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Down Anders: Essay zu Australien und dem Rest der Welt

Australien: Essay

Down Anders
Markt, Inhalte, Klima: Die Musikszene Australiens unterscheidet sich spürbar von der in Europa. Aber wo und wie genau funktionieren Australien & der Rest der Welt unterschiedlich, und was machen die speziellen australischen Eigenheiten mit dort geborenen oder aufgewachsenen Musiker:innen? Hier finden sich die Gründe, warum Acts vom fünften Kontinent eigenwillig klingen – und warum so viele den Weg ins Exil finden. Denn bei aller Klasse vieler Bands: In Australien von der Musik leben? Schwierig.
Eine Erdkugel aus dem All gesehen, die den Kontinent Australien im Zentrum zeigt.
Weiter geht es nicht: Vom popkulturellen Geschehen in Mitteleuropa aus gesehen liegt Australien am anderen Ende der Welt. (Bild: maps4media/Getty Images News/via Getty Images)

Sorry, wenn wir hier mit den Bee Gees einsteigen, aber die Story der Brüder Gibb passt zu gut, um sie nicht zu erwähnen. Geboren werden Barry, Robin und Maurice auf der Isle Of Man, einer Insel zwischen dem britischen Hauptland und Irland. Von dort aus, die Kinder sind noch jung, zieht die Familie nach Australien, in die Vorstädte der Metropolregion von Brisbane an der Ostküste. Dort legen die Gibbs den Grundstein für ihre Karriere, in deren Verlauf sie für einen 60s-Schmachtfetzen und den Disco-Boom verantwortlich sind. Barry, Robin und Maurice sind noch Kinder, als sie in Ferienressorts an der Küste auftreten, für ein Publikum, das keine hohen Ansprüche an die Acts stellt, die dort begleitend zu Dinner und Drinks aufspielen.

Als die Bee Gees Hits und Gigs in Musikclubs wollen, schauen sie neidisch nach Liverpool zu den Beatles. Die Gebrüder Gibbs finden nicht, dass sie die schlechtere Band hergeben, zumal die drei schon auf der Bühne stehen, als sich die britischen Kollegen noch hauptsächlich für Fußball interessieren. Aber: “Keiner wollte sehen, dass Australien eine Band hatte, die schon viel länger Popmusik aufnahm”, klagt Robin Gibb später in einem Interview. “Das Land besaß seine eigenen Beatles, aber das wollte niemand wahrhaben.” Da hilft nur eines: weg von hier. Hugh Gibb, Vater der drei, steht kurz davor, seinen Söhnen die Pässe wegzunehmen, schließlich hat er Großbritannien nicht ohne Grund verlassen. Aber Barry, Robin und Maurice überzeugen ihn– und danken es ihm, indem sie Weltstars werden.

Musik ist kein Job

“Wenn Musik der Seele Futter gibt, dann ist die Seele Australiens hungriger als Barnaby Joyce bei einem Dinner mit veganem Mitbring-Buffett.” Mit diesem Satz leitete die australische Online-Zeitung Independent Australia eine Story über die Krise der australischen Musikszene ein, wobei man wissen muss, dass es sich bei Barnaby Joyce um den ehemaligen Agrarminister Australiens mit legendärer Vorliebe für Fleisch handelt. Der folgende Bericht legt Zahlen vor, die belegen, wie sehr Musiker wirtschaftlich zu kämpfen haben. COVID-19 hat die Situation noch einmal verschärft, aber der Report macht deutlich, dass das Problem bereits in den 00er Jahren begann. Die Organisation Musicians Australia hat errechnet, dass der durchschnittliche Stundenlohn von Musiker:innen in Australien bei 7,50 Australischen Dollar pro Stunde liegt, das sind weniger als 5 Euro. Nur 16 Prozent verfügen über ein Jahreseinkommen von mehr als 50.000 Dollar, es existiert also quasi keine Mittelklasse. Und selbst die Oberschicht ist dünn besetzt: Laut Studie sind nur 85 in Australien ansässige Musikerinnen und Musiker in der obersten Steuerklasse gemeldet.

Die Gründe dafür liegen auch in der Geografie: Neun von zehn der rund 25 Millionen Australier leben in den Metropolregionen der großen vier Städte Sydney, Melbourne, Brisbane und Perth; mit Adelaide gibt es noch eine fünfte Millionenstadt, relativ dicht besiedelt ist die Insel Tasmanien, gelegen unterhalb der Südostküste Australiens, mit gut 500.000 Einwohnern. Die Regionen außerhalb dieser Ballungszentren, das Outback, sind häufig menschenleer. Wer eine Tour in Australien plant, muss sich auf die wenigen Städte fokussieren – und dennoch große Strecken zurücklegen. Dagegen wirkt die Geografie europäischer Länder wie ein Traum, ein Tourplan mit Stationen in Bielefeld, Münster, Dortmund und Köln an vier Tagen? So stellt man sich als australischer Musiker das Eldorado vor.

 

Nick Cave sitzt an einem Flügel, hat den rechten Arm oben auf dem Instrument aufgestützt und wendet sich zur Kamera.
Nick Cave ist bis heute einer der international bekanntesten australischen Künstler. (Foto: Martin Philbey/Redferns/via Getty Images)

“Australien besitzt keine eigenständige Kultur unter den weißen Bewohnern, sodass jeder, der sich für Kunst oder Musik interessiert, Australien verlässt.”

Nick Cave

Als COVID-19 zuschlägt und Australien einen Lockdown beschließt, der strenger und länger ist als in den Ländern Europas oder den USA, gibt es zwar Staatshilfen für Einzelunternehmer, jedoch nur, wenn diese ein Jahreseinkommen von mehr als 75.000 Australischen Dollar vorweisen können. Was die allermeisten Musiker für die Hilfe disqualifiziert. In der Story im Independent Australia wird der australische Geiger Daniel Weltlinger zitiert, der seit einigen Jahren in Berlin zuhause ist. Während seine noch in Australien lebenden Kollegen keinerlei Hilfe bekommen, habe er vom deutschen Staat 5.000 Euro als Soforthilfe und ein halbes Jahr später noch einmal 9.000 Euro erhalten. “Ich weiß nicht, was ich in Australien gemacht hätte”, sagt er, “wahrscheinlich wäre ich gestorben.” Und weiter: “Ich weiß nicht, wie jemand als Musiker in Australien überleben kann. Es spielt keine Rolle, wie gut du bist oder wie hart du arbeitest, es wird immer so sein, dass du kämpfen musst – und dass die Leute dich mit ratlosen Augen anschauen, wenn du ihnen sagst, dass du als Musiker arbeitest.”

Kat Frankie kann das nur bestätigen. Die Singer/Songwriterin – geboren 1978 in Sydney – lebt seit 2004 in Berlin. Ihre ersten musikalischen Schritte macht sie in Sydney, sie veröffentlicht eine EP, spielt Gigs, denkt aber nie daran, Profi-Musikerin zu werden. “Das schien mir mit Blick auf die hohen Lebenshaltungskosten in Sydney und die mickrigen Gagen eine abstruse Vorstellung zu sein.” Niemand aus der Underground-Szene von Australien habe den Anspruch gehabt, allein von der Musik zu leben, sie selbst verdient Geld als Innenarchitektin.

Dann versteigt sie sich in die Idee, wegzugehen. Die Wahl fällt auf Berlin. Erst will sie nur kurz bleiben, aber als sich der Konzertkalender fast wie von allein füllt und vom Geld, das sie für die Miete und fürs Essen aufbringen muss, am Monatsende noch etwas übrig ist, bleibt sie. “Berlin verfügt über ein sehr gutes Unterstützerumfeld für Künstler:innen, das Publikum ist offen, auch für seltsame Ideen”, sagt sie. Was würden das gute Wetter und der coole Lebensstil der Menschen von Sydney nützen, wenn das Überleben als Künstlerin kaum möglich ist? “Vielleicht ist das coole Leben das Hauptproblem”, vermutet Kat Frankie. Arbeit – das stehe in Australien für körperliche Anstrengung und sei kulturell weiterhin stark mit einer industriellen Working Class verbunden. Musik und andere Künste docken an den Feierabendteil des Lebens an, hohe künstlerische Ambition ist nicht gewünscht, noch mehr als in Europa oder den USA gilt das, was intellektuell erscheint, als nicht besonders attraktiv. “In Deutschland spiele ich mit meiner Kunst vor tausenden Leuten, trete im Fernsehen auf”, sagt Kat Frankie. “Das wäre in Australien nicht möglich gewesen, weil eine solche Karriere gar nicht vorgesehen ist.”

Diversity-Defizit

Als sich 2013 in Melbourne die Band Pagan gründet, geschieht dies aus einer Gegenreaktion heraus. Die Hardcore-Szene der Stadt floriert, aber recht eindimensional, mit einer Vielzahl von Gruppen, deren Sound und Struktur sich ähnelt. Pagan wollen Änderungen anstoßen, indem sie das, was eine Band darstellt, neu definieren. “Unser Ansatz war es, Hierarchien umzustoßen”, erinnert sich Nikki Brumen, die bis zur Auflösung der Band die Sängerin von Pagan ist. Wer zu einem der Gigs der Band kommt, wird Teil einer bewusst “sektenähnlichen Gemeinschaft”, wie Brumen sagt. Mit dem Vorteil, dass sich diese Community nach dem Ende der letzten Zugabe wieder auflöst; die Idee, in der Gemeinschaft aufzugehen, ist also ein temporäres Vergnügen ohne Langzeitabhängigkeiten.

Dass Pagan mit Nikki Brumen eine Sängerin haben, ist in der Hardcore-Szene von Melbourne eine absolute Ausnahme. “Ich habe schnell gemerkt, dass ich als Vokalistin eine Vorbildfunktion einnehme, und die habe ich angenommen.” Nach den Shows kommen Mädchen und junge Frauen zu ihr, fragen nach Rat, berichten von ihren eigenen Erfahrungen und Problemen, einen Platz in der Szene zu finden. “Es hat mir gefallen, hier Antworten zu geben. Aber es war natürlich auch eine große Verantwortung, in einem so großen Land wie Australien ein Alleinstellungsmerkmal zu besitzen, das in den 2010er Jahren eigentlich keines mehr sein sollte.”

Auch Nikki Brumen hat Australien mittlerweile verlassen. “2020 war ein hartes Jahr. Pagan haben sich aufgelöst, mein Vater starb, meine Mutter war todkrank, eine Beziehung zerbrach.” Australien kann ihr in dieser Situation keinen Halt mehr geben. Und da schlägt das Schicksal zu: Im fernen Bergen in Norwegen sucht die Band Blood Command, ebenfalls Hardcore-Erneuerer, eine neue Sängerin. Eine Nachricht via Facebook reicht, um Nikki Brumen zum großen Schritt zu überzeugen. “Jetzt bin ich halt eine Exil-Australierin, die den Gesang bei einer norwegischen Post-Hardcore-Szeneband aus Bergen übernimmt”, sagt sie. Eine Vorbildfunktion nimmt sie auch damit ein. Wohlwissend, dass viele junge Frauen aus Australien diesen Schritt nicht gehen können. “Aber vielleicht ermutige ich sie ja dennoch dazu, es zu probieren.”

Keine Frage, mehr Diversität würde der australischen Musikszene sehr guttun. Männlich dominierte Sounds aus Down Under gab und gibt es genug. Wobei man sagen muss, dass im Laufe der vergangenen Jahre einige interessante Bands auf sehr eigene Weise auf die Chauvi-Kultur des Landes reagieren. Acts wie Cosmic Psychos, Beasts Of Bourbon oder die Hard-Ons spielen mit dem Klischee der harten Männlichkeit, finden einen Weg zwischen Selbstironie und Klischee-Jonglage. Dass sich Musikerinnen hier einiges abgeschaut haben, zeigt zum Beispiel die Karriere von Amy Taylor, die als Sängerin von Amyl And The Sniffers Aggressivität und Feminität verbindet.

Ein Großmeister in diesem Spiel der gebrochenen Maskulinität ist Nick Cave, geboren 1957 im Kaff Warracknabeal, gut 2.000 Einwohner, gelegen im Nichts von Victoria, auf halber Strecke zwischen Melbourne und Adelaide. Nach Melbourne geht er zum Studieren, spielt bei den Boys Next Door und später The Birthday Party existenzialistischen Post-Punk-Blues, bevor die ganze Truppe 1980 nach London umsiedelt, wo Cave nach zwei Jahren The Birthday Party auflöst und ab 1982 in Berlin die Bad Seeds formiert. Was an Cave bis heute australisch anmutet: sein Leben als “Outlaw”, als eine aus der Zeit und aus der Geografie gefallene Figur. Hier nicht hinzugehören, einen anderen Platz anzustreben, ob im Himmel oder in der Hölle, egal – dieses Gefühl hat er schon in seinen australischen Jahren. “Wir sind mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die Kultur woanders passiert. Australien besitzt keine eigenständige Kultur unter den weißen Bewohnern, sodass jeder, der sich für Kunst oder Musik interessiert, Australien verlässt”, hat er einmal im Interview gesagt.

Eigenes Klima

Wer in Australien lebt, erlebt ein besonderes Klima. Die Hitze im Sommer ist gigantisch, schon vor der Erderwärmung, heute umso mehr. Die Größe und Wucht der Natur ist allgegenwärtig, sobald man die Metropolregionen hinter sich lässt, auch die Kultur der indigenen Völker, die dieses Land viele zehntausend Jahre bevölkerten, bevor im 17. Jahrhundert die Europäer kamen. Die Aborigines prägen mit ihrer Folkmusik, aber auch mit ihrer Sprache die australische Musik. Die Wave-Band Not Drowning, Waving zum Beispiel kombiniert in den 80ern und 90ern ihren Synthie-Pop und Post-Punk mit Einflüssen indigener Musik (und auch mit Beteiligung von Künstlern zum Beispiel aus Papua-Neuguinea).

Dass die jüngste Generation der Nachfahren der Völker der sogenannten First Nations selbstbewusst ihre eigenen Wege geht und dabei ihr Erbe bei sich trägt, zeigt die Erfolgsstory des Rappers The Kid Laroi, der im Outback in einem Kaff namens Broken Hill aufwächst und mit seinem Mixtape “F*ck Love” einen weltweiten Hit landet; mit seinem Namen verweist er auf das Volk der Kamilaroi, zu dem er mütterlicherseits gehört. Sein Ur-Ur-Großvater zählt zur “Stolen Generation”, wie die Generation von Kindern genannt wird, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Familien entrissen wurde, um sie in staatlichen Heimen, Missionen oder bei weißen Adoptiveltern gesellschaftlich “umzuerziehen”.

Diese rassistische und höchst menschenunwürdige Politik wurde in Australien auch von vielen weißen Bands benannt, allen voran von Midnight Oil, dem guten politischen Gewissen der Rockszene von Down Under. Das zweite große Thema der Bestseller war der Umweltschutz, bald auch der Klimawandel. “Zum Thema für Pop und Rock wurden diese Entwicklungen, weil wir in Australien sehr direkt damit zu tun hatten”, sagt Kat Frankie. Sie erinnert sich an die 80er und 90er, als das Ozonloch über dem Südpol in Australien eine echte Bedrohung war – “kein Zukunftsszenario, wie der Klimawandel hier in Berlin, sondern eine akute Gefahr, die dafür sorgte, dass jeder jemanden kannte, der Hautkrebs hatte, und wir Kinder nur wenige Minuten am Tag ungeschützt in die Sonne durften.”

Was sich hier aber auch zeigt: Durch globale Maßnahmen wie den Verzicht auf den Ausstoß von FCKW ist es gelungen, dass sich die Ozonschicht seit einigen Jahren wieder erholt. “Aktivismus bringt etwas”, diese Message haben viele Australier mitgenommen. Dass Kat Frankies neues Album “Shiny Things” mit selbst ernannten Protestsongs gegen den Hyperkapitalismus oder die Umweltzerstörung in diesem Sinne aus einem australischen Geist heraus geboren wurde, will die in Sydney geborene Künstlerin nicht leugnen. “Ich habe Australien vor 18 Jahren verlassen, bin also jetzt als Exilantin volljährig. Aber natürlich ist noch eine australische Haltung in mir, das kann und will ich gar nicht leugnen.”


Dossier: Australien
A Land Down Under

Inhalt

  1. Australien: Essay – Down Anders
  2. Australien: Surf-Rock – Auf einer Wellenlänge
  3. Australien: Melbourne – Die Insel der Glückseligkeit
  4. Australien: Metalcore – Down-Tuned In Down Under
  5. Australien: Big Red Bash – Desert Rock
  6. Australien: Labels – Niemand muss wegziehen
  7. Australien: Garage Rock & Psychedelic Rock – Wir können das auch
  8. Australien: Sydney – Kein Platz für Subkultur?
  9. Australien: Pub-Rock & Punk – Go Hard Or Go Home
  10. Australien: Tex Napalm im Interview – "Die Leute wollen Livemusik"
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