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Die 2010er: Die Plattenliste

Die 100 besten Alben der 2010er
Wir wollten es ja so. 10 Jahre auf 100 Alben runterbrechen, und weil selbst das noch zu leicht gewesen wäre, durften sie natürlich nicht einfach chronologisch sortiert ins Heft. Um das ganze Höllenfahrtskommando mal mit Zahlen zu untermauern: Wenn man zugrunde legt, dass wir pro Ausgabe durchschnittlich 76 Neuveröffentlichungen vorstellen, diese Zahl mal 12 Hefte mal 10 Jahre nimmt, landet man bei exakt 9.120 Alben, die sich zumindest schon mal dadurch für unser großes Dekaden-Ranking qualifiziert hätten, dass wir sie irgendwann in den vergangenen zehn Jahren besprochen haben. Ein gar nicht so unerheblicher Anteil dessen schaffte es dann tatsächlich in den Pool der Kandidaten: Gut 650 Alben standen nach diversen Nennungen, Nachnominierungen und Zwischenrufen zur Auswahl. Und dann wurde gehört, gevotet, gezetert und geschachert, was das Zeug hielt. Natürlich umso verbissener, je weiter es in Richtung Spitzenplätze ging. Jetzt jedenfalls steht es unverrückbar da, unser Best-of der unzähligen Rockalben, die zwischen 2010 und 2019 erschienen sind.
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10

Tool Fear Inoculum

VÖ: August 2019 | Label: RCA
Tool - Fear Inoculum

Ein Mythos wird Realität: Nach 13 Jahren veröffentlichen Tool im August 2019 endlich jenes Album, mit dem lange kaum noch jemand gerechnet hat. Seit “10,000 Days” (2006) haben die Fans gewartet, zunächst entspannt, dann sehnsüchtig, später skeptisch, irgendwann verärgert oder bloß noch müde. Schuld an der immer wieder verschobenen Veröffentlichung soll auch ein jahrelanger Rechtsstreit gewesen sein, manche Fans verdächtigen aber eher den so umtriebigen wie eigenwilligen Sänger Maynard James Keenan. Als die Platte doch noch kommt, sind Tool gefühlt schon ein Relikt vergangener Zeiten – und belehren ihre resignierten bis spöttischen Kritiker spektakulär eines Besseren: “Fear Inoculum”, das sind in der Digitalversion fast 90 Minuten perfektionistische Detailverliebtheit, die sich vom kompromisslosen Design des audiovisuellen Artworks bis zum konzeptuellen Aufbau der zehn Stücke in jedem einzelnen Element des Albums widerspiegelt. Refrains gibt es in diesem Sound-Monolithen kaum, stattdessen loten Tool in sechs epischen, von knappen Instrumentals eingerahmten Longtracks aus, wie sie ihr virtuoses Trademark-Sound-Universum noch weiter ans Maximum führen können. Ihr progressiver Alternative-Metal klingt hier so verdichtet und mit sich selbst potenziert wie nie, entwickelt sich von zaghaften Tönen über barocke Vielschichtigkeit hin zu expressionistischen Ausbrüchen und wieder zurück. Das alles zu durchdringen, braucht Zeit und Konzentration, aber wer sie investiert, wird belohnt. Mit der dekonstruierten Rhythmik von “Pneuma”, Maynard James Keenans hypnotisch schwebendem Gesang in “Culling Voices” oder den kontrolliert ausartenden Sound-Explosionen von “7empest”, die so filigran gearbeitet sind wie ein Marmorrelief. “Fear Inoculum”, das sind Tool in einer Vollendung, die keinen Zweifel lässt, warum diese Band auch Jahrzehnte nach “Ænima” (1996) oder “Lateralus” (2001) noch kultisch verehrt wird. Die entscheidende Lehre aus diesem Album lautet deshalb: Solange sie existieren, muss man mit Tool rechnen.
Alana Vandekerkhof


9

David Bowie Blackstar

VÖ: Januar 2016 | Label: Columbia
David Bowie - Blackstar

2016 beginnt mit drei unvergessenen Tagen: Am 8. Januar erscheint “Blackstar”, Bowies zweites Werk einer unverhofften Karrierephase, die 2013 mit der Comeback-Platte “The Next Day” gestartet war. Doch es bleibt keine Zeit, die neuen Songs zu hören, ohne dass einem schwindelig wird: Am 10. Januar stirbt Bowie, die Nachricht verbreitet sich in Sekundenschnelle durch die sozialen Netzwerke, kaum ein Tod eines Musikers hat so rasant eine so große Wirkung erzeugt. Es ist unmöglich, “Blackstar” danach ohne doppelten Boden zu hören. Über den Liedern, insbesondere über dem Clip zum Song “Lazarus”, schwebt die Idee des inszenierten Ablebens: Bowie ist es gelungen, dem Tod seine eigene Deutung zu verpassen. Mehr kann ein Lebender nicht erreichen! Was das Werk noch kraftvoller macht, ist das Geheimnis, das es schon während seiner Entstehung in sich trägt: Kaum jemand aus seinem Team ahnt, dass Bowie schon lange sehr krank ist; die Öffentlichkeit weiß nicht einmal, dass er an diesem Album arbeitet. Ein Geheimprojekt dieser Kragenweite, mitten in dem Jahrzehnt, in dem die sozialen Medien zu Brandbeschleunigern der Informationsfeuerwerke werden – auch das ist eine Meisterleistung. Wie aber klingt “Blackstar”? Nicht nach Rock’n’Roll, Bowie hat den Musikern befohlen, sich nicht von dieser Kraft beeinflussen zu lassen. Wie sehr Bowie dieses Album in der Mitte der Dekade verortet, zeigt, welche Musik er und das Team während der Aufnahmen hören: Kendrick Lamars “To Pimp A Butterfly”, den Noise-HipHop von Death Grips, den Meta-Elektro-Post-Punk von LCD Soundsystem. In der ersten Hälfte von “Blackstar” fließt das alles zu fabelhafter Kunstmusik zusammen, die Songs der zweiten Hälfte klingen abstrakter, doch das dicke Ende kommt noch: Zur Mundharmonika, dem sehnsüchtigsten aller Instrumente, stellt Bowie fest: “I know something is very wrong”, um schließlich zu betonen: “I Can’t Give Everything Away.” Das ist keine Kapitulation, eher eine Entschuldigung dafür, dass die Vorstellung früher endet, als er es selbst gewollt hat.
André Boße


8

Sufjan Stevens Carrie & Lowell

VÖ: März 2015 | Label: Asthmatic Kitty
Sufjan Stevens  - Carrie & Lowell

Wenn man Sufjan Stevens“Carrie & Lowell” hört, ist das, als höre man zum ersten Mal Musik mit Texten. Selbst angesichts des Potenzials, das das Singer/Songwriter-Idiom traditionell für Selbstreflexion mitbringt, setzt diese Platte Maßstäbe, die zuletzt wohl von Elliott Smith aufgestellt worden sind. Die Geschichte dahinter hat der Musiker so beschrieben: “It’s not an art project, it’s my life”. Und offenbar kein leichtes. Denn Carrie, das ist Sufjan Stevens’ Mutter, eine diagnostizierte Schizophrene mit chronischen Drogenproblemen, die zwei Jahre vor Fertigstellung des Albums stirbt. Ihr war es nicht möglich, sich adäquat um Stevens und seinen Bruder zu kümmern, und sie verließ ihre Familie gleich mehrfach. Am anderen Ende des Plattentitels: Lowell, Stevens’ Stiefvater und aktueller Label-Chef, ein sanfter Mann, der dem Sänger und seiner kranken Mutter die wenigen schönen gemeinsamen Stunden schenkte. Die tauchen wie geisterhaft verwaschene Polaroids und Super-8-Filme auf einem Album auf, dessen bodenlose Intimität den Hörer an jede Silbe fesselt, die Sufjan Stevens flüsternd in die Welt haucht. Es ist Schmerz und nicht Wut, der aus den Worten spricht, mit denen der Sänger einen Abschluss sucht und ein Ventil für die komplexen Gefühle seiner Mutter gegenüber. Verzweiflung und Selbsthass gehören ebenso zu ihrem Vermächtnis wie eine hüllenlose Zärtlichkeit, die in Zeilen wie “What’s the point of singing songs/ If they’ll never even hear you?” mündet. Man muss nicht zu Stevens’ Verwandtschaft gehören, um aus dieser Trauerpoesie ein Kind auf der Suche nach Nähe und Trost sprechen zu hören. Die findet der erwachsene Mann inzwischen zumindest teilweise in seinem Glauben, der ihn eigenen selbstzerstörerischen Tendenzen entreißen konnte. Das schmerzfreiste Fazit der Platte lautet: “Nothing can be changed/ The past is still the past/ The bridge to nowhere”. Und trotzdem fühlt es sich an wie ein Sieg des Lebens, den jeder mitfeiern muss, der diese Dreiviertelstunde durchhält.
Markus Hockenbrink


7

PJ Harvey Let England Shake

VÖ: Februar 2011 | Label: Island
PJ Harvey  - Let England Shake

“Goddamn Europeans/ Take me back to beautiful England” – PJ Harvey kann Anfang des Jahrzehnts noch nichts wissen vom Brexit-Trauerspiel, in das blinder Nationalismus das Vereinigte Königreich bald stürzen wird. Die Psyche ihrer Nation aber kennt sie: England hat zu wenig gelernt aus dem blutigen Schock des 1. Weltkriegs, knapp 100 Jahre später wird noch immer im Geiste des stolzen Empire gestorben, dieses Mal im Irak und in Afghanistan. “Let England Shake” formt aus all dem von Gallipoli bis Bagdad vergossenen Blut beklemmende Anti-Kriegs-Songs, die am Beispiel Englands einen Abgesang auf die vermeintliche kulturelle Überlegenheit des Westens bilden. Die Wucht, mit der das trifft, steckt im Kontrast von Musik und Texten: wässrige Rockgitarren, federnde Percussion, Autoharp-Folk und verhangene Synthie-Träume lassen “Let England Shake” wie einen luftigen Sommerspaziergang klingen, Harvey wählt mit ihrem hohen Gesang einen entrückten Ton – sodass der Horror der zu “lumps of meat” gewordenen Soldatenkörper und “deformed children” umso sprachloser macht. Zudem verdichten die beiläufige Kriegsfanfare von “The Glorious Land”, die Eddie-Cochran-Hommage in “The Words That Maketh Murder” oder das dissonante Said-El-Kurdi-Sample in “England” Form und Inhalt der Songs so kunstfertig, wie es nur einer Großmeisterin wie PJ Harvey gelingen kann. Für die ist das Album dabei nie kühle Analyse, sondern eine sehr persönliche Angelegenheit; “I live and die through England” hört man sie an den Defiziten ihrer hassgeliebten Heimat verzweifeln. Dass “Let England Shake” heute (wieder? noch?) unangenehm aktuell ist, liegt nicht nur am ewig wiederkehrenden Krieg oder den vielen guten Gründen, England erneut erzittern zu lassen, sondern am Humanismus des Albums: Wo etwa Politpunks oft von der Wut auf die Täter zehren, spürt man bei PJ Harvey vor allem ein großes Mitgefühl mit den Opfern. Das Thema lässt die Musikerin danach nicht mehr los: Für den Album-Nachfolger reist sie in den Kosovo und nach Afghanistan.
Dennis Drögemüller


6

Foo Fighters Wasting Light

VÖ: April 2011 | Label: RCA
Foo Fighters - Wasting Light

“Die Melodie”, antwortet Dave Grohl, als Kollege Sascha Krüger ihn ein paar Jahre später beim Interview in London fragt, was das Schwerste am Songschreiben für ihn sei. Auf “Wasting Light” findet Dave Grohl sehr oft genau die richtige Melodie. Es ist das stärkste der jüngeren Foo Fighters-Alben, von denen die besten im Vorfeld immer auch ein wenig wie ein Kraftakt wirken. Für das Doppelalbum “In Your Honor” (2005) hatte Grohl den klaren Vorsatz ausgegeben, es zu der Vorzeige-Platte seiner Band zu machen. Für “The Colour And The Shape” (1997), das diese Band bis heute definiert, hatte der Perfektionist sogar das komplette Schlagzeug noch einmal selbst eingetrommelt. Und auch “Wasting Light” hat nicht nur zufällig alles, was ein Foo-Fighters-Album haben sollte: “Bridge Burning” tritt gleich zu Beginn die Theke durch, “Arlandria” ist die perfekte Radio-Single, “Rope” der sperrige Trotzdem-Hit, die Motörhead-Verneigung “White Limo” ist gut fürs Image, “These Days” bringt die Melancholie, und es gibt mal wieder einen Foo-Fighters-Supersong im Stil von “Everlong” und “Best Of You”: “Walk”. Womit wir bei dem sind, was vielleicht noch wichtiger ist als Melodie: Anliegen. Anliegen, die so dringend sind, dass die Emotionen das Ruder übernehmen. Wer bei “Walk” nichts fühlt, lehnt diese Band kategorisch ab. Ein Song über das Aufstehen nach Rückschlägen, bei dem alle Bandmitglieder irgendwann knüppeln oder schreien oder schrammeln, als ginge es um ihr Leben. Aber zurück zum Kraftakt: Dieses Mal ruft Grohl ein Back-To-The-Roots-Album aus. Große Teile entstehen in seiner Garage (in der natürlich ein super Studio steht), noch dazu mit “Nevermind”-Produzent Butch Vig. Sogar Nirvana-Bassist Krist Novoselic ist dabei. Auf lange Sicht spielt das alles aber kaum eine Rolle. Natürlich ist das hier keine Garagen- oder Nirvana-Gedächtnis-Platte. Vielmehr schießt die Mischung aus super Songs, harter Arbeit, Emotionen und eben Melodien “Wasting Light” in die Top 3 aller Foo-Fighters-Alben und an die Spitze des Jahrzehnts.
Jochen Schliemann


5

Foals What Went Down

VÖ: August 2015 | Label: Warner
Foals - What Went Down

“What Went Down” zementiert, was auf den drei Vorgängern sukzessive immer augenscheinlicher wurde: Foals sind nicht nur die relevanteste britische Indierock-Band der 2010er, sondern vor allem die klügste Band mit realistischem Anspruch auf die ganz großen Bühnen. Auf dem Debüt “Antidotes” spielen die Oxforder den Hype-verwöhnten Dance-Punk im Schwierigkeitsgrad Mathrock durch, zwei Jahre später stellen sie sich für “Total Life Forever” breiter auf. Zugleich gehen sie tiefer, indem sie zeigen, wie gut Funk- und Post-Rock-Fragmente als Fundament tanzbarer Melancholie-Epen taugen. Mit “Holy Fire” differenzieren Foals ihren Stil weiter aus, der Pop-Hit “My Number” und die gewaltige Kombination aus “Prelude” und “Inhaler” überstrahlen allerdings die weiteren Stücke – und offenbaren, wer Foals wirklich sind. “What Went Down” ist schließlich die eine Platte, auf der sie ihre Identität mit unumstößlichem Selbstbewusstsein präsentieren. Der Titelsong ist giftiger Hardrock, getrieben von Jack Bevans wuchtigem Schlagzeugspiel, und damit näher an den zupackenden Live-Shows. Nicht nur musikalisch zeigen Foals hier ihre Zähne: “When I see a man, I see a lion/ When I see a man, I see a liar”, schreit Sänger Yannis Philippakis und bewahrt sich diese Angriffslust auch in zurückgenommenen Songs wie “Mountain At My Gates”, das – ähnlich wie “Birch Tree” – die Trademarks der Band vereint, also Verspieltheit und Ernsthaftigkeit. Auf diese Weise gelingt dem Quintett mit “What Went Down” das Kunststück, die individuellen Stoßrichtungen zu einem homogenen Werk zusammenzuführen, auf dem die Ballade “Give It All” gleichberechtigt neben einem langsam aufsteigenden Groove-Monstrum wie “Albatross” steht und “Night Swimmers” verspult von dannen ravt, wo “Snake Oil” zuvor Poltern zur Kunstform erklärt hat. Das einzig logische Finale für ein solches Album ist eine entrückte Dynamikgroßtat wie “A Knife In The Ocean”. Folgerichtig wird die Platte danach ein Doppelalbum. Weniger wäre nach “What Went Down” kaum denkbar gewesen.
Stefan Reuter


4

La Dispute Wildlife

VÖ: Oktober 2011 | Label: No Sleep
La Dispute - Wildlife

Anfang der 00er Jahre hat der Hardcore sich in seiner Nische eingerichtet. Die Jugendzentren sind gut voll, der Metalcore ist auf die Popbühnen abgewandert, und wenn nicht etwas ganz Großes passiert, kommt man abseits dieser Extreme auch ganz gut mit Indierock und Post-Rock über die Runden. Dann passiert etwas ganz Großes: Aus den USA schwappt eine aufregende neue Version des Hardcore hinüber, in der atmosphärische Flächen auf stürmische Ausbrüche treffen und unspektakuläre junge Männer hochdramatische Geschichten schreien. Zwischen Pianos Become The Teeth, Touché Amoré und anderen Freunden bilden La Dispute aus dem unscheinbaren Grand Rapids in Michigan eine der Spitzen der Bewegung – und VISIONS legt ihr zweites Album “Wildlife” unter der Überschrift “Die Zukunft des Hardcore” als CD dem Heft bei. Die Prophezeiung steht: So mitreißend und umwerfend waren hochkomplex gerappte, gesungene und geschriene Erzählungen über menschliche Tragödien selten. Jordan Dreyer wirft alles, was sonst höchstens einen Absatz in der Lokalzeitung wert ist, in dichte Songs, die streng durchstrukturiert sind; beim Schreiben hat seine Band die beschriebenen Szenen zunächst dramaturgisch vorgelegt, um ihn seine wortgewaltigen Texte dann punktgenau darüberlegen zu lassen: “Can I still get into heaven if I kill myself?” Zwar wird das knapp sieben Minuten lange “King Park”, in dem Dreyer eine Schießerei von der Straßenecke bis ins Hotelversteck des verzweifelten Schützen verfolgt, zum Hit von “Wildlife”, aber damit ist noch lange nicht alles gesagt. Fast eine Stunde lang schleudern La Dispute ihren Hörern eine Tragödie nach der nächsten vor die Füße, lassen dabei Refrains und herkömmliche Songstrukturen liegen und auf ein Donnerwetter auch mal unheimliche Nahezu-Stille folgen. “Wildlife” wird zu einem Phänomen, das abgehärtete At-The-Drive-In-Fans und verhuschte Emo-Popper vereint und dafür sorgt, dass es in den Jugendzentren kurz mal eng wird, bevor Band und Anhänger in die größeren Läden wechseln.
Britta Helm


3

Queens Of The Stone Age ...Like Clockwork

VÖ: Mai 2013 | Label: Matador
Queens Of The Stone Age - ...Like Clockwork

Sechs Jahre und eine Nahtoderfahrung liegen zwischen “Era Vulgaris” und “…Like Clockwork”. Die bislang längste Pause zwischen zwei Platten der Queens Of The Stone Age hat eine Ursache, aber zwei Geschichten: Lange Zeit verkauft Josh Homme Komplikationen im Anschluss an eine Knieoperation als Grund dafür, räumt später aber ein, dass es sich vielmehr um eine Infektion gehandelt habe, die das Resultat von zu viel Arbeit und Drogen war. Durch diese ist er mehrere Monate ans Bett gefesselt und gleitet in eine Depression ab, die auf “…Like Clockwork” hörbar ist. Die erste Platte der Queens Of The Stone Age, die es bis auf den ersten Platz der US-Albumcharts schafft, ist ihre bislang abwechslungsreichste – und abgründigste. Nicht nur wegen des roten Covers ist sie so etwas wie der zweieiige Zwilling zu “Songs For The Deaf”, sie wird auch ebenso häufig genannt, wenn es um das beste Album der Band geht. Das liegt auch am Personal: Dave Grohl sitzt nach dem Ausstieg von Joey Castillo bei einigen Songs am Schlagzeug, Mark Lanegan schreibt an “Fairweather Friends” mit, das Elton Johns Stakkato-Piano im Refrain antreibt, und Nick Oliveri singt ein paar Backing Vocals. Vor allem aber überwiegen nicht Motorik-Rocker wie “My God Is The Sun”, es sind die Balladen wie “The Vampyre Of Time And Memory”, die herausstechen. Im ersten Song, den Homme für das Album schreibt, ist seine Verunsicherung spürbar, zugleich aber auch seine Erleichterung, noch einmal davongekommen zu sein: “I’m alive/ Hooray!”, singt er da. Und wie bei “Songs For The Deaf” greift auf “…Like Clockwork” ein Rädchen ins andere, gehen die Songs ineinander über, ohne dass es erzwungen wirkt. Was die Platte aber vor allem ins Schaufenster stellt, ist der Sänger Homme, der viel in der langen Pause dazugelernt hat. Das größere Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten spielt Homme vor allem in der zweiten Hälfte der Platte aus, etwa in “I Appear Missing” und natürlich im abschließenden Titelsong, dem zärtlichsten Titel, den er je geschrieben hat.
Florian Schneider


2

Idles Joy As An Act Of Resistance

VÖ: August 2018 | Label: Pias
Idles - Joy As An Act Of Resistance

Abgesehen von den Sleaford Mods hat wohl kaum eine Band im zurückliegenden Jahrzehnt sowohl Feuilleton als auch Musikpresse und Publikum so euphorisch hinter sich vereint wie Idles. Mit “Brutalism” sorgen Joe Talbot und seine Kumpels bereits 2017 für ein fettes Ausrufezeichen, Lieder wie “Mother”, “Rachel Koo” oder “Benzocaine” reißen eine Schneise zwischen Post-Punk, Krautcore und Avant-Pop, krachig und geradeaus, mit sozialkritischen Texten zwischen autobiografischer Einkehr und politischem Kommentar. Mit dem Nachfolger schließlich – und seiner unüberhörbaren “Freude am Widerstand” – bekommt das monolithische Debüt einen Kontext, legen Idles in punkto Energie noch eine Schippe drauf und bestätigen zudem ihren eigenen Anspruch mit einer Leistung, die vielen Bands der letzten großen Brit-Welle eine Dekade zuvor nicht gelingen wollte: einem frenetisch aufgenommenen ersten Album ein relevantes zweites folgen zu lassen. Das hohe Arbeitstempo spielt der Band dabei in die Karten, die ersten Jubelwellen sind kaum abgeebbt, da gibt es neues Futter für die Fans. Das wechselvolle Schicksal ihrer Heimat funktioniert in zwei Richtungen. Zum einen liefert das von Brexit, Boris Johnson & Co. geschüttelte Großbritannien textliche Inspiration im Minutentakt, zum anderen gibt es in diesen rauen Zeiten kaum tröstlichere Musik als die ihre. Da ist der dezent starre Furor der zweiten Punk-Welle in Kombination mit dem ausgestreckten Mittelfinger der unterzuckerten Post-Punk-Tiraden alter Helden wie Mark E. Smith und John Cooper Clarke, gekleidet in soghafte Song-Strukturen, die zuweilen auch vor eingängigen Refrains nicht Halt machen. Im Auge des Orkans steht Sänger Joe Talbot, in dessen Geschichten über Selbsthass und Diskriminierung, Gentrifizierungshorror und Beziehungsgeschichten sich schwarzer Humor und positive Energie beieinander unterhaken. “Danny Nedelko” und “Never Fight A Man With A Perm” werden zu musikalischen Haltepunkten der späten 2010er, “Joy As An Act Of Resistance” das VISIONS-Album des Jahres 2018.
Ingo Scheel


Rückblick: Die 2010er
Es kann nur hundert geben

Inhalt

  1. Die 2010er: Die Plattenliste – Die 100 besten Alben der 2010er
  2. Die 2010er: Chronik eines Jahrzehnts – Blick zurück nach vorn