeführt von jugendlichen Darsteller:innen. Aufgelassene Steinbrüche verteilen sich rund um die Stadt, der mit Wasser gefüllte Steinbruch Bolbritz ist bei Anhängern von “Wildswimming” besonders gefragt. Hier kann man von sonnenbeschienenen Felsen in klares tiefes Wasser springen und sich wie in einer Kurzgeschichte von Stephen King fühlen – in einer von denen, die gut ausgehen. Geschichtsnerds wissen außerdem um die “Operationsbasis Bischofswerda”, auf der die Sowjets seinerzeit einen Raketenstützpunkt samt Atomwaffendepot unterhielten. Wie schon gesagt: ein echtes Idyll.
Auch Team Scheisse waren schon im Steinbruch schwimmen. Weil Bautzen, der Schauplatz ihres gestrigen Auftritts, nicht weit entfernt liegt, ergab sich ein halber freier Tag für die Band, der sonnenbadend am Felsenstrand verbracht werden wollte. An der Natur und an der Wasserqualität hatten die Bandmitglieder auch nichts auszusetzen; eher schon an den Hakenkreuzschmierereien, die man hier ebenfalls finden kann, oder an den teils fragwürdigen Tattoos anderer Badegäste. Nun sitzen Teile von Turbostaat und Team Scheisse auf einem zusammengezimmerten Holzbalkon direkt über der wahren Sehenswürdigkeit von Bischofswerda, dem East Club. Der Laden mit dem schönen Slogan “Party und Kultur – trotz Kleinstadt” existiert seit 1994 und bot schon so illustren Gästen wie Placebo, Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet, Antilopen Gang, Element Of Crime und Olli Schulz, aber auch Biohazard, Napalm Death und Cannibal Corpse eine Bühne. Für den Herbst stehen Auftritte von Waltari, Pro-Pain und Six Feet Under an, dazwischen gibt es Ü-30-Party und Comedy-Programm. Möglich gemacht wird all dieses Engagement von Betreiber Heiko Düring, ihn sollte man eigentlich interviewen, finden die beiden Bands.
Fit in der Birne
Stattdessen sitzen sie nun selbst da: Timo Warkus (Gesang), Lulu Henn (Gitarre) und Simon Barth (Schlagzeug) von Team Scheisse sowie Jan Windmeier (Gesang) und Marten Ebsen (Gitarre) von Turbostaat. Ihre Vier-Tage-Tour führt sie durch Bautzen, Bischofswerda, Saalfeld und Leipzig und trägt den Namen “Prost!”. Mit der Betonung auf Ost. Dass sie direkt im Vorfeld der Landtagswahlen anberaumt worden ist, ist kein Zufall, denn als bekennende Demokratieförder:innen und Nachrichtenkonsument:innen ist es allen Beteiligten natürlich nicht entgangen, dass sich vor Ort eine bedenkliche politische Schieflage entwickelt hat, die zukünftig noch schiefer zu werden droht. Beide Bands sind auch schon auf dem Jamel rockt den Förster in Mecklenburg-Vorpommern aufgetreten, wo man das Endstadium dieser Entwicklung betrachten kann: ein einzelnes resolutes Ehepaar umzingelt von völkischer Nachbarschaft in beängstigend etablierten Strukturen. Windmeier ordnet den Unterschied ein. “In Jamel ist es nicht so wie hier, wo wir für die Leute spielen, die noch irgendwie fit in der Birne sind”, sagt er. “Dort ging es direkt darum, Aufmerksamkeit zu erregen: Seht her, das passiert direkt vor Ort! Weil diese Menschen ganz alleine sind.”
In Bischofswerda und anderswo ist man noch nicht ganz so alleine, auch wenn die aktuellen Wahlergebnisse in eine gewisse Richtung deuten. Die AfD konnte mit 46,1 Prozent der Erststimmen und 39,3 Prozent der Zweitstimmen (zum Vergleich: Grüne 1,5 Prozent) ein Rekordergebnis einfahren, bei der Stadtratswahl im Juni entschieden sich bereits 37,2 Prozent für die rechtsextreme Partei. In anderen sächsischen Gemeinden und im Nachbarbundesland sieht es ganz ähnlich aus. “Anlässlich der Krönung der blau-roten Arschgeigen zu den Herrschern von Thüringen haben wir uns bemüht, ein paar Konzerte an unterstützenswerten Orten zu spielen, damit ihr ihnen all euer Geld dalasst. Prost!”, schrieben Team Scheisse und Turbostaat schon im Vorfeld, vor Ort werden sie ein bisschen ausführlicher. “Es gibt keine Antwort auf die Frage, weshalb die AfD hier so viel mehr Stimmen holt als beispielsweise in Bremen, das sind viele Faktoren”, meint Warkus. “Uns ging und geht es immer noch nur darum, dass es diese Orte gibt, ganz egal wo sie sind. Und dass die wichtig sind. Dass wir sie gerne bespielen, weil wir wissen, dass uns die auch zu den Menschen gemacht haben, die wir sind. Diese Orte sterben schon seit Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen weg. Dann kam noch eine Pandemie dazwischen und dazu die ganze Nazi-Kiste. Aber dass es diese Orte nach wie vor gibt, finde ich fantastisch. Die Leute, die sich jeden Tag den Arsch aufreißen. Das zu unterstützen, ist mir wichtig. Und wenn wir dann auch noch ein tolles Konzert spielen, freue ich mich.”
In Bautzen hat das bereits funktioniert. Dort traten Turbostaat und Team Scheisse im überregional bekannten Steinhaus auf, und dank Internet ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. “Mich hat gestern schon 20 Minuten nach dem Konzert ein Dankeschön erreicht, dass wir hier vorbeigekommen sind und dass die Leute hier eine gute Zeit gehabt haben”, sagt Windmeier. “Jemand schrieb uns, bevor wir gespielt hätten, hätte er gar nicht gewusst, wie sehr er dieses Konzert gebraucht hätte.” Und Lulu Henn ergänzt: “Der Veranstalter hat sich so oft bei uns bedankt, dass wir da sind. Und wir haben uns so willkommen und wohl gefühlt. Wenn sich die Leute denken: Hier war ein geiles Konzert, hier gehen wir wieder hin – das macht ja auch etwas für eine Region, und das fühlt sich schon extrem richtig an. Die Columbiahalle in Berlin braucht uns nicht zum Überleben. Aber kleine autonome Läden, wo ganz viel DIY ist, freuen sich natürlich, wenn zwei so angesagte Bands wie wir vorbeikommen.”
Das mit den angesagten Bands spricht Henn sehr ironisch aus, schließlich sind Turbostaat und Team Scheisse trotz dahingehender Ambitionen bisher noch nicht als Chartstürmer in Erscheinung getreten. Entsprechend humorvoll gehen sie auch auf die Frage ein, was die beiden Bands am Sonntagabend zu tun gedenken, wenn um 18 Uhr die ersten Hochrechnungen verlautbart werden. “Dann gucken wir mal, ob wir sie beeinflusst haben”, sagt Warkus, und Simon Barth scherzt: “Dazu müssten wir aber vielleicht 20 Konzerte geben und nicht nur vier.” Bei allem Galgenhumor spricht die Band damit eine Problematik an, die sich zuletzt auch im journalistischen Umgang mit dem Thema gezeigt hat. Ähnliche Anti-AfD-Touren durch den Osten der Republik gab es bereits von Feine Sahne Fischfilet, den Beatsteaks, Samy Deluxe und vielen anderen, ähnliche Berichterstattung auch. Von “parachute journalism” ist da manchmal die Rede, also vom Reporter, der sich per Fallschirm über dem sächsischen Urwald abwerfen lässt, ein paar Eingeborene zum Interview aufspürt, nur um dann wieder zu entschweben und den Zeitungslesern dieser Welt die haarsträubenden Sitten und Gebräuche eines zivilisationsfernen Volkes näherzubringen. Oder so ähnlich.
»Punk kann schon gegen das System sein, aber dann kommt meistens kein Vorschlag mehr, wie es stattdessen sein soll.«
Lulu Henn, Team Scheisse
“Über diese Überheblichkeit haben wir uns im Vorfeld viele Gedanken gemacht”, sagt Henn. “Wie wir das eben nicht so kommunizieren. Von wegen: Die Wessis kommen jetzt hier in den Osten und erklären euch mal, wie man es richtig macht. Der Zeitpunkt so kurz vor den Wahlen ist natürlich bewusst gewählt, aber trotzdem bilden wir uns nicht ein, dass wir hier etwas verändern. Wir spielen vor Leuten, die sowieso schon ein linkes Mindset haben.” Und denen hier deswegen unter Umständen ein anderer Alltag begegnet als etwa in Leipzig oder Hamburg. “Gestern in Bautzen hatte der Veranstalter den Wunsch, dass wir den Leuten sagen, sie sollen nicht alleine zurück zum Bahnhof gehen”, berichtet Henn. “Für mich hat sich das ehrlich gesagt ein bisschen komisch angefühlt, denn da waren natürlich auch Bautzenerinnen und Bautzener im Publikum, und ich weiß nicht, wie die das wohl so fanden, wenn wir denen sagen: ‘Ey, ihr müsst hier voll aufpassen!’ Dann wiederum hatte der Veranstalter ja die Erfahrung gemacht, dass da irgendwelche Nazis draußen rumhängen und die Besucher:innen mindestens bedrohen.”
Ist in Bautzen zu spielen also anders als in Koblenz zu spielen? “Eigentlich nicht”, sagt Barth. “Ich will nicht alles relativieren, aber linke besetzte Zentren und selbstorganisierte Orte oder grundsätzlich Orte, die ein großes soziales Engagement zeigen, haben überall Probleme. Natürlich nicht die gleichen Probleme, natürlich nicht die gleiche Heftigkeit oder Bedrohlichkeit. Aber ob man in Hamburg von einem Immobilienhai vertrieben wird oder die Polizei einem das AZ räumt oder das Geld ausgeht oder die Nazis einen bedrohen – dagegen muss man immer kämpfen. Ich finde es krass, dass so etwas wie ein ganz normales Konzert fast schon bedrohlich oder superpolitisch wird. Ich will nicht sagen, dass wir eine unpolitische Band sind, aber letzten Endes ist es auch nur auch Konzert.” Das mag sich für die Bands so anfühlen, für das stabil gebliebene Publikum abseits der großen Städte hier im Osten der Republik kann es sich manchmal anfühlen wie der kleine Sonnenfleck, der über eine feuchte Wand wandert. Und auch Henn hat bemerkt: “Wahlplakate, die bei uns oben hängen, damit sie nicht abgerissen werden, hängen hier unten. Und die, die bei uns unten hängen, müssen hier ganz oben aufgehangen werden.” Das Zauberwort heißt AfD.
Siebdruck für die Demokratie
Was genau die AfD ist, will oder darstellt, darüber kann man sich seit etwa zehn Jahren etwa zehntausend Artikel zu Gemüte führen. Ist sie einfach nur die europakritische Partei, als die sie gestartet ist? Ist sie ein Sammelbecken für Protestwähler und Politikverdrossene, die genug von der Bevormundung durch ihre Mitbürger haben? Ist sie eine Partei für Besserverdiener und solche, die es werden wollen, wie es das Wahlprogramm nahelegt? Ist sie eine Anlaufstelle für Rassisten und Fremdenfeinde, die Björn “Bernd” Höcke für einen großen Denker halten? Ist sie eine Partei für Ostdeutsche, die nach DDR-Diktatur und Treuhand-Debakel endlich mal selber diejenigen sein wollen, die sich und ihre Kommunen in die Scheiße reiten? Ist sie eine Partei für alle, die ganz allgemein glauben, dass das Rädchen, das am lautesten quietscht, am Ende das Öl bekommt? Oder ist sie eine Partei der 18-bis-24-Jährigen (in Thüringen wählten 38 Prozent von ihnen die AfD), die finden, dass man Faschismus sozialverträglich dosieren kann, sodass kein Gendersternchen mehr das Heimatgefühl stört?
“Das Wort Heimat ist durch, das ist ruiniert”, sagt Barth. “Ich habe das wirklich noch nie in einem Kontext gehört, in dem das irgendwie klarging.” Der Schlagzeuger vermutet als Hauptgrund für das Erstarken der Rechtsextremen strukturelle Probleme, die sich früher oder später auch in soziokulturelle Aspekte übersetzen. “Die Orte, die immer richtige Probleme haben, sind wirtschaftliche Problemregionen, die aus strukturellen Gründen komplett hinterher sind”, sagt er. “Ich glaube, Ostdeutschland hat aktuell mehr alte Leute als Japan. Und wenn dann einmal solche Bewegungen anfangen, dann gehen auch noch alle jungen Leute weg. Wenn man dann auf einmal keine Jobs mehr findet und alle Läden zu machen und dann auch noch alle wegziehen, die sowieso noch mal eine andere Meinung gehabt hätten. Aber wenn du das noch mal professioneller hören möchtest, sprich nicht mit irgendwelchen Punkbands, sondern vielleicht eher mit Politikstudenten.” Henn: “Man darf das nicht in Schutz nehmen – kein Mensch muss Nazi sein. Aber wenn ich für mich selber spreche: Ich komme aus einer sehr privilegierten Situation. Mir wurde Motivation beigebracht, mich zu bilden und Sachen kritisch zu hinterfragen. Diesen Luxus hat nicht jeder. Teile Ostdeutschlands sind aus historischen Gründen strukturell und wirtschaftlich immer noch schwächer als Westdeutschland. Da wachsen die Leute anders auf, da passiert so etwas schneller. Das ist ein Problem, das wir alle haben und an dem wir gesamtgesellschaftlich arbeiten müssen.” Barth: “Historisch bedingt ist das fast schon ein bisschen verharmlosend. Das war eher politisch bedingt. Das waren Entscheidungen, die man auch anders hätte treffen können. Der Frust der Leute ist komplett verständlich.”
Marten Ebsen gibt zu bedenken, dass ihm dieser Frust, aber auch die Gewaltbereitschaft bekannt vorkommen – und eben nicht nur aus Ostdeutschland und nicht nur aus der Gegenwart. “Als wir jung waren, habe ich das ehrlich gesagt ähnlich empfunden als jetzt”, sagt er. “Da war die Wiedervereinigung, Deutschland war Weltmeister geworden, in Rostock-Lichtenhagen haben sie das Sonnenblumenhaus angezündet, in Solingen das einer türkischen Familie. Da gab es hier überall Pogrome, und die CDU hat gleich gesagt, das Problem wären die Ausländer. Das war genau die gleiche Scheiße. Bloß damals gab es mit der DVU eine rechte Partei, die so altbacken und deutschtümelnd war, dass die keiner so richtig wählen wollte. Das war damals noch nicht mehrheitsfähig.” Warkus: “Und das ist gerade das Gefährliche: die schweigende Mehrheit, die Wut-Christen, die eigentlich nichts aber irgendwie doch was gegen Ausländer haben. Und die sind jetzt eine größere Masse geworden, weil sie sichtbar geworden sind. Die AfD und ihre ganzen Schergen haben normalisiert, dass bestimmte Themen auf diese Weise besprochen werden. Und genau diesen Salat haben wir jetzt über die vergangenen Jahre. Aber ich glaube auch, dass Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie immer da waren. Und die kriegt man wahrscheinlich auch nicht weg.”
Die dezentrale Lage mancher Regionen, das Lohn- und das Wohlstandsgefälle, die rechte Filterblase, aber auch der Mangel an persönlichem Engagement, der Alternative eine Alternative zu bieten, kann vielerorts den Eindruck verstärken, dass es schon das Höchste der Gefühle ist, mit ausreichend Grillgut und Deutschlandflagge im Garten im eigenen Saft zu schmoren. „Wenn man in der Familie, im Freundeskreis, im Dorf überhaupt kein positives Vorbild hat, dann ist man doch mit dem Freiwillige-Feuerwehr-Heil-Hitler-Scheiß gut aufgehoben”, sagt Warkus. “Diese Menschen sind ohne Vorbilder wahrscheinlich nicht mehr zu erreichen. Und da grenzt es sich dann auch ganz leicht ab: Wir sind die braune Burschenschaft gegen die Regenbogen. Dann weiß man schon: Die werden nie ein gutes Gespräch mit einem schwulen Mann führen, weil sich das gar nicht ergibt. Und das ist auch ein Grund, warum diese Orte wie das Steinhaus in Bautzen so geil sind, weil die eben Begegnungszentren sein können. Klar, nicht für die Super-Verlorenen, die sind wahrscheinlich im Arsch. Aber wenn man als junger Mensch hierherkommt und merkt: ‘Hey, ich kann hier Siebdruck machen – geil!’, dann führt das zu einem besseren Ergebnis als wenn man sagt: ‘Oh, ich bin alleine; alles, was ich habe, sind der Korn und Störkraft.'”
Sozialarbeiter mit Erziehungsauftrag
Dass es auch anders geht, davon kann man sich am Abend im East Club ein Bild machen. Als die Sonne untergeht und die Temperaturen auf ein angenehmes Niveau absinken, beginnt sich der Rasen vor dem Venue zu füllen. Manche Besucher:innen kommen direkt vom Bahnhof, andere zu Fuß, sternförmig aus der ganzen Stadt, die mit unaufdringlichen Konzertankündigungen aus dem Fotokopierer tapeziert ist. Die Stimmung ist ausgesprochen gelöst, mindestens so freundlich wie in der Touristeninformation, und von einer prickelnden Vorfreude geprägt. “Ich glaube, dass alles einen Unterschied macht, dass jeder einen positiven Unterschied machen kann”, hatte Jan Windmeier gesagt, jetzt steht er mit seiner Band auf der Bühne und deutet an, wie das aussehen beziehungsweise klingen kann. Der East Club ist ausverkauft und segelt wie ein voll beleuchtetes Schiff über die Kleinstadt hinweg, der Nachthimmel “Ein schönes Blau”, wie es im gleichnamigen Turbostaat-Song heißt. “Der Tag zu lang und ein Leben viel zu kurz/ Wir können überall sein, nur nicht hier”. Oder, ganz im Gegenteil: genau hier.
Anschließend ist es Zeit für Team Scheisse. Das Bier an der Bar heißt Wilder Mann, und genau so muss man sich auch die Darbietung von Timo Warkus vorstellen. Der Sänger mit dem Vollbart und dem Gesichtstattoo springt in kurzen Hosen über die Bühne, nur um dann immer wieder innezuhalten und beschwörend die Hand Richtung Publikum zu heben. Sein Sprechgesang trifft genau den richtigen Ton zwischen Sozialarbeiter und Ironieerfinder. Der Sozialarbeiter informiert die Besucher zwischendurch, dass es nicht gewünscht ist, Männer ohne T-Shirts herumpogen zu sehen, der Ironieerfinder intoniert kurz darauf einen Song namens Ich fahr die Lok, der das bekannte Straßenbahndilemma am Beispiel Christian Lindner erklärt. Dann ist es Zeit für den FLINTA-Pit, anmoderiert von Gitarristin Lulu Henn, die das Konzept noch einmal erläutert: Kreis bilden, Platz lassen, für genau die Wohlfühlatmosphäre sorgen, an die sonst nicht sehr oft gedacht wird, wenn das Denken von Cis-Männern übernommen wird.
Dass der FLINTA-Pit ein integraler Bestandteil der Team-Scheisse-Philosophie ist, gehört genauso zum politischen Engagement der Band wie die “Prost!”-Tour selbst. “Ich habe mich schon immer als Feminist bezeichnet”, sagt Simon Barth. “Aber mir ist nicht klar gewesen, wie problematisch die Situation vor der Bühne für FLINTA-Menschen sein kann, selbst bei Punk-Konzerten, die ich teilweise mitorganisiert habe. Bis wir hinterher mal mit der Security geredet oder Kommentare via Instagram bekommen haben. Belästigungen, Schlägereien, Leute, die sich besoffen danebenbenehmen – davon gibt es bei jedem Konzert zehn Stück. Ich dachte, wir wären hier irgendwie die coolen Linken und alles ist irgendwie tutti. Nee, ist es irgendwie überhaupt nicht. Und das hat mich schockiert.” Der Schlagzeuger erkennt aber auch Verbesserungen. “Seit wir mehr darauf achten, seit wir FLINTA-Pits machen, hat sich die Quote der Vorfälle auf Konzerten sowas von verringert, und auch der Anteil von Frauen ist größer geworden”, sagt er. “Wenn manche Leute Wörter wie ‘FLINTA-Pit’ schon hören, dann kommen die vielleicht schon gar nicht mehr. Und wir sagen dazu: ‘Top! Bleibt zuhause!'”
Für Henn ist es ein Stichwort, auf das sie nur gewartet zu haben scheint, auch im Hinblick auf den erzieherischen Auftrag, um den sich ihre Band nicht herumdrücken will. “Unsere Texte sind oft nur auf den zweiten Blick politisch”, sagt sie. “Aber gleichzeitig glaube ich, dass alles zusammenhängt. Gewaltbereite Faschos sind meistens Männer, und wenn man den Feminismus ein bisschen weiter pusht oder den Leuten sagt: ‘Guckt mal nach euren Freunden, wer macht da gerade einen sexistischen Spruch?’, dann hilft das. Dass die Leute auch ein bisschen intersektionaler denken, nicht nur bei sich selber, sondern auch bei ihren Freunden, die vielleicht auch mal irgendetwas Problematisches sagen. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass wir diese Bühne haben und da auch diese Art von Informationen, Aufrufe, Denkanstöße verteilen können. Wir kriegen ganz oft die Rückmeldung, dass sich vor allem FLINTA-Personen auf unseren Konzerten ungewöhnlich wohl fühlen durften, was ihnen sonst oft verwehrt ist.”
Eine der schönsten Rückmeldungen kam zuletzt beim Rock am Ring, als Team Scheisse zwei oberkörperfreie Männer vor der Bühne aufforderten, sich doch bitte T-Shirts überzustreifen, und die ganze Menge “Anziehen! Anziehen!” skandierte. “Wir haben schon darüber geredet, dass wir unser Publikum so ein bisschen dahin erziehen können”, sagt die Gitarristin, die hier auch keine Laissez-faire-Attitüde gelten lässt. “Punk kann schon gegen das System sein, aber dann kommt meistens kein Vorschlag mehr, wie es stattdessen sein soll”, sagt sie. “Das System ist scheiße, also saufen wir uns die Birne weg? Das ist ein bisschen wenig. Ohne überheblich zu sein: Ich finde es cool, da ein bisschen mehr Inhalt reinzubringen. Darüber haben wir gestern auch geredet: Turbostaat sind so ein bisschen mehr für die Intellektuellen, und Team Scheisse sind so ein bisschen mehr für die Dullis. Das ist aber eine geile Kombi, finde ich. Damit bestimmte Leute abzuholen und trotzdem einen gewissen Einfluss zu haben, das ist für mich einfach ein Sechser im Lotto.”
Am nächsten Tag machen sich die Dullis und die Intellektuellen auf den Weg nach Saalfeld in Thüringen. Innerhalb von 72 Stunden haben Freiwillige dort eine Bühne auf die Festwiese gehext. Für die darf ein gelungenes Open Air auch gerne nur einen Abend dauern, solange das Line-up aus Turbostaat, Team Scheisse und Valy & The Vodkas besteht. War der Auftritt im East Club vor allem von hemmungsloser Energie bestimmt, kommt in den Saaleauen auch die humorvolle Seite der Bands zum Vorschein. Henn beschwert sich über das lokale Bier, getrunken wird es natürlich trotzdem. Der FLINTA-Pit wird gleich mehrmals ausgerufen, auch Valy und ihre Vodkas sind mit dabei. Auffällig ist der Optimismus, der in die Nacht versprüht wird wie die Funken eines Lagerfeuers. Barth kann es manchmal selbst kaum glauben. “Es ist ja eigentlich der Ursprung des Punk, da wesentlich destruktiver dranzugehen”, sagt er. “Die einen waren immer eher nihilistisch unterwegs, die anderen eher mit dem Zeigefinger. Dazwischen spielt sich dann alles ab, auch bei uns.”
»Jemand schrieb uns, bevor wir gespielt hätten, hätte er gar nicht gewusst, wie sehr er dieses Konzert gebraucht hätte.«
Jan Windmeier, Turbostaat
Auf die Frage, inwieweit Musik wie die von Turbostaat und Team Scheisse eigentlich prädestiniert dafür ist, positive Botschaften zu transportieren, antwortet Warkus: “Diese Art von Musik hat eine energetisierende Intensität, das kann man für rechte Propaganda nutzen oder wie wir für linke – aber die Musik ähnelt sich. Die ist auch mehr als ein Vehikel für Parolen. Ich will ja nicht Wahlkampf für die Linke machen. Am Ende ist es schon Ausdruck meiner Seele.” Pragmatischer sieht es Henn, gerade was Optimismus versus Nihilismus im Punk angeht. “Als weißer Cis-Mann aus einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse ist es leicht zu sagen: ‘Ich gebe auf!'”, sagt sie. “Weil man ja nicht betroffen ist. Aber alle BIPoC-Menschen, FLINTA-Personen oder solche mit Behinderung schon. Es müssen sich alle Nichtbetroffenen für die Betroffenen einsetzen, sonst gibt es keinen Wandel. Alle müssen sich dafür einsetzen, dass alles anders wird. Ich als Frau habe sowieso Angst um mein Leben, wenn ich nachts allein nach Hause muss, auch in Hamburg. Wenn man so wie ich als Feministin und als Veganerin sowieso an mehreren Fronten kämpft – was bleibt einem dann anderes übrig als optimistisch zu sein?”
Jazz ist anders
Dass das in Zukunft nicht leichter werden wird, zeigt auch das letzte Konzert der Minitour. Ursprünglich für das sächsische Glaubitz anberaumt, muss der Termin relativ kurzfristig nach Leipzig verlegt werden, und zwar ins deutschlandweit bekannte Conne Island. Unerwartet hohe Produktionskosten hatten den Auftritt unrentabel erscheinen lassen, doch der Unterstützergedanke bleibt bestehen, sodass die Ticketerlöse aus Leipzig am Ende trotzdem dem JUZ Kombi Nünchritz und dem Back To Future Festival in Glaubitz zu Gute kommen werden. Für den Interviewtermin gesellt sich zu den üblichen Verdächtigen diesmal auch Paul Wiedemann vom Conne Island dazu, und es dauert nicht lange, bis Timo Warkus sagt, man möge doch alle Zitate von ihm selbst streichen und durch die des Bookers ersetzen.
Auch wenn das, was Wiedemann zu sagen hat, nicht besonders erfreulich ist. Wie ähnliche Konzertvenues und Kulturstätten auch steht nämlich selbst das berühmte Conne Island im lebenswerten und durchaus noch alternativ geprägten Süden Leipzigs permanent unter Druck. “Ich bin froh, dass das heute hier stattfindet, denn das lenkt mich bis morgen ab”, sagt Wiedemann. “Aber ich weiß, wenn ich morgen Abend in die Zahlen gucke, muss ich eigentlich die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Und mich fragen, ob ich meine 40-Stunden-Stelle, die ein absolutes Privileg ist, nächstes Jahr noch halten kann.” 13 Angestellte beschäftigt der Club mit integriertem Skatepark aktuell, aber die Einschläge kommen näher. Bei der vergangenen Bürgermeisterwahl kandidierte ein Bewerber durchaus publikumswirksam mit der Forderung, das Conne Island abzureißen und durch einen Parkplatz zu ersetzen. Das wiederum passt nicht nur hervorragend zum Text von Joni Mitchells prophetischem “Big Yellow Taxi”, sondern auch zu den aktuellen CDU-Plakaten, die mit dem hirnrissigen Slogan “Meine Heizung, mein Auto, meine Freiheit!” werben. Noch versucht der aktuelle Bürgermeister, seine schützende Hand über das Gebäudeensemble zu halten, doch mit Blick auf die Wahlergebnisse schwant dem Booker Furchtbares: “Es wird hier ein Riesen-AfD-Sumpf werden, und die werden alle Förderungen, sofern es ihnen möglich ist, versuchen einzustellen.”
In vielerlei Hinsicht spricht Wiedemann hier aus Erfahrung. Jahrelang hat er ehrenamtliche Jugendarbeit im benachbarten Naumburg geleistet, bevor er mit schlechtem Gefühl nach Leipzig gezogen ist. “In Naumburg war das immer witzig, und es hat immer Spaß gemacht, aber irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man sich fragt: Wie geht das weiter?”, sagt er. “Die Stadt hat einfach dagegengewirkt, dass das weiter funktioniert. Jugendzentren wurden geschlossen, Proberäume zugemacht, auch weil sich die Situation politisch verändert hat. Es ging immer weiter in die rechte Richtung. Mittlerweile sitzt jemand im Naumburger Stadtrat, der eine Kneipe namens Lokal 18 hat, die von außen ganz Schwarz-Weiß-Rot ist. Es ist ein Punkt gekommen, an dem ich weiß: Selbst wenn ich vorschlagen würde, das Gegenteil zu machen und so eine Show wie hier nach Naumburg zu bringen – es wäre ein geiles Wochenende, aber danach hätte sich vor Ort nichts getan. Es gibt so viele Orte, an denen sich unter den gegebenen politischen Bedingungen nichts mehr ändern wird, und das wird sich ab morgen noch einmal verschlimmern und verschlechtern.”
»Dass es diese Orte nach wie vor gibt, finde ich fantastisch. Die Leute, die sich jeden Tag den Arsch aufreißen. Das zu unterstützen, ist mir wichtig.«
Timo Warkus, Team Scheisse
Den “Clusterfuck” aus Rechtsruck und behördlicher Repression sieht der Booker “schon seit 20 Jahren kommen”, die Rechten bilden inzwischen auch keine Jugendbanden mehr, sondern eben Lokalpolitikbanden, die auch die Polizei als politisches Instrument für sich entdeckt haben. Vergangenes Jahr gab es eine Hausdurchsuchung beim Betreiber vom “Dorf der Jugend” in Grimma, nur weil der Sozialarbeiter einen kritischen Tweet abgesetzt hatte. “Das Hauptaugenmerk wird auf die Leute gerichtet, die politisch aktiv sind. Ich habe das selbst oft gemerkt, bei den Konzerten, die ich früher veranstaltet habe. Ich war 16 oder 17, und die Polizei kam zuhause vorbei. Für manche Leute in Naumburg galt ich kurzzeitig als Terrorist, nur weil wir anlässlich von Angela Merkels Besuch in der Stadt damals eine Demo geplant hatten. Letztendlich wurde mir verboten, die Veranstaltung zu besuchen.” Auch die Tatsache, dass das Team-Scheisse-Konzert nur bis 23 Uhr und nicht wie sonst bis um Mitternacht dauern darf, wertet Wiedemann als absichtliche Gängelung. “Das ist so eine Kleinigkeit, bei der man einfach weiß, dass da gedacht wird: Wie können wir den Laden ein wenig runterspielen auf eine Weise, bei der das nicht zu auffällig ist?”
Wenn sich eines mitnehmen lässt von der viertägigen Minitour, dann wohl die Erkenntnis, dass nicht unbedingt die Band der Star ist, sondern der Club. Der Ort, der in ungastlichem Milieu noch die Fahne hochhält und sich über Repressionen aller Art hinwegsetzt. Warkus erinnert an den Auftritt in Saalfeld. Der sollte eigentlich in einer alten Burgruine stattfinden, doch die Stadt wünscht sich dort nur noch Jazz und Klassik, vermeintliche Hochkultur, die sich vermeintlich leichter entpolitisieren lässt. Einerseits fühlt es sich komisch an, wenn ausgerechnet eine Punkband nach mehr staatlichem Engagement ruft, andererseits vielleicht auch nicht, wenn die “blau-roten Arschgeigen” diesen Staat in dieser Form ganz abschaffen wollen, mitsamt seiner kulturellen Vielfalt und dieser Hetzschrift namens Grundgesetz. “Ich will nicht sagen, dass man der Oper das Geld wegnehmen sollte, aber warum nicht?”, sinniert Barth. “Ist doch in dem Sinne politisch sogar noch viel wertvoller. Und seien wir mal ganz ehrlich: Wann hatte zuletzt ein Geigenalbum irgendeinen politischen Einfluss?” Sein Bandkollege Warkus kratzt sich den Bart. Er sieht aus wie jemand, dem gerade eine Idee gekommen ist.
High Vis bezeichnen ihre Musik als “Post-Industrial-Britain Misery Punk”, und dieser zeigt sich in den aktuellen Singles von vielen Seiten: Single “Mob-DLA” setzt auf Hardcore-Kanten, während “Mind’s A Lie” House- und Dance-Elemente miteinbezieht. Der nächste Track “Drop Me Out” klingt wie ein windschiefes Post-Punk-Gewitter mit 90s-Alternative-Kante.
Wie auch schon in den Singleauskopplungen zuvor, kritisiert Graham Sayle mit seinem Sprechgesang die britische Gesellschaft. Dieses Mal allerdings eine nicht konkretisierte Personengruppe, die gewisse Situationen nutzen, um sich selbst zu inszenieren. Er fragt diese scheinbar privilegierten Personen: “Is it easy to live, with nothing to lose?”
“Drop Me Out” ist die dritte Singleauskopplung vom kommenden High-Vis-Album “Guided Tour”. Es erscheint am 18. Oktober und kann bereits vorbestellt werden. Mit diesem Album geht es dann für High Vis auch auf Tour, die euch VISIONS präsentiert. Tickets gibt es im Vorverkauf.
Zuletzt haben High Vis am Freitag gemeinsam mit Show Me The Body die Single “Stomach” veröffentlicht, die Teil der EP “Corpus II EP II” der New Yorker Hardcore-Band ist. Gemeinsam geht es für die beiden unkonventionellen Hardcore-Punk-Bands außerdem ab Ende des Monats auf gemeinsame US-Tour.
VISIONS empfiehlt: High Vis
15.11.24 Berlin – Festsaal Kreuzberg
21.11.24 München – Technikum
25.11.24 Stuttgart – Im Wizemann
26.11.24 Wiesbaden – Schlachthof
27.11.24 Köln – Live Music Hall
29.11.24 Münster – Skaters Palace
30.11.24 Hannover – Faust
01.12.24 Hamburg – Gruenspan
Die schottische Post-Rock-Band Mogwai veröffentlichte heute ihren neuen Song “God Gets You Back”. Premiere feierte der Song in der Sendung der Radio-DJane Mary Anne Hobbs über BBC 6, kurz darauf war auch das Musikvideo verfügbar. Es ist die erste Musikveröffentlichung der Band seit zwei Jahren und dem Soundtrack zur True-Crime-Serie “Black Bird”.
Fast sieben Minuten lang entwickelt sich “God Gets You” von Synthesizer-Arpeggios zu ruhigen Beats und verhalltem Gesang fort, manchmal überschneidet sich auch alles. Der Text dafür stammt angeblich von Barry Burns (Gitarre, Synthesizer, Gesang) sieben Jahre alten Tochter. Aufgrund einer Schreibblockade holte Burns sich Inspiration von ihr.
Mit dem Song kam auch die Ankündigung einer Welt-Tour durch Nordamerika, Asien und Europa. In Deutschland werden Mogwai 2025 drei Konzerte spielen, in Hamburg, Berlin und Leipzig.
Live: Mogwai
06.02.2025 Hamburg – Große Freiheit 36
11.02.2025 Berlin – Admiralspalast
12.02.2025 Leipzig – Täubchenthal
Die Rückkehr von Blur nach einem Dutzend Jahren ohne Album leidet darunter, dass Damon Albarn seine besten Songideen für die Solosachen, die Gorillaz und The Good, The Bad & The Queen nutzt. Was für Blur übrig bleibt, führt zu einer gewissen Formelhaftigkeit: Könnte man bei Malen nach Zahlen ein Blur-Album erarbeiten, es klänge wie “The Magic Whip”. Dienst nach Vorschrift, dabei erhofft man sich vom Comeback zumindest ein bisschen Abenteuerlust. Es hilft nix, die besten Songs sind die, bei denen man schon beim ersten Hören denkt, sie eine halbe Ewigkeit zu kennen. Allen voran “Lonesome Street”, das sehr clever den Sound der ersten drei Blur-Alben zusammenfasst, sowie “Go Out”, mit herrlich lauten Gitarren von Graham Coxon. Die zwei größten Ärgernisse: Erstens fehlt “The Magic Whip” eine überlebensgroße Ballade. Zweitens ist “Ong Ong” ein alberner, fieser Schlager-Ohrwurm.
8
Think Tank
VÖ: 2003 | Label: Parlophone
Klare Sache, die Vorabsingle “Out Of Time” ist zu jeder Zeit ein Kandidat für die fünf besten Blur-Songs aller Zeiten. Das Problem der Platte: Das war’s dann aber auch. Blur sind als Band offensichtlich am Ende, das erkennt man an Songtiteln, die so motiviert sind wie Schüler beim Erdkundeunterricht am Montag, sechste Stunde: “Good Song”, “Sweet Song”, “Crazy Beat” – really? Wobei “Good Song” zumindest keine Lüge ist. Dass Graham Coxon fehlt, erkennt man am fehlenden Lärm. Dass fürs Design Banksy engagiert wird, zeigt, dass Damon Albarn erkennt, dass es eine Leerstelle zu füllen gibt. Leider reicht es musikalisch nicht. “Moroccan Peoples Revolutionary Bowls Club” zum Beispiel ist ein Ärgernis, weil man Albarn glaubt, der Gorillaz-Sound ließe sich locker mit seiner World-Music-Leidenschaft verflechten. Hey, das ist eine Blur-Platte, kein Workshop! Das Album stände im Ranking ganz unten, wenn es neben “Out Of Time” nicht noch eine zweite Glanztat gäbe: “Battery In Your Leg” – cineastisch, zerschossen, wunderschön. Es ist der einzige Song auf “Think Tank”, an dem Coxon mitwirkt. Kein Zufall, natürlich.
7
Leisure
VÖ: 1991 | Label: Food
Es ist 1991, und von Britpop redet noch niemand. Wohl von Indiepop. Und vom Baggy-Style, erfunden im zum Madchester umgetauften Manchester, wo die Gitarrenbands neuerdings Grooves spielen und die Gigs nicht mehr in Clubs stattfinden, sondern in leeren Fabrikhallen und abgewirtschafteten Äckern. Strukturwandel, made in Britain. Weil Blur nicht aus dem Nordwesten, sondern aus dem Südosten kommen, gelten sie als Außenseiter und Schnösel. Das macht der Band nichts aus, denn sie weiß: Am Ende geht’s sowieso darum, in London Erfolg zu haben. Wie viele englische Alben aus dieser Zeit lebt “Leisure” von den Singles: “She’s So High” und “There’s No Other Way” sind sensationell, aufregend, tanzbar. Es gibt ein paar Stücke, die nur auf der Platte sind, weil sie sonst zu kurz wäre. Aber Blur zeigen auch, zu was sie in der Lage sind. “Sing” zum Beispiel ist ein sechs Minuten langer Monolith, mit Rückwärtsgitarren wie bei den Stone Roses, verhallter Psychedelic wie bei Ride und einem Refrain zwischen Lärm und Hymne wie bei den damals sehr angesagten Boo Radleys. Ein Wiederhören mit dem Song gibt’s auf dem Soundtrack zu „Trainspotting“.
6
The Great Escape
VÖ: 1995 | Label: Food/Virgin
„Winning a battle, losing the war“: Im so albernen wie großartigen Charts-Wettlauf mit Oasis landet deren Single “Country House” den verdienten Sieg gegen den stumpfen Gallagher-Stamper “Roll With It”. Doch als dann die Alben folgen, wird schnell klar: “The Great Escpape” ist gut – hat gegen die Wucht von “(What’s The Story) Morning Glory” jedoch nicht den Hauch einer Chance. Vielleicht ist es die Länge: Fast eine Stunde läuft das Album. Oasis dröhnen Leerstellen mit Gitarren voll. Bei Blur bleiben Nullnummern wie “Top Man” oder “Dan Abnormal” unangenehm am Gaumen kleben. Auch passt es 1995 nicht zum Image der Band, dass die wahre Meisterstücke die melancholischen Songs sind. Blur sind Partypeople – doch taugen die an traurige Beatles erinnernden Songs “Best Days” oder “He Thought Of Cars” eher dazu, sich unter der Bettdecke zu verkriechen. Der Song für die Ewigkeit ist “The Universal”: „It really, really, really could happen“ – Musik aus einer Zeit, als alles möglich schien.
5
The Ballad Of Darren
VÖ: 2023 | Label: Parlophone/Warner
Blur haben diese Platte nicht gebraucht. Das Live-Geschäft funktioniert auch ohne neues Album, dazu haben Albarn und Coxon genügend eigene Projekte, um ihre Songideen zu platzieren. Doch die beiden hatten Bock – und Alex James und Dave Rowntree dann natürlich auch. Angst, es könnte sich bei “The Ballad Of Darren” um einen zweiten Langweiler wie “The Magic Whip” handeln, zerstreut schon der Auftakt: “The Ballad” schraubt sich mit jeder Sekunde weiter nach oben, die Stimmen doppeln sich, Coxon und Albarn singen herrliche Chöre, am Ende erinnert der Song an die späten Beach Boys. Im Anschluss spielt die Band mit “St. Charles Square” mit großer Lässigkeit einen neuen Hit, bevor “Barbaric” zum schönsten Jingle-Jangle einen Hinweis darauf gibt, wie eine Smiths-Reunion im besten Fall klingen würde. Das Tolle ist: Das Album bleibt bis zum Ende interessant – und bietet mit “The Narcissist” einen weiteren unwiderstehlichen Hit. Klingt wie Blur, ohne nach Blur zu klingen. Das muss man erst mal schaffen.
4
Blur
VÖ: 1997 | Label: Food
Nicht so weit vorne platziert, weil, sondern obwohl hier “Song 2” zu finden ist, das “Sweet Caroline” der alternativen Event-Kultur. Blur wissen, was sie da für ein Ding geboren haben. Sie geben ihm keinen echten Namen, packen davor “Beetlebum”, einer der besten Gitarrensongs aller Zeiten: Stop-and-go in der Strophe, der pure Pophimmel im Refrain. Danach tun sich Blur den Gefallen, Britpop zu Grabe zu tragen: Zwei Jahre nach “The Great Escape” ist von der Rummelplatzstimmung nichts mehr übrig, das Album ist experimentell, slackerhaft, zerschossen. “Country Sad Ballad Man” oder “Death Of A Party” erinnern an schwermütige US-Indie-Acts wie die Eels oder Sparklehorse, auf “You’re So Great” hat Graham Coxon seinen Lo-Fi-Auftritt: windschief, zu Herzen gehend. Dies ist die Blur-Platte für den Totalabschuss auf der Highschool-Party, wenn Mum und Dad übers Wochenende verreist sind und die älteren Geschwister oben Radiohead hören.
3
Modern Life Is Rubbish
VÖ: 1993 | Label: Food
Vielleicht das Album, das als erstes sehr deutlich Britpop definiert: Suede setzen auf Glam, The Verve verstecken sich im Hall, Radiohead stehen noch auf Grunge – Blur wissen, was geht: “Modern Life Is Rubbish” ist eine sehr englische Platte, die das Leben im Hier und Jetzt beschreibt, mit nostalgischen Gefühlen spielt und dazu ein Bild von der Zukunft entwickelt: “For Tomorrow”. Der Zug auf dem Cover bringt das alles auch gestalterisch zum Ausdruck. Erstaunlich, dass die Band auf ihrem zweiten Album fast ein Stunde Spielzeit füllt, ohne zu langweilen. Auch weniger bekannte Stück wie “Colin Zeal” oder “Coping” sind klasse, für die beiden Singles “Chemical World” und “Sunday Sunday” gilt das sowieso. Zweiterer Song zeigt deutlich, bei wem sich Blur besonders beeinflussen lassen: Dieses Vaudeville-Stampfen haben die Kinks erfunden. Blur verjüngen es. Wie sowieso “Modern Life Is Rubbish” bis heute eine unglaublich frische Platte ist.
2
13
VÖ: 1999 | Label: Food/Parlophone
Auf ihrem sechsten Album arbeiten Blur erstmals nicht mit Stammproduzent Stephen Street zusammen. Es übernimmt William Orbit, Techno-Nerd der Stunde, von Madonna für “Ray Of Light” engagiert. Er findet Blur als ziemlich kaputte Band vor: Drogen, Trennungen, Streit im Gefüge. Keine gute Ausgangslage. Da hilft erstmal nur die Liebe: „Love’s the greatest thing“– “Tender” ist generell ein perfekter Auftaktsong. Auf “13” wirkt er doppelt genial. Zumal Albarn und Coxon hier gemeinsam im Boot sind. Kaum ein Blur-Song deckt so ausbalanciert das ab, was sich die beiden Head-Songwriter jeweils von Musik versprechen. Dass Graham Coxon mit seinem “Coffee & TV” für den zweiten großen Hit sorgt, ist eine Ironie der Geschichte. Denn eigentlich interessiert er sich viel weniger für Single-Erfolge als der Hauptsänger. Wobei der wiederum genug damit zu tun hatte, die endgültige Trennung von Freundin Justine Frischmann von Elastica zu verarbeiten. Was ihm mit großartigen Psychedelic-Songs wie “Caramel” oder “Trimm Trabb” gelingt: Die komplexe Musik spiegelt die komplexe Gefühlswelt wider. Das nennt man Authentizität. Wie heißt es beim Tränenzieherblues “No Distance Left To Run”? „It’s over/ You don’t need to tell me.“
1
Parklife
VÖ: 1994 | Label: Food
“This is England”. Hunderennen auf dem Cover und Spaß in der Sonne auf der Riesenrutsche im Video zu “Boys & Girls”. Sonntage im Park und “Bank Holiday” mit Ausflügen. Ein Verwaltungsbeamter namens “Tracy Jacks” in der Midflife-Crisis. “Trouble In The Message Center” und “Clover Over Dover”. Der ewig neidvolle Blick nach Amerika und das Gefühl, dass London dich zurückliebt, wenn du nur genug in diese Stadt investierst. Der große Tiefpunkt und die große Geste zum Bye-bye. Das dritte Blur-Album “Parklife” erzählt mehr über England als alle Staffeln „East Enders“, als ein Austauschjahr in Coventry, als alle Spiele der Premier League zusammengenommen. Es ist ein Wunder, wie treffsicher Blur auf dieser Platte ihr Land beschreiben. Wie es Hopps nehmen und umarmen. Wie sich davon distanzieren, wissend, dass sie ihm niemals entkommen werden. Ohne “Parklife” würde der gesamten Britpop-Bewegung das Herz fehlen.
Nach der überraschenden Oasis–Reunion und Gesprächen über ein On/Off bei Blur kommt nun eine weitere Britpop-Größe aus der Schaffenspause zurück: Supergrass um die Brüder Rob und Gaz Coombes haben sich offiziell bereits 2010 aufgelöst und 2019 wieder zusammengefunden. Nach ihrem Auftritt beim Tribute-Konzert zu Ehren des verstorbenen Foo-Fighters-Schlagzeugers Taylor Hawkins in London, hieß es im September 2022 von Gaz Coombes, dies sei das letzte Supergrass-Reunion-Konzert gewesen sei.
Zum 30-jährigen Jubiläums des Debütalbums “I Should Coco” wird es nun jedoch wieder eine Tour geben. Geplant sind zehn Konzerte im UK für Mai 2025. Details über weitere Pläne der Band oder Tourdaten außerhalb des UK liegen bisher noch nicht vor.
Nach nur ein paar erfolgreichen Singleveröffentlichungen schaffte es “I Should Coco” direkt in die Top Ten der britischen Album-Charts und ermöglichte Supergrass den Start einer langjährigen Karriere. Coombes kündigt ebenfalls an, dass das Album während jedes Auftritts der Tour in Gänze gespielt werden würde.
08.05.2025 Glasgow – Barrowland Ballroom
10.05.2025 Nottingham – Rock City
12.05.2025 Sheffield – Octagon
13.05.2025 Newcastle – NX
14.05.2025 Birmingham – O2 Academy
16.05.2025 Manchester – Albert Hall
18.05.2025 Cardiff – University Great Hall
20.05.2025 Leeds – O2 Academy
22.05.2025 London – Roundhouse
31.05.2025 Cornwall – The Great Estate Festival