An einem Nachmittag im Januar 2024 steht Josh Klinghoffer in dem legendären Liveclub Troubadour in West Hollywood und hält eine abgewetzte Fender Stratocaster in der Hand. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, schließlich ist der durch Warpaint, die Red Hot Chili Peppers oder etwa Gnarls Barkley bekannt gewordene Musiker in erster Linie: Gitarrist. Klinghoffer befindet sich im Troubadour allerdings nicht auf, sondern vor der Bühne. Neben ihm steht der Red-Hot-Chili-Peppers-Drummer Chad Smith, langsam erkennt man auch ein paar weitere Gesichter in dem sich gemächlich füllenden Club. Es ist gerade mal 13 Uhr, aber auf allen Tischen stehen Bottiche mit Eiswürfeln, mexikanischem Bier, Limettenschnitzen und Tequilaflaschen, dazu reihenweise Schnapsgläser. Es ist Grammy-Woche in Los Angeles, da nimmt man es mit der Tageszeit für Partyanlässe nicht so genau.
Etwas zu feiern gibt es sowieso: Pearl Jam wollen heute ihr zwölftes Album “Dark Matter” erstmals der Welt vorstellen beziehungsweise dem kleinen Haufen aus Freunden, Journalisten und anderen Szenegestalten – insgesamt etwa 200 Leute –, die zu diesem Anlass eingeladen worden sind. Zum programmatischen Ablauf der, nun ja, Rock’n’Roll-Matinee hat sich die Band im Vorfeld nicht geäußert, also hofft und denkt man jetzt natürlich, dass Klinghoffer – immerhin seit einer Weile Livegitarrist bei Pearl Jam und Eddie Vedder solo – die Gitarre nicht grundlos dabeihat. Auf der Bühne stehen bislang vier wenig aussagekräftige Mikrofonständer, dahinter ein Backdraft mit dem Coverartwork von “Dark Matter”, das in Verbindung mit der verkitschten Schrift, sagen wir, Geschmacksache ist. “Sie sind meine Brüder”, sagt nun Chad Smith, als wir uns begrüßen. “Natürlich bin ich dabei, wenn sie eine neue Platte vorstellen. Vor allem, wenn es so eine gute ist.” Die Spannung steigt.
Nach einer Weile betreten zunächst Michele Anthony und Monte Lipman die Bühne. Erstere ist Vizepräsidentin der Universal Music Group, hat bereits der Pearl-Jam-Vorläuferband Mother Love Bone vor 35 Jahren den ersten Plattenvertrag besorgt und kümmert sich seit dem Tag ihrer Gründung um die Plattendeals von Vedder, Mike McCready, Stone Gossard, Jeff Ament und Matt Cameron. Lipman ist CEO von Pearl Jams neuer Plattenfirma Republic und als Redner kein großes Talent. Die üblichen Ergebenheitsadressen liest er stockend vom Zettel ab, dann bedankt er sich bei Anthony für ihr Vertrauen, Pearl Jam zu Republic gebracht zu haben. Sie erwidert schlagfertig: “Don’t fuck it up!”
Unmittelbar danach kommt Vedder bedächtig jene kleine, wackelige Holztreppe hinunter, über die schon Joni Mitchell, Elton John, Guns N’ Roses und so viele andere auf die Bühne des Troubadour gegangen sind. Vedder tritt ans Mikrofon, ruft laut und mit Blick auf den über der Treppe gelegenen Backstagebereich: “Huch, wo sind denn alle, kommt ihr noch?” Eilig rennen nun die Treppe runter: Ament, McCready und Andrew Watt, der Produzent von “Dark Matter”, der das ikonische Mookie-Blaylock-Tank-Top von Pearl Jams 1991er Tour trägt, für das second-hand locker ein Monatseinkommen verlangt wird, wenn man es überhaupt mal bekommt. Klinghoffer fühlt sich derweil nicht angesprochen und bleibt mit seiner Gitarre im Publikum stehen. Vedder schwenkt eine Keramikflasche mit unverschämt teurem Tequila der Marke Clase Azul Reposado, aus der er den ganzen Nachmittag Shotgläser füllen und selbst trinken wird. Außerdem trinkt er Bier, es wird jetzt wirklich sehr lustig und auch ein bisschen ergreifend.
Angriff ist die beste Verteidigung, also stellt Vedder eines gleich am Anfang klar: Man sage das ja jedes Mal, aber “Dark Matter” sei nun wirklich das beste Pearl-Jam-Album überhaupt, und das liege nicht zuletzt an Produzent Watt. Sowie am heute abwesenden Cameron: Man wisse natürlich, was für ein Teufelskerl er am Schlagzeug sei, aber mit den Drums auf dem neuen Album habe er sich selbst übertroffen. Als nächstes erklärt Vedder die Ortswahl: Vor über 30 Jahren, im Oktober 1991, hätten Pearl Jam ihr allererstes Los-Angeles-Konzert im Troubadour gespielt. Damals habe die Bühne auf die Band unfassbar groß gewirkt, nun nach unzähligen Stadionkonzerten sei der Ort für sie eher wie eine Art Wohnzimmer. Als nächstes zieht Vedder den sich kurz sträubenden McCready ans Mikro, und auch der hat eine Anekdote zum Troubadour auf Lager: Als er in den 80ern mit seiner damaligen Hardrock-Band Shadow im Club zu Gast war, habe er für den Auftritt bezahlen müssen, denn im Troubadour wurde einst leider auch die unselige Tradition des Pay-to-Play begründet. Insofern sei der Gitarrist nun immerhin froh, heute nicht zur Kasse gebeten worden zu sein.
Wie zuvor bereits Lipman und Vedder lobt auch McCready Watt: “Ich bin selbst hyperaktiv, aber im direkten Vergleich ist der Typ unfassbar. Andrew ist ein positiv Verrückter, der uns im Studio von früh bis spät im Nacken hing, jeden Tag ein anderes Pearl-Jam-Shirt trug und sämtliche Gitarrenparts unserer Geschichte auswendig kennt.” Ähnliches hörte man zuletzt bereits von der ebenfalls von Watt verantworteten Produktion der Rolling Stones. Auftritt Ament: Der Bassist ist zu groß für Vedders Mikroständer und muss sich bei seiner Ansprache ein bisschen runterbeugen: “Ich könnte nicht stolzer auf uns und dieses Album sein”, sagt er, nachdem er seinerseits von Watt geschwärmt hat. “Ich bin wahnsinnig dankbar für unsere Fans, aber vor allem bin ich dankbar für den Bund mit meinen Brüdern bei Pearl Jam.”
»Die Götter des Songwriting wussten, dass wir da waren und eine besondere Reise antreten würden.«
Eddie Vedder über die Aufnahmen im Shangri-La
Anschließend ist es an der Zeit für Vedder, den Running Gag des Abends zu etablieren: Er frage sich, warum alle anderen größere Flaschen hätten und nur er selbst mit diesen kleinen Bierfläschchen abgespeist würde, sagt er mit Blick auf die tatsächlich sehr kleine Flasche in seiner Hand. Immerhin: Die Flasche lasse ihn größer erscheinen, als er eigentlich sei. Seit einigen Monaten spiele er nun bereits immer mal wieder Freunden und Partnern “Dark Matter” vor, und bislang habe er danach noch jedes Mal zwei Tage einen Kater gehabt – “vermutlich wollen sie mich mit diesen Miniflaschen vor mir selbst beschützen.” Überhaupt agiert Vedder im Stil eines bestens aufgelegten Conférenciers: Man werde jetzt das Album vorspielen, er bitte das Publikum aber, nicht zu sehr auf seine Songtexte zu achten: “Irgendetwas muss ich schließlich singen, also habt Nachsicht mit mir.”
Dann erklingt der sphärische Auftakt des Albumopeners “Scared Of Fear”, und Vedder geht nicht etwa hinter die Bühne, sondern springt gemeinsam mit Watt kurzerhand ins Publikum und beginnt dort unten, Tequila auszuschenken, während ein aufgekratztes Stone-Gossard-Riff die Clubwände wackeln lässt. Mit der Zeile “We used to love, we used to sing, we used to dance, we used to believe”, hallt Vedders Stimme eindringlich durch den Raum. Das letzte Wort zieht er endlos in die Länge, wie man es von ihm kennt, er singt also “beliiiiiiiiiiiiiiieve”, es geht um die alten Zeiten in Seattle oder um die Trennung von einer Frau, so ganz genau weiß man das ja nie, aber es passt jedenfalls.
Angst vor der Angst
Die Geschichte von Vedder war immer auch die Geschichte von jemandem, der am liebsten ohne Netz und doppelten Boden direkt zu den Leuten wollte – und der sich über einen langen, schmerzhaften Prozess eingestehen musste, dass das als einer der größten Rockstars seiner Generation nicht ohne Weiteres geht, ohne Schaden an der mentalen Gesundheit zu nehmen. Stattdessen wurden die Barrieren durch den beispiellosen Grunge-Hype der frühen 90er immer höher, Band und Sänger entwickelten Skepsis gegenüber der Musikbranche, wirkten überfordert, wurden in ihrer darauffolgenden, oft hilflos wirkenden Verweigerungshaltung von vielen als larmoyant empfunden. Kurt Cobain starb, Vedder lieferte sich – letztlich erfolglos – Scharmützel mit Ticketmaster, versuchte, seine Wut gegen die Maschine in sinnvolle Bahnen zu lenken. Pearl Jam nahmen aus Angst vor noch mehr Erfolg sperrigere Alben auf, in deren Songs Vedder die Vokale immer seltener so lang und überlebensgroß zog wie jetzt wieder in “Scared Of Fear”. Angst vor der Angst: So war es wirklich eine Zeit bei dieser Band. Pearl Jam schienen Angst vor ihrer eigenen Größe zu haben, vor Vereinnahmung, vor allem aber davor, die Deutungshoheit über ihr Schaffen und darüber sich selbst zu verlieren.
Dann kam die Katastrophe von Roskilde und machte alles noch schlimmer. Vor allem Vedder reagierte mit Abschottung, bis heute gibt er nur selten Interviews. Als wir uns zum bislang letzten Mal trafen, sagte er: “Wir hatten anfangs eine aufregende Zeit, aber schon bald ging es nur noch ums Überleben. Unsere Reaktion war eine Art Verweigerungshaltung, ob bewusst oder unbewusst, das ist mir heute klar.” Über die vergangenen 20 Jahre haben Pearl Jam sich dann ein eigenes System im System aufgebaut, mit einem Hauptquartier in Seattle, dem Ten Club, diesen extrem loyalen, ihnen überall hinterherreisenden Fans und regelmäßigen Alben, die sich immer offensichtlicher nicht um neue Zielgruppen und Medienformate scherten. Vedder nun im Troubadour so offen und gelöst mit den Leuten tanzen zu sehen, ist eine reine Freude.
Wir stehen also quasi mit ihm in der Row Zero, daneben Watt, der Luftschlagzeug spielt, Luftbass und Luftgitarre, der singt, strahlt, ganz und gar in seinem Element ist, permanent Leuten zuwinkt und ebenso wie die Band augenscheinlich wahnsinnig begeistert von diesem Album ist, das er mit Pearl Jam aufgenommen hat. Die Musik ist irre laut und ziemlich gut.
Wir kommen später noch dazu, aber die Band hat allen Grund, sich zu freuen. “Dark Matter” ist das beste Pearl-Jam-Album seit “Yield” von 1998 – vor allem weil man spürt, dass diese fünf Musiker endlich wieder wirklich etwas wollen und sich auf ihre Stärken besinnen. Zwischen den Songs wird geklatscht und gejohlt, es ist ein bisschen so, als wäre man mit der Band selbst auf einem ihrer eigenen Konzerte, und gegen Ende tanzt Vedder mit seiner Tochter Olivia direkt vor der Bühne zur Ballade “Something Special”, einem der Highlights des Albums. Danach bleiben alle noch einen Moment beseelt stehen. Watt erzählt, er sei der größte Pearl-Jam-Fan überhaupt, Klinghoffer steht immer noch bei Smith. Die Gitarre hält er weiterhin in der Hand, spielen wird er sie heute leider nicht mehr.
Alle Zeit der Welt
Knapp zwei Monate später, ein herrlicher Frühlingstag in London. Ausflugsboote fahren auf der Themse, der Himmel strahlt blau. Vedder sitzt in einer Hotelsuite und blickt aus dem Fenster. Mit Hut, dem dunkelblauen Sakko und dem fein ziselierten Zorro-Schnauzbart sieht er ein bisschen so aus wie ein Plantagenbesitzer aus den US-Südstaaten des 19. Jahrhunderts. Eigentlich ist er in der Stadt, um mit Roger Daltrey, Robert Plant, Paul Weller und Kelly Jones von den Stereophonics für die Jugendkrebshilfeorganisation Teenage Cancer Trust in der Royal Albert Hall aufzutreten, wo Vedder zu Beginn der Woche außerdem als Überraschungsgast bei einem Konzert seiner alten Helden von The Who aufgetaucht ist. Er hat die Gelegenheit genutzt, “Dark Matter” zwei Tage vor unserem Termin auch in London vorzustellen, in einem ähnlichen Rahmen wie in L.A., aber diesmal allein und in dem deutlich größeren Liveclub Lafayette. Vedder hat seit über zehn Jahren quasi keine Interviews mehr zu neuen Pearl-Jam-Alben gegeben, unseres ist das einzige überhaupt für deutsche Medien zu “Dark Matter”. Aber wenn er dann doch mal spricht, nimmt er sich viel Zeit, überlegt lange vor den Antworten, ist ein warmherziger Gastgeber und aufmerksamer Gesprächspartner. “Du hast so viel Zeit, wie wir brauchen”, sagt er. Das trifft sich gut, denn es gibt wahnsinnig viel zu besprechen. Und ja: Es wird auch um die Ticketpreise der kommenden Tour gehen, die kurz vor dem Interview einen Sturm der Entrüstung entfacht haben.
Das Wichtigste zuerst: Warum hatte Josh Klinghoffer im Troubadour eine Gitarre dabei?
Eddie Vedder: Das ist leicht zu erklären. Der Typ hat einfach überall, wo er geht und steht, eine Gitarre dabei.
Ich hatte vermutet, ihr hättet einen Song für den Nachmittag geplant, ihn dann aber doch nicht gespielt.
Nein, Josh hat wirklich immer eine Gitarre dabei. Er ist Gitarrist im wahrsten Sinne des Wortes, das Instrument ist quasi ein zusätzliches Körperteil von ihm. Sie zu Hause zu lassen wäre das Gleiche, als würde ich ohne meine Stimme irgendwohin gehen, also im Grunde unvorstellbar.
Vorgestern hast du euer neues Album hier in London auf ähnliche Weise vorgestellt wie in L.A. Damals hast du gesagt, du bräuchtest nach diesen Terminen immer zwei Tage, um den Kater zu überwinden. Hast du inzwischen einen gesünderen Weg gefunden, anderen Leuten “Dark Matter” vorzuspielen?
Leider nicht. Wenn man den Leuten Tequila-Shots serviert, wäre es unhöflich, nicht mitzutrinken. Ich habe also keine andere Wahl. In L.A. hatte ich vermutlich ein paar Gläser mehr als gewöhnlich, dieses Mal macht mir der Jetlag mehr zu schaffen als der Kater. Irgendwas ist immer. Insofern bleibt es dabei: Zwei Tage zum Ausruhen sind danach perfekt. Und nun hoffe ich natürlich, dass deine Fragen mich wachmachen.
»Andrew kennt unsere Geschichte und alle Farben, die uns ausmachen. Er ist wahnsinnig gut mit dem Pinsel.«
Eddie Vedder über Produzent Andrew Watt
Ich will es versuchen. Die Geschichte von Pearl Jam, deine Geschichte wird seit Jahrzehnten vor allem von Leuten wie mir erzählt. Hast du je darüber nachgedacht, einmal deine Version zu schildern und eine Autobiografie zu schreiben?
Wenn ich das jemals tun sollte, müsste ich bald damit anfangen. Ich kann mich jetzt schon kaum noch an etwas erinnern. Wenn ich etwas von früher erzähle, stimmt meistens die Hälfte nicht.
Die Erinnerung ist trügerisch.
Siehst du, du stimmst mir sogar zu! [lacht] Ich fange also am besten sofort an.
Immerhin erinnerst du dich an den Tag, an dem Matt Cameron 1998 Pearl Jam beigetreten ist. Du hast im Troubadour davon erzählt und Camerons Spiel auf dem neuen Album gelobt. Was ist daran anders als sonst?
Ein Beispiel: Am ersten Tag im Studio hat Matt sein Schlagzeug aufgebaut, gestimmt und anschließend alles getestet. Er hat dabei aus dem völligen Nichts irgendeinen Rhythmus gespielt, der förmlich aus ihm hinaustropfte. Wir spielen schon so lange mit ihm zusammen. und noch viel länger ist er ein unglaublicher Schlagzeuger, aber diesen Beat hatten wir noch nie von ihm gehört. Also haben wir ihn gefragt: “Was war das denn eben, Matt?” Und er so: “Nichts, ich stimme einfach nur mein Schlagzeug.” – “Kannst du es bitte noch einmal spielen, wir würden es gerne aufnehmen.” Das war der Beat am Anfang des Songs “Dark Matter”.
…der dann zur ersten Single des Albums wurde. Stone Gossard hat in einem Interview gesagt, “Dark Matter” sei bereits seit über einem Jahr fertig. Warum erscheint es erst jetzt?
Das stimmt nicht ganz. Als ich mit Andrew Watt mein Soloalbum “Earthling” produziert habe, war ich begeistert von seiner Arbeitsweise. Ich wollte ihn für das nächste Pearl-Jam-Album gewinnen, aber vorher war es mir wichtig, ihn den Jungs vorzustellen. Ich war froh, dass die anderen damals zugesagt haben, in Andrews Studio in Beverly Hills zu kommen und ein bisschen mit ihm aufzunehmen. Das war vor ungefähr zwei Jahren, mit dieser Session fing es an.
Warum war es wichtig, direkt eine gemeinsame Session zu machen?
Andrew arbeitet anders als die meisten Produzenten, sehr intensiv. Es ist ein bisschen so, wie ein besonders wildes Pferd bei einem Rennen zu reiten. Man kommt als Erster ins Ziel, aber, nun ja… Also wollte ich herausfinden, ob alle aus der Band mit seiner Art umgehen konnten. Mir war klar, dass diese Zusammenarbeit musikalisch funktionieren würde, es musste aber auch menschlich passen und sollte sich für alle gleich gut anfühlen. Also trafen wir uns in Andrews Studio und haben gleich am ersten Tag zwei neue Songs gemeinsam mit ihm aufgenommen, aber bei Weitem nicht das gesamte Album. Bis vor ungefähr vier Monaten waren wir noch mit dem Mischen und dem Mastering beschäftigt.
Zwischendurch gab es noch eine ausgiebige zweite Session im Shangri-La-Studio von Rick Rubin mit Watt. Dieser Ort hat für dich eine besondere Bedeutung, da Teile von Martin Scorseses The-Band-Doku “The Last Waltz” dort entstanden sind, oder?
Seit meiner Kindheit hat dieses Studio etwas Magisches für mich. Ich war um die 14, als mein Onkel mich in Chicago mit in eine Kinovorführung von “The Last Waltz” genommen hat, das müsste im Sommer 1978 gewesen sein. Mit dieser Art von Musik war ich damals überhaupt nicht vertraut. Ich kannte Neil Young und Joni Mitchell aus dem Radio, hörte sonst aber eher britische Musik, die Beatles, Kinks… Dieses Album und diesen Film in so einem frühen Alter gezeigt bekommen zu haben, hat mir ein ganzes Universum eröffnet: Van Morrison, Muddy Warters, Paul Butterfield, Ronnie Hawkins, Eric Clapton, natürlich The Band selbst – sie alle habe ich durch “The Last Waltz” entdeckt. Und letztlich habe ich auch Neil Young erst dadurch richtig kennengelernt. Oder Dr. John. So viele dieser Leute sind in späteren Jahren unschätzbar wichtig für mich geworden, weil ich sie live gesehen habe, mit ihnen aufgetreten bin oder sich Freundschaften entwickelten. Und das lag alles an diesem Film.
So ist gewissermaßen deine halbe musikalische Sozialisation mit diesem Anwesen verbunden, das damals der Schauspielerin Margo gehörte und dann von The Band gepachtet und nach Vorgaben von Bob Dylan zum Studio umfunktioniert wurde, bevor Rick Rubin es noch viel später übernommen hat?
Ganz genau. Es gibt diese eine Szene, an die ich mich noch gut erinnern konnte, in der Bassist Rick Danko mit Scorsese durchs Studio geht und sie einen Song am Mischpult aufnehmen. Als Rick Rubin uns zum ersten Mal durch das Haus geführt hat, habe ich die entsprechende Ecke gleich wiedererkannt. Aber dann gab es noch einen Haufen anderer Szenen, etwa die, in der ein Typ Poolbillard spielt, von denen ich immer dachte, die wären in irgendeiner Bar gedreht worden. Aber wie sich herausstellte, entstanden auch diese Passagen im Shangri-La. Dieses Album, dieser Film bedeuten mir die Welt. Für jemanden wie mich, der mit Religion nicht viel am Hut hat, war es fast schon eine religiöse Erfahrung, dort zu arbeiten. Nicht unbedingt wie in einer Kirche, aber heiliger Boden.
Hat sich diese Magie auf die neuen Pearl-Jam-Songs übertragen?
Auf jeden Fall, und zwar von Anfang an: Ich bin einen Tag vor allen anderen im Shangri-La angekommen. Andrew hatte ein kleines Riff und spielte es die ganze Zeit, also haben wir uns zusammengesetzt und ein bisschen mit der Idee rumgespielt. Wir schoben Patterns hin- und her, haben das Riff umgestaltet, noch einen zweiten Teil geschrieben. Nach ungefähr einer halben Stunde waren wir fertig und noch in derselben Nacht ist mir ein Text dazu eingefallen. Es war ein wahnsinnig gutes Zeichen, dass wir an diesem neuen Ort gleich am ersten Tag den ersten Song fertig hatten, er heißt nun “Wreckage”. Denn es bedeutete, dass die Götter des Songwriting wussten, dass wir da waren und eine besondere Reise antreten würden.
An einer Stelle warst du im Troubadour besonders ehrlich: Normalerweise habe man bei einem Album vier oder fünf gute Songs, um die man den Rest herumgruppiere. “Dark Matter” sei nun ein Album ohne Lückenfüller. Aus heutiger Sicht: Welches Pearl-Jam-Album war dann vielleicht doch nicht ganz so toll?
Die Sache ist die: Man hat etwa sechs Songs, die kraftvoll, voller Aggression und rhythmisch herausfordernd sind. Dann braucht man ein paar Midtempo-Songs, um das stilistisch auszugleichen. Oder man hat acht Folk-Songs, also nimmt man noch zwei Uptempo-Stücke mit vertracktem Rhythmus dazu – und das sind dann genau die beiden Songs, die man am Ende nicht mag. Es kommt immer auf den Mix an, alles muss gut zueinander passen. Wir hatten etwa mal einen Song namens “Down”, eine B-Seite…
Ein Outtake aus den “Riot Act”-Sessions 2002.
Genau. Wir fanden damals, der Song passe nicht auf das Album. Ich kann nicht mehr sagen, warum. Es ist ein guter Song, besser als einige, die tatsächlich auf dem Album gelandet sind.
Warum macht ihr in solchen Fällen nicht einfach weiter, bis nur noch gute Songs übrig sind?
Ich will ehrlich sein: Es gibt Songs, die die Band schreibt, oder sagen wir, die einzelne Mitglieder der Band schreiben, die… Nun ja, bisweilen schreiben Musiker Songs, die vor allem für Musiker interessant sind.
Also solche, bei denen es vor allem um technisches Können geht, weniger um Text und Melodie?
Das muss nichts Schlechtes sein. Wir wollen uns selbst nicht nur unterhalten, sondern auch musikalisch herausfordern. Auf diese Weise ist Progressive Rock entstanden: durch Leute, die versucht haben, sich selbst und andere technisch herauszufordern. Sind diese Songs dann aber auch für ein größeres Publikum zugänglich? Vermutlich nicht.
Warum scheint es für die meisten etablierten Rockmusiker in späteren Jahren überhaupt so ein Problem zu sein, noch vernünftige Musik aufzunehmen? Ich glaube nicht, dass es am Alter liegt. Ist es nicht eher so, dass man nach all den Erfolgen irgendwann dazu neigt, kein Korrektiv mehr zuzulassen? Anders gefragt: Wie leicht ist es euch gefallen, bei der Produktion auf Andrew Watt zu hören?
Ich denke, es geht vor allem um Vertrauen. Bei uns ist es so: Niemand bekommt neue Songs zu hören, bevor sie so gut wie fertig sind. Weder das Label noch unsere Freunde oder Frauen.
Es braucht aber ja nicht nur einen guten Produzenten für ein Album, sondern auch eine Band, die bereit ist, sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen.
Natürlich habe ich schon mal hier und da Demos vorgespielt, aber wir holen uns keine Ratschläge von anderen Leuten. Ich spiele jedenfalls keine neuen Songs vor und frage dann, wie ich sie verbessern kann, ob sie schnell oder laut oder gut genug sind. Das macht es für Andrew tatsächlich noch schwieriger, mit uns zu arbeiten. Wir wissen als Band nach all den Jahren einfach, dass wir in der Lage sind, die Pearl-Jam-Magie in einem Raum entstehen zu lassen. Andrew musste die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, die richtigen Entscheidungen treffen, den idealen Sound kreieren und dafür sorgen, unsere Live-Energie einzufangen. Das hat er vom ersten Tag an, gleich mit diesen ersten beiden Songs geschafft. Dadurch haben wir ihm immer mehr vertraut.
Mick Jagger hat mir erzählt, dass Watt die Rolling Stones vor allem durch seine enorme Werkkenntnis überzeugt hat. Auch bei euch hat er jeden Tag ein anderes Pearl-Jam-Shirt im Studio getragen.
Andrew ist in der Lage, all sein Wissen über die Künstler, mit denen er arbeitet, auch musikalisch zu nutzen und in seine Arbeit einfließen zu lassen. Auf eine Weise, von der ich nicht halb so viel Ahnung habe wie er. Wie gesagt, mein Gedächtnis ist nicht das beste. Andrew kennt sich mit unserer Geschichte viel besser aus als ich. Wenn ich das permanent alles im Kopf hätte, wäre es eine viel zu große Last. Aber er ist in der Lage, diese Last nicht nur zu tragen, sondern darauf zuzugreifen.
Wie meinst du das?
Das Tolle an seinem enzyklopädischen Wissen über die Bands ist, dass er plötzlich mit einem Sound oder Arrangement um die Ecke kommt, das dann wirklich so klingt wie eine Stones-Platte aus den 70ern oder in unserem Fall eines unserer frühen Alben. Er kopiert diesen Sound nicht, er imitiert ihn nicht, aber er erweckt das entsprechende Gefühl zum Leben und bringt uns – und damit die Hörer – an einen ähnlichen Ort wie damals, der sich unter Andrews Einfluss plötzlich wieder aufregend anfühlt. Das macht das Album, glaube ich, insbesondere für Leute interessant, die uns schon eine ganze Weile hören. Kurzum: Andrew kennt unsere Geschichte und alle Farben, die uns ausmachen, er weiß aber auch, welche Farben nicht zu uns passen. Er ist wahnsinnig gut mit dem Pinsel und kann jederzeit auf die komplette Farbpalette zugreifen.
Watt scheint es zu gelingen, aus so unterschiedlichen Künstlern wie den Rolling Stones, Paul McCartney, Iggy Pop, Elton John oder Ozzy Osbourne das beste herauszukitzeln. Wirklich nur, weil er ein Riesenfan dieser Legenden ist?
Das Stones-Album ist einfach unglaublich, ihr bestes seit Jahrzehnten! Andrew ist wahnsinnig gut darin, die Aufnahmen so klingen zu lassen, wie sie klingen müssen. Menschen von ihrer eigenen Musik zu begeistern und ihre Energie kongenial einzufangen, das ist seine Kunst.
Ein neuer Song heißt “Waiting For Stevie”. Heißt der Typ, auf den ihr da wartet, zufällig Wonder mit Nachnamen?
Allerdings. Das geht ebenfalls auf die Sessions zu meinem Soloalbum zurück. Damals waren Andrew und ich im Studio, außerdem Chad Smith von den Red Hot Chili Peppers, Josh Klinghoffer, Elton John. Irgendwann kam die Idee auf, Stevie Wonder einzuladen, damit er ein bisschen Mundharmonika spielt. Das war eher ein frommer Wunsch als eine realistische Idee, aber überraschenderweise hat er zugesagt. An einem bestimmten Tag wollte er zu einer bestimmten Uhrzeit ins Studio kommen, aber als es so weit war, tauchte er nicht auf. Ewig nicht. Es wurde immer später, aber wir haben die Wartezeit gut genutzt. Es war eh klar, dass wir auf jeden Fall warten würden, es ist schließlich Stevie Wonder. Wann immer er kommt, ist Stevie-Time. Wenn ich mich recht entsinne, wollte er um sechs da sein, und als er um elf Uhr abends endlich da war, hatten Andrew und ich den kompletten Song fertig. Wäre er pünktlich gekommen, gäbe es ihn nicht. Also heißt der Song jetzt “Waiting For Stevie”.
“We could be one last setting sun (…) / Let us not fade.” Mit dieser Zeile aus dem Song “Setting Sun” endet “Dark Matter”. Hast du dabei an Pearl Jam gedacht?
Es könnte alles Mögliche gemeint sein. Eine Beziehung, unsere Beziehung, vielleicht sogar der Amerikanische Traum, du weißt schon. Oder der menschliche Traum. Die Zeit, in der wir leben, fühlt sich für mich wie eine Art Test an.
Was für ein Test?
Für uns in den USA ist es ein Wahljahr, und es fühlt sich so an, als sollten wir auf eine Probe gestellt werden. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn diese Leute es nicht hinbekommen, dann scheiß auf sie! Mir geht es gut, ich habe keine existenziellen Nöte, ich werde schon irgendwie klarkommen.
Sprichst du von Trump-Wählern?
Ja, wenn wir diese Leute nicht überzeugen können, dass sie nicht in ihrem eigenen Interesse handeln, wenn sie Trump wählen, können wir nichts mehr für sie tun. Ich kann nur appellieren: Denkt an euch selbst, wenn ihr ins Wahllokal geht und eure Entscheidung trefft. Trefft sie im besten Interesse der Arbeiterklasse und der normalen Leute da draußen.
Gemeinsam mit deiner Frau engagierst du dich gegen die Aufhebung des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Abtreibung in den USA. Wie blickst du vor diesem Hintergrund auf die erneute Kandidatur von Donald Trump, den du einst als “Sitting Bullshit” bezeichnet hattest?
Die Bezeichnung trifft es immer noch. An diesem Punkt der Geschichte sehen wir, wie stark der Einfluss moderner Technologien auf unser Leben ist. Die aktuelle politische Entwicklung hat viel mit Echokammern und Filterblasen zu tun. Mit den dort grassierenden Fake News, die leider von vielen Leuten geglaubt werden. Ein guter Anfang wäre es wie gesagt, wenn die Leute anfangen würden, bei Wahlen in ihrem ureigenen Interesse abzustimmen, aus Eigennutz. Zu sehen, wie so viele jemandem folgen, der keineswegs ihre Interessen vertritt, frustriert mich. Es sollte überall auf der Welt Warnhinweise auf den Wahlplakaten dieser Parteien geben.
Sturm der Entrüstung
Pearl Jam sind seit einigen Jahren eine Band, der viele abseits der Bühne keine Gegenwart mehr zugestehen, was sie sich durchaus selbst zuzuschreiben haben: Ungefähr seit ihrem sechsten Album “Binaural” (2000) ist die von Vedder skizzierte Methode deutlich erkennbar, nach der ein Album aus vier bis fünf guten Songs und einer Reihe Lückenfüllern bestehe. Nach dem starken “Backspacer” (2009) wirkten “Lightning Bolt” (2013) und “Gigaton” (2020) zuletzt erschreckend uninspiriert, klangen nach fünf Männern, die sich für keine gemeinsame Richtung mehr entscheiden können. Mehr noch: “Gigaton” bestand aus einer Menge guter Parts, aus denen abgesehen von wenigen Ausnahmen keine Songs werden wollten. Es fehlte der Blick von außen, ein Mann wie Watt.
Was für eine erfrischende Radikalkur dagegen “Dark Matter”: Nach dem stürmischen Auftakt mit dem erwähnten “Scared Of Fear” und dem rasanten “React, Respond” kommen auf diesem Album immer wieder Ahnungen, Zitate und Momente der Bandgeschichte als Widerhall vor; so ist man gleichzeitig in allen Phasen des Werks, und die Summe aus ihnen allen bildet die Gegenwart, bildet “Dark Matter”. “Upper Hand” ist ein elegisches Epos, das an die “No Code”-Phase erinnert und am Ende an “Porch”, während “Waiting For Stevie” beinahe eins zu eins das gleiche Riff hat wie “In Hiding” auf “Yield”. McCready hat seit “Vs.” nicht mehr so viele furiose Outro-Solos gespielt, aus dem folgenden atmosphärischen Schnipsel hätte ein guter U2-Song werden können, aber das Intermezzo ist nach wenigen Sekunden auch schon wieder vorbei.
Etwas seltsam erscheint die Strategie, mit dem an “I Love Rock’n’Roll” erinnernden Titelsong und dem üblichen Pearl-Jam-Punker “Running” zwei weniger offensichtliche Songs vorab auszukoppeln, zumal “Dark Matter” mit dem von Tom Petty inspirierten “Wreckage” sowie mit “Won’t Tell” und “Something Special” drei potenzielle Radiohits enthält. Mit dem gewaltigen, wiederum an “Animal” erinnernden “Got To Give” – einem der besten Pearl-Jam-Songs der vergangenen 25 Jahre – und “Setting Sun” stehen zwei der besten Stücke ganz am Ende. “Dark Matter” ist also endlich einmal wieder ein Ereignis. Pearl Jam spielen diese Songs beseelt, voller Freude und Energie. Verständlich vor diesem Hintergrund, dass die Band bereits angekündigt hat, das Album auf der kommenden Tour prominenter zu bedenken als in der Vergangenheit bei neuen Alben üblich.
Zunächst haben Pearl Jam aber einen lupenreinen Shitstorm entfacht: Die Ticketpreise der anstehenden Konzerte riefen in Foren und Kommentarspalten einen Sturm der Entrüstung hervor. Zumal die Treusten der Treuen, die der Band traditionell hinterherreisenden Mitglieder des Ten Club, genauso wie alle anderen mindestens 175 Euro beziehungsweise US-Dollar pro Show zahlen sollen. Viel zu viel, befanden die meisten. Bei einigen trat dabei eine bemerkenswert strukturkonservative Dienstleistungsmentalität zutage: Sich darüber zu echauffieren, dass die Lieblingsband ankündigt, viele neue Songs spielen und zugleich nicht mehr unbedingt jeden Abend dreieinhalb Stunden auf der Bühne stehen zu wollen, kann man schon borniert nennen.
»Wenn wir draufzahlen müssten und überhaupt kein Geld mehr verdienen könnten, würden wir nicht mehr auf Tour gehen.«
Eddie Vedder über die Ticketpreise
Dennoch: Es waren eben Pearl Jam, die sich damals gegen den Monopolisten Ticketmaster gestemmt haben, wenn auch letztlich vergeblich. Das Alleinstellungsmerkmal an Band schien stets zu sein, die Dinge anders anzugehen als ähnlich erfolgreiche Kollegen. Auf diese Weise haben sie sich über die Jahrzehnte den Charme einer Multiplatin-Undergroundband erhalten. Pearl Jam sind nicht Taylor Swift oder Adele, denen man astronomische Eintrittspreise nachsieht. Folgender Gedanke drängt sich auf: Die Bandmitglieder wollen mit knapp 60 nicht mehr so viele Konzerte spielen wie früher, aber genauso viel Umsatz machen.
Eddie, es gab in den vergangenen Wochen einige Aufregung wegen der Eintrittspreise für die anstehenden Konzerte. In Deutschland kosten die Tickets 175 Euro, in manchen Kategorien waren sie durch das sogenannte Dynamic Pricing deutlich teuer. Wolltet ihr es nicht eigentlich immer anders, also fairer machen als alle anderen?
Das ist leider komplizierter. Nach Corona wollten alle so schnell wie möglich wieder auf Tour gehen, und warum auch nicht: Das gilt nicht für uns, aber viele Kollegen sind auf die Einnahmen aus Touren existenziell angewiesen. Dadurch sind die Produktionskosten völlig aus dem Ruder gelaufen. Man findet kaum noch eine Crew, es gibt Probleme bei der Organisation von Bussen, Bühnen, PA-Systemen, Veranstaltungsorten. Die Leute sagen: “Wenn ihr meinen Preis nicht bezahlt, kein Problem, jemand anderes wird ihn bezahlen.” Das gilt selbst für Dienstleister, mit denen wir seit über 30 Jahren arbeiten.
Kannst du dennoch verstehen, dass einige Fans in den Foren sich regelrecht betrogen zu fühlen scheinen?
Wenn wir Geld sparen können, geben wir es an die Fans weiter. Es ist für uns aber essenziell, mindestens kostendeckend zu arbeiten. Wenn wir draufzahlen müssten und überhaupt kein Geld mehr verdienen könnten, würden wir nicht mehr auf Tour gehen.
Die gesamte Musikwelt hat sich seit euren Anfängen drastisch verändert: die Bedeutung von Konzerten, Ticketpreise, Hörgewohnheiten, die Funktion von Musik, die Art, wie wir sie hören, Social Media und einiges mehr. Es droht eine zunehmende Fokussierung an der Spitze der Einkommenspyramide, für eine breite, vielfältige Kulturszene ist das eine bedenkliche Entwicklung.
Du hast Recht, es hat sich eine Menge verändert. Und vielleicht wird es durch diese ganze Entwicklung irgendwann endgültig zu teuer, Konzerte zu spielen. Wenn wir an einen Punkt kommen, an dem wir die Ticketpreise überhaupt nicht mehr rechtfertigen können, könnte es sein, dass wir nicht mehr in der Lage sind, weiterzumachen.
Hast du die Hoffnung, dass Künstler irgendwann stärker als jetzt an den gewaltigen Streamingumsätzen beteiligt werden?
Das würde auf jeden Fall bei den Ticketpreisen helfen, denn aktuell sind Konzerte für Künstler die einzige relevante Einkommensquelle.
Die Sorge eurer loyalen Fanbase wurde zuletzt zusätzlich angefacht durch eine Aussage von Stone Gossard, bei den kommenden Konzerten nicht mehr so lange spielen zu wollen wie früher und auch produktionstechnisch einiges anders zu machen. Was heißt das konkret?
Über einen Artikel in der Zeitschrift Scientific American sind wir auf einen Künstler und sein unfassbares Light-Painting-Kunstwerk aufmerksam geworden. Er lebt in Deutschland, wie sich herausstellte.
Du meinst den moldauischen Fotokünstler Alexandr Gnezdilov, der auch das Cover zu “Dark Matter” gemacht hat?
Genau, wir stürzten uns auf seinen Stapel von Bildern und waren sofort in der Lage, auf der Grundlage dieses Werks das Artwork für das gesamte Album zu erstellen. Diese Bilder stehen für uns repräsentativ für die Musik, sie stammen aus einer organischen Quelle, die wahnsinnig schön und kunstvoll eingefangen wurde.
Sogenannte Light Paintings entstehen durch Langzeitbelichtung in Verbindung mit besonderen Lichteinflüssen, vereinfacht gesagt.
Für uns fühlten sich diese Artworks an, als ob wir durch sie gleichzeitig einen Fuß in der Vergangenheit und in der Zukunft hätten. Also haben wir das für die Liveproduktion adaptiert. Wir werden auf der Bühne bei einigen Songs versuchen, in dieser Welt zu leben, wir nennen sie die “Dark Matter”-Welt. Bei anderen Songs wird das Bühnenbild wiederum an unsere Anfänge erinnern. Ich denke, insgesamt ist uns eine Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart gelungen.
Das klingt konzeptionell. Die Leute lieben an Pearl-Jam-Konzerten vor allem die Spontaneität, das Unvorhergesehene, die täglichen wechselnden Setlisten.
Die wird es weiterhin geben. Das wird sich bei uns nie ändern, es hält uns auf Trab.
Die wichtigsten Requisiten bei euren Konzerten sind ja eigentlich deine Rotweinflaschen und Notizbücher.
Keine Sorge, auch das wird es geben. [lacht]
Die letzten Überlebenden
Vedder sitzt mit der Gitarre in der Hand auf einem Stuhl, vor sich ein Notizbuch auf einem Notenständer. Eben hat Roger Daltrey ihn mit folgenden Worten angekündigt: “Seit ich ihn 1994 zu meinem 50. Geburtstag in die Carnegie Hall eingeladen habe, war auf ihn immer Verlass. Er hat den Teenage Cancer Trust vom ersten Tag an bedingungslos unterstützt. Begrüßt mit mir einen wahren Gentleman, einen tollen Sänger, einen grandiosen Songwriter, Mr. Eddie Vedder.” 24 Jahre lang hat Daltrey im Auftrag des Teenage Cancer Trust einmal im Jahr musikalische Freunde für Charity-Konzerte in London zusammengetrommelt, nun hat er sein Mandat niedergelegt und feiert kurz nach seinem 80. Geburtstag eine letzte große Abschiedsgala in der Royal Albert Hall.
Vedder wirkt sichtlich berührt, wird ein bisschen rot, sagt: “Ich bin mir nicht sicher, ob auch nur die Hälfte von dem stimmt, was Roger gesagt hat.” Dann findet er seine Fassung schnell wieder. Vedder beginnt mit “Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town”, singt ein Duett mit Tochter Olivia, dann erfüllt seine Stimme zu einer eindringlichen Version von “Porch” die Halle bis in den letzten Winkel: “Hear my name/ Take a good look/ This could be the day.” Aber natürlich heißt es im selben Pearl-Jam-Klassiker außerdem: “What the fuck is this world running to” und “The cross I’m bearing”. Auch wenn wir in L.A., London und auf “Dark Matter” einem gelösten Vedder begegnen, auch wenn er glücklich verheiratet ist und zwei Töchter hat – das Kreuz trägt er noch immer.
Im neuen Song “Got To Give” heißt es: “I’ll be the last man standing.” So muss es sich für euch ja wirklich anfühlen: Nirvana, Alice In Chains, Pearl Jam und Soundgarden waren die erfolgreichsten Bands der frühen Seattle-Jahre. Überlebt im wahrsten Wortsinn habt nur ihr.
Das war nicht immer leicht.
Ich war 2019 auf dem Tribute-Konzert für Chris Cornell in Los Angeles. Stone Gossard, Mike McCready und Matt Cameron waren da, du nicht. Weil es für dich nicht zu ertragen gewesen wäre?
Ich hatte an dem Abend einen Auftritt in Amsterdam, deshalb konnte ich leider nicht.
Cornell war nicht nur ein guter Kollege, sondern auch ein enger Freund. Wie wird man damit fertig?
Überhaupt nicht. Es ist brutal.
Eddie Vedders Augen sind feucht, die Mundwinkel zucken. Er kann das Thema auch sieben Jahre nach Cornells Tod immer noch nicht aushalten, es bleibt ein “Dark Matter”. Die Dunkelheit ist hier immer nur einen Fußbreit entfernt, aber Pearl Jam umarmen mit diesem neuen Album auch das Licht. | leserbriefe@visions.de