0,00 EUR

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Startseite » Features »

Back To 2004: Mastodon - "Leviathan"

Back to 2004: Mastodon

Plötzlich Prog
Nach ihrem hochgelobten Debüt “Remission” und dem Mini-Hit “March Of The Fire Ants” denken Mastodon aus der Südstaatenmetropole Atlanta bei den Arbeiten an ihrer zweiten Platte groß. Das Ergebnis ist nicht nur ihr erstes Konzeptwerk. “Leviathan” verhilft ihnen auch zum Sprung auf die großen Bühnen und definiert nebenbei neu, was Metal mit Prog-Schlagseite eigentlich sein kann.
back-to-2004-mastodon-leviathan-opener

Nein, in ein Vakuum musizieren Mastodon 2004 wahrlich nicht hinein. Die Fusion aus knorrigem Metal, zornigem Mathcore und proggigen Untertönen ist spätestens seit Neurosis etabliert. Als sie sich jedoch zum nächsten, folgerichtigen Schritt entschließen und ihren Stil nicht nur erweitern, sondern auch konsolidieren, ahnt wohl niemand, wie wirkmächtig und vor allem nachhaltig ihre zunächst größenwahnsinnig anmutende Vision ausfallen soll. Am wenigsten die Band selbst. Denn die Verhältnisse, in denen sie an den Songs ihres zweiten Albums schreiben, sind alles andere als komfortabel. Nach dem Achtungserfolg mit “Remission” und etlichen Touren durch sämtliche Keller, Jugendclubs und Absteigen der USA zieht sich die Band im Herbst 2003 für anderthalb Monate zurück, um sich ganz auf das Songwriting und die Arbeiten am Konzept von “Leviathan” zu konzentrieren. Eine Klausur, die durch die Tatsache, dass alle vier Musiker nebenbei noch ihren Brotjobs nachgehen, ebenso erschwert wird wie durch den Zeitdruck, unter dem sie aufgrund einer bereits gebuchten Tour im Vorprogramm von Clutch stehen. Wobei sich gerade dieser Aspekt als Glücksfall erweisen soll.

Mastodon touren einen Monat lang quer durch die USA und spielen ihr neues, noch unveröffentlichtes Album jede Nacht von Anfang bis Ende durch. Diese öffentliche Probe vor tausenden von Menschen, die weder die Band noch das neue Material kennen, hilft laut Troy Sanders dabei, die Songs rund zu machen. Vor allem aber ist die Band perfekt aufeinander eingespielt, als die Tour in Seattle endet, wo sich Mastodon ansatzlos ins Litho Studio begeben, um sich mit Produzent Matt Bayles an die Aufnahmen zu machen. Auch das geschieht wieder mit Schweißperlen auf der Stirn, ist doch bereits die nächste Tour gebucht, diesmal mit Lamb Of God und Slayer. Das unterstreicht nicht nur den Druck, unter dem die vier Musiker stehen. Es zeigt auch auf, in welchen Dimensionen sie sich schon bald bewegen sollen und wie sie ihre weitere Karriere anlegen werden. An ihrem Arbeitsethos ändert sich dabei nichts. Musikalisch jedoch werden sie in der Folge dem Prog noch sehr viel näherkommen. Unter anderem deswegen stellt “Leviathan” eine Art Scharnieralbum dar.

Metal, Hardcore, Prog’n’Roll?

Es ist eine dieser besonders irrwitzigen Ironien der Rockgeschichte, dass sich ausgerechnet die als Galionsfiguren einer neuen, spannenderen Ausrichtung des Metal gepriesenen Mastodon nie als Metal-Band definierten, wie Sanders 2014 erläutert. “Natürlich gibt es viele Metal-Elemente in unserem Stil, aber wir verstehen uns nicht als Metal-Band. Dazu gibt es viel zu viel andere Aspekte in dem, was wir mögen und wie wir klingen. Wir haben sehr viel Rock’n’Roll in uns, wie auch Hardcore und Prog, alles garniert mit etwas Psychedelic. Diese Metal-Schublade empfinde ich eher limitierend.”

Eine Selbstwahrnehmung, die zunächst irritiert, ist doch gerade das Frühwerk deutlich aggressiver und konfrontativer und, nun, wesentlich mehr Metal als alles, was die Band ab ihrem dritten Album “Blood Mountain” veröffentlicht. Harsche Riffs und durchgehend extremer Gesang bestimmen das Soundbild, und auch “Leviathan” ist eher von dieser Grundhärte durchzogen als die späteren, deutlich verspielteren und von cleanem Gesang getragenen Werke. Und doch wird gerade an einem ganz wesentlichen Element des typischen Mastodon-Stils klar, was diese Band von so ziemlich allen anderen Mitanbietern absetzt: Brann Dailors Schlagzeugspiel. Mehr an Jazz denn an Hardcore oder Metal orientiert, webt Dailor hochkomplexe, von irrsinnigen Fills durchzogene Groove-Teppiche, die fast Songs im Song sind und dabei immer wieder die Hooks und die Riffs tragen und komplementieren. Dailor selbst führt sein für einen Schlagzeuger erstaunlich melodisches Spiel auf die Tatsache zurück, dass er als Teenager hauptsächlich mit Gitarristen anstatt mit Bassisten jammte. Angesichts dieser Mischung aus Musikalität und Virtuosität verwundert es nicht, dass er seine größten Einflüsse in Phil Collins und Sean Reinert sieht, dem Schlagzeuger der Tech-Thrash-Legende Cynic.

Dailor, dessen Schwester sich im Alter von 14 Jahren das Leben nahm, ist es auch, der erläutert, weswegen es bei Mastodon um viel mehr geht als um Aggressivität. Wo die Quasi-Vorgänger-Band Today Is The Day noch zu 100 Prozent von Zorn bestimmt ist, helfen Mastodon Dailor dabei, seinen hilflosen Schmerz loszulassen. “Ich wollte einfach nicht mehr wütend sein. Mastodon haben mir dabei geholfen. Schon der Titel des ersten Albums verweist darauf. ‘Remission’ bedeutet Heilung, Vergebung. Und genau das bedeutet mir diese Band. Sie hilft mir, viele Dinge in meinem Leben loszulassen und ihnen mit Vergebung zu begegnen.” Seiner Schwester Skye widmet die Band 2009 ihr viertes Album “Crack The Skye”.

Die vier Elemente und darüber hinaus

Wenngleich “Leviathan” das erste Konzeptalbum Mastodons darstellt, ist es doch der zweite Teil einer konzeptionellen Reihe, die mit dem Debüt “Remission” begonnen hat. Die Band sieht ihr Schaffen über die ersten vier Alben den klassischen Elementen Feuer, Wasser, Erde und Äther verpflichtet. “Remission”, das kein strenges Textkonzept verfolgt, ist dem Feuer zugewandt. “Leviathan” nimmt sich des Wassers an, in Form einer Interpretation des Literaturklassikers “Moby Dick” von Herman Melville. Das tosende musikalische Abbild, das nahezu sämtliche Einflüsse der Band von Thin Lizzy und Iron Maiden über die Melvins und Neurosis bis zu Primus bündelt, klammert das maritime und desolate Thema nahezu perfekt.

Doch die Entscheidung für ausgerechnet diese literarische Vorlage fällt laut Dailor nicht nur aufgrund der Epik, die dieser innewohnt. Die Musiker sehen sich nämlich gerade einer Figur des Romans besonders verbunden. “Dieser verrückte Kapitän Ahab, der alles in seinem Leben für diesen Wal opfert und endet, indem er mit diesem Tier und seinem Schiff untergeht. Das ist schwer vorzustellen, aber sieh es mal von der Seite: Was machen Mastodon? Wir lassen unsere Familien zurück, um wochenlang auf Tour zu gehen, und wir machen das aus Liebe zu einer Musik, die man aus finanziellen Gründen besser nicht liebt: In einer Heavy-Metal-Band zu spielen ist wohl nicht der klügste Karriereschritt.”

Der kommerzielle Durchbruch bleibt bei “Leviathan” aus. Doch nicht zuletzt aufgrund überwiegend euphorischer Kritiken und vor allem dank exzessiver Touren erweitert die Band ihre Fanbasis um ein Vielfaches, und auch die Verkäufe ziehen an und knacken 2006 die 100.000er-Marke. In einer Zeit, in der sich Filesharing längst etabliert hat und Albenverkäufe nur noch ein Abglanz früherer Absatzzahlen darstellen, ein beachtlicher Erfolg, noch dazu für eine recht harsche Band, die Mastodon zu diesem Zeitpunkt immer noch sind.

Tragik und Triumph

Wer Mastodon verstehen will, muss sich in die Abgründe der menschlichen Existenz begeben. Die Hingabe, mit der die Band sich immer wieder anschickt, Schönheit aus Schmerz zu erschaffen, liefe wohl Gefahr, zum reinen Gestus zu gerinnen, wären die Musiker nicht so vertraut mit Verlusten und Verletzungen. Joseph Merrick, der im 19. Jahrhundert aufgrund seiner körperlichen Deformationen als “Elefantenmensch” bekannt war und (wie schon auf “Remission” und später auf “Blood Mountain”) in einem nach ihm benannten Instrumental auf “Leviathan” Raum bekommt, mag zwar oberflächlich als Metapher zu lesen sein. Doch sein Kampf um Anerkennung und seine Hinwendung zu den schönen und poetischen Dingen des Lebens zwecks Kanalisierung des Schmerzes, ist den vier Mitgliedern alles andere als fremd.

Sei es Dailors Schwester Skye, deren Suizid immer wieder Niederschlag findet. Sei es der Tod des Bruders von Gitarrist Brent Hinds während eines Jagdausflugs, dem die Band den Titelsong ihres fünften Albums “The Hunter” widmet. Der Kampf von Sanders’ Frau Jeza gegen den Brustkrebs. Oder der Tod des langjährigen Bandmanagers Nick John, der sowohl im Artwork als auch im Konzept von “Hushed And Grim” verarbeitet wird. Mastodon entfernen sich nie vom Dunkeln, das dem Dasein innewohnt. Für Sanders ist das der Motor der Band, die, wie er sagt, sehr gut auf Krisen reagiert. Menschlich wie künstlerisch. “Musik ist für uns das perfekte Mittel, um mit allem, was das Leben für uns bereithält, umzugehen. Alles, was uns an Tragödien zustößt, ist jedem einzelnen Menschen auf der Welt vertraut. Wir erschaffen nichts aus uns selbst heraus. Jeder Mensch kennt das. Was uns vielleicht besonders macht, ist die Fähigkeit, all dies als Band zu bündeln, zu kanalisieren und daraus etwas Positives, Helles zu erschaffen. Die Musik, die wir machen, wird uns überleben. Also versuchen wir, aus all den schrecklichen Dingen Schönheit zu bergen.”

Gerade Sanders lebt diesen Drang nicht allein mit Mastodon aus. Mit den Soupergroups Killer Be Killed und Gone Is Gone begibt er sich noch tiefer in die Wucht des Hardcore und die Weite der progressiven Musik. Sei es die Arbeit mit Musikern von At The Drive-In, Queens Of The Stone Age, Sepultura, The Dillinger Escape Plan, The Mars Volta oder Converge – Sanders, wie überhaupt seine gesamte Band, ist bestens vernetzt. Und das bereits sehr früh in ihrer Karriere. So tragen Scott Kelly von Neurosis und Clutch-Sänger Neil Fallon auf “Leviathan” Gastgesang zu “Aqua Dementia” beziehungsweise “Blood And Thunder” bei und unterstreichen damit, dass Mastodon bereits 2004 eine Band sind, die zwar aus Ausnahmemusikern besteht und sich unter ebensolchen rundum wohl fühlt, bei der es aber vor allem um eines geht: Freundschaft.

Es ist womöglich nicht zuletzt dieser Aspekt, der Mastodon so dauerhaft anschlussfähig für ein Genre macht, dem sie sich eigentlich gar nicht zugehörig fühlen: dem Metal. Auf der ewigen Suche nach Authentizität inmitten maximaler Virtuosität und malochender Arbeitswut, sind es gerade die Metal-Fans, die diese Band besonders ins Herz schließen. Satt und gemütlich jedenfalls sind Mastodon auch nach fast 25 Jahren Karriere nicht. Sanders beschreibt das als den Berg, den die Band kontinuierlich erklimmt, ohne jemals auf dem Gipfel ankommen zu können oder es auch nur zu wollen. Er, Dailor, Hinds und Kelliher seien immer noch dieselben vier Typen, die sich aus Liebe zur Musik mit aller Kraft in das hineinbegeben, was sie tun. Bei allem Erfolg, den sich die Band erarbeitet habe, sei es gerade aufgrund der Opfer, die sie hierfür erbracht haben, keine Option, irgendwelche halbgaren Alben rauszuhauen, im Vertrauen darauf, dass sie ja ohnehin gekauft werden. “Zum Glück haben wir nach wie vor den Wunsch, immer besser zu werden. Nicht nur für die Fans, sondern auch für uns. Wir wollen stolz sein auf neue Riffs, neue Licks oder Gesangslinien. Also konzentrieren wir uns auf jedes einzelne Detail und treiben unsere Musik zu einem Punkt, an dem sie uns allen gefällt.”

Hier ist sie, die Beständigkeit, die Besessenheit, aber auch die Liebe zum Detail, die bereits 20 Jahre zuvor vier junge Musiker dazu antreibt, sich die Nächte nach der Arbeit um die Ohren zu schlagen und an Songs zu schreiben, die ihnen neue Türen aufstoßen sollen. Hier ist aber auch das Vertrauen in die eigene Musik, die es braucht, einfach mal einen Monat lang mit unveröffentlichtem Material auf US-Tour zu gehen. Und der Wille, aus all der Scheiße dieser Welt etwas Funkelndes zu erschaffen. Der Hang zur großen Geste und der Fallhöhe, die damit einhergeht. Auch wenn sie heute mehr singen als brüllen. So richtig geschrien haben Mastodon nie. Ihre Stimme war und ist immer noch eine der Zärtlichkeit für den Menschen an sich. Von Wacken bis zum Kellerclub. Die Produktion von “Leviathan” ist allerdings wirklich nix. | leserbriefe@visions.de

Mehr zu: Mastodon
Vorheriger Artikel
Nächster Artikel