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Sydney im Fokus: Kein Platz für Subkultur?

Australien: Sydney

Kein Platz für Subkultur?
Wer die These vertritt, in den belebten Gassen der größten Metropolen entstünde automatisch die spannendste Musik, dem sei ein Ausflug nach Sydney ans Herz gelegt. Hier sind die Sub-Szenen seit Jahren aus verschiedenen Gründen schwer angeschlagen. Gespräche mit Midnight-Oil-Sänger Peter Garrett, Gang-Of-Youths-Frontmann Dave Le’aupepe und Dead-Daisies-Gründer David Lowy beleuchten die Hintergründe, zeigen aber auch die Vielfalt der lokalen Musikwelt und blicken vorsichtig optimistisch in die Zukunft.
Eine Stadtansicht von Sydney mit Hafen, Opera House und Skyline.
Die Skyline und das berühmte Opera House von Sydney. (Foto: James D. Morgan/Getty Images News/via Getty Images)

London hat die Tower Bridge, Paris den Eiffelturm und wer Sydney, ach was, ganz Australien symbolisch abbilden soll, greift – na, klar – zum Sydney Opera House. Dass sich Sydney wie New York zumindest im gesellschaftlichen Gedächtnis zu einer zweiten Hauptstadt entwickelt hat, beruht auf vielen Entwicklungen. Worauf sich jedoch alle Musiker einigen können, die für diesen Report Rede und Antwort gestanden haben, ist die Beschreibung des Flairs der Metropole. David Lowy, seines Zeichens Rhythmusgitarrist und Gründer des Rock-Kollektivs The Dead Daisies und zudem Sydney-Urgestein, liefert eine Reiseführer-würdige Zusammenfassung: “Sydney ist eine kosmopolitische Stadt, die gleichermaßen von städtischer und natürlicher Schönheit geprägt ist, mit dem atemberaubenden Hafen und Stränden vor unseren Füßen.” Das liest sich schon auf dem Papier so schön, dass genügend Menschen die weite Anreise auf sich nehmen: Mit knapp 4,4 Millionen Tourist:innen im Jahr 2019 ist die Stadt auch trotz ihrer eher dezentralen Lage auf der Welt ein ziemlich beliebtes Fleckchen Erde.

Tief im Westen

Doch wie das immer so ist mit den Tourismus-Hochburgen: Zwischen Souvenir-Shops und Hop-on-hop-off-Bussen ist für Subkultur nur wenig Raum. Dabei ertappt sich auch Peter Garrett selbst, der lange als Politiker tätig war, vor allem aber bekannt wurde als Sänger von Midnight Oil: “Sydney wird oft auf seine großen Gebäude wie die Harbour Bridge oder das Opernhaus reduziert, und natürlich den Strand und die Berge. Diese Dinge sind wie Kerzen, und wir sind alle die Motten, die blind darauf zusteuern. Ich finde, man müsste sich mehr davon losreißen, um sich bewusst der Musik zuzuwenden. Sydney ist im Moment leider mehr mit Immobilien beschäftigt als mit seiner Kultur.”

Peter Garrett singt energisch und mit geschlossenen Augen in ein Mikrofon.
Ein Urgestein der Sydney-Szene: Peter Garrett live mit seiner Band Midnight Oil. (Foto: Awats Butt)

“Sydney ist im Moment leider mehr mit Immobilien beschäftigt als mit seiner Kultur.”

Peter Garrett, Midnight Oil

Einen anderen Aspekt dieser Beobachtung führt Dave Le’aupepe auf, Sänger der Indie-Band Gang Of Youths: “Diese Stadt sieht so wunderschön aus, dass man gar nicht erst vermuten würde, dass es überhaupt einen kulturellen Untergrund gibt. Aber Sydney hat immer noch ein Problem mit Armut und Ungleichheit. Ich bin selbst in diesen Umständen aufgewachsen und weiß genau, dass dort eine Brutstätte für wütende Musik ist.” Wer gerade nicht große Shows in Traditionshallen wie dem Roundhouse oder dem Hordern Pavilion besuchen möchte, sondern auf der Suche nach den kleineren Clubs ist, der hat deswegen eine ganz andere Anlaufstelle als die Rucksack- und Koffer-Tourist:innen: den inneren Westen der Stadt, weg von der Küste. Dort öffnen Venues wie das Enmore Theatre, die LazyBones Lounge oder die Crowbar ihre Pforten für nationale Acts wie Chase Atlantic oder The Hard Acts, aber auch für internationale Bands und Künstler:innen.

Und doch, für eine Metropole mit knapp 3,5 Millionen Einwohner:innen, fällt die Liste an Konzertlocations eher spärlich aus. Oder klaffen zwischen dem Recherche-Eindruck und dem tatsächlichen Erlebnis ein paar Känguru-Sprünge? Zumindest David Lowy spart nicht mit lobenden Worten: “Sydneys Musikszene ist in allen Genres großartig!” Dave Le’aupepe dagegen zieht weniger euphorische Schlüsse: “Sydney ist die schönste Stadt Australiens. Sie hat ihre Kunst-Szene, ihre Strände, ein tolles Klima. Aber wenn du auf der Suche nach etwas Kulturellem bist, dann gehst du nach Melbourne.” Ein Fazit, dem sich viele regionale Fanzines und Musikmagazine anschließen: Sydney hat die Wahrzeichen, Melbourne die Musikszene. Woran das liegt? Auch wenn das Thema sehr komplex ist, könnte das vor allem mit den stetig schwindenden Konzerthallen zusammenhängen, vermutet Peter Garrett: “Natürlich verändert sich die Welt immer. Aber wenn du eine musikalische Bewegung antreiben willst, dann sind die Menschen immer das Herzstück von ihr. Und dafür gibt es jetzt einfach nicht mehr so viele Möglichkeiten in Sydney. Das ist wirklich eine Schande.”

Eine Außenansicht des Clubs Crowbar bei Nacht.
Einer der Anlaufpunkte der einheimischen Musikszene: der Club Crowbar. (Foto: Samantha Quintal)

Hürden für Konzerte

Allein im Februar 2022 verkünden vier Venues in Sydney, dass sie keine Konzerte mehr veranstalten werden. Damit stehen sie traurigerweise in einer langen Reihe von Locations, die diesen Schritt in den vergangenen Jahren gegangen sind. Wer die Hintergründe dieser Entwicklung verstehen möchte, muss nicht nur auf die Folgen der Pandemie schauen, sondern vor allem die Lockout Laws kennen, die in Sydney und ganz New South Wales vom Februar 2014 bis zum Januar 2020 galten und gesetzlich ein Verbot des Alkoholausschanks ab einer gewissen Uhrzeit in vielen Stadtvierteln festlegten. Dadurch sank die Zahl der Fußgänger:innen in lebhaften Vierteln wie dem Kings Cross signifikant, wie der Guardian 2016 berichtete. Kleinere Clubs stellte der Publikumsschwund nach und nach auf die Probe.

Und selbst ohne die Pandemie hat noch eine ganz andere Entwicklung vielen den Todesstoß versetzt, wie Peter Garrett feststellt: “Natürlich gibt es gute Gründe für Sicherheitsregulierungen. Aber es ist jetzt für viele einfach zu kompliziert und zu teuer, Konzerte zu veranstalten. Mittlerweile haben sich zudem Pokermaschinen und Wettbüros ausgebreitet und viele Hotels brauchen keine Bands mehr, denn die Leute kommen dann zum Zocken. Zudem gibt es heute natürlich ganz andere Entertainment-Möglichkeiten wie Gaming oder reine Tanzclubs.” Viele Entwicklungen, die da zusammenkommen – und mittlerweile sogar die sonst so beliebten Outdoor-Shows erschweren. Diese seien laut Dave Le’aupepe nämlich aufgrund von Lärmschutz auch immer schwieriger zu organisieren.

Doch sollte man sich mit diesen Umständen abfinden? Weiter zur nächsten Stadt fahren und sich dort eine Szene aufbauen? Nein, da sind sich die Musiker wiederum einig. Und dafür spricht laut Peter Garrett schon die Geschichte der Stadt: “Melbourne mag zwar das musikalische Herz Australiens sein, aber Sydney hat die größeren Bands hervorgebracht.” Um diese These zu untermauern und auch gleich eine kleine Historie zu liefern, erzählt Garrett von den eigenen Anfangstagen in den 70er Jahren, als die Innenstadt immer stärker vom Londoner Punk beeinflusst wurde. Damit hatten Midnight Oil wenig zu tun, doch sie fanden eine andere Welt mit ein paar namhaften Bekannten. “Mit Midnight Oil sind wir direkt in die Vororte gegangen und haben mit anderen Bands eine Metaszene eröffnet, die aus jungen Menschen aus der Arbeiterklasse bestand. Da gab es weder Fanzines noch Kunstausstellungen, sondern einfach echte Konzerte. Das wurde am Ende zum stärksten Generator für australische Musik überhaupt. Alle Bands, die Leute heute noch kennen, wie AC/DC, Rose Tattoo, Midnight Oil, INXS oder auch Men At Work, haben in dieser Szene stattgefunden. Und vor uns sogar noch die Bee Gees. Aus der Punk- und New-Wave-Szene konnten hingegen die wenigsten einen Fuß in den Vororten fassen. Einer der wenigen Überlebenden dieser Szene ist Nick Cave.” Damals, so Garrett, brauchten die Radiomoderator:innen teilweise eine Stunde, um alle Konzerte der Stadt für das kommende Wochenende vorzulesen. Außerhalb der großen Venues der zentralen Stadtbezirke fanden viele Shows in Hotels und Surf Clubs aus der Nachkriegszeit statt, wo auch Midnight Oil, ganz DIY, ihre erste Show vor 100 Leuten spielten. “Und von denen waren 50 absolut gelangweilte Golfspieler.”

Im Wandel

Dave Le’aupepe gründete Gang Of Youths 2011 und damit ganze 35 Jahre später als Garrett Midnight Oil. Doch auch er hebt die vielen Stadtbezirke der Stadt hervor, die für den Untergrund so eine große Bedeutung haben. Teil einer Szene ist seine Band jedoch nie. Den ersten Gig spielt der Australier im Annandale Hotel, eine seiner liebsten Venues und der Ort, an dem ihm das erste Mal bewusst geworden sei, dass man mit Musikmachen auch Geld verdienen kann. Beim Sprechen über diese Location wird Le’aupepe wehmütig: “Life Without Buildings haben dort ein Livealbum aufgenommen, aber da sind auch Sick Of It All und Sonic Youth aufgetreten. Doch jetzt ist es nur noch eine verdamme Yuppie-Bar. Ich hasse es.” Hier führt die Gentrifizierung zum Ende der Alternative-Szene, andernorts werden andere Genres lauter. So beobachtet Le’aupepe, dass die Arbeiterklasse der westlichen Innenstadt jetzt mehr und mehr scharfkantigen Rap produziert, während sich die nördlichen Strände von der einer Hardcore-Szene zum Electro-Areal wandeln.

Gang Of Youths posieren Arm in Arm zu fünft vor einem grauen Hintergrund.
Band-Nachwuchs aus Sydney: Gang Of Youths. (Foto: Ed Cooke)

So ganz verloren ist die Musikszene der Stadt also nicht. Ihr Diskurs hat sich nur deutlich verschoben. War Sydney gerade in den 00er Jahren für Rock von The Vines und Wolfmother bekannt, übernimmt nun EDM die Bühnen der Küste. Insbesondere dem ethnisch diversen Bevölkerungsschnitt rechnet Le’aupepe ein hohes Innovationspotential zu, aus dem gerade in den kleinen Vierteln viele neue Sounds entstehen. Ein wichtiger Faktor der Stadt, den Garrett schon zu Beginn seiner Karriere vor knapp 48 Jahren beobachtet hat: “Die Musikszene von Sydney war schon immer sehr inklusiv, gerade was indigene und First-Nation-Künstler:innen betrifft. Heutzutage kennt man in Deutschland vielleicht Baker Boy. Tatsächlich war die Musikindustrie eine der ersten Branchen, die die Türen für indigene Künstler:innen geöffnet hat. Was natürlich nicht heißt, dass es jemals einfach für sie war. Man muss allein bedenken, dass [unser Song] “Beds Are Burning” in Australien nicht direkt erfolgreich war, denn damals gab es noch viel mehr unterschwelligen Rassismus. Aber natürlich ist es auch wichtig, den indigenen Personen selbst die Bühne bieten, sich künstlerisch auszudrücken.” Schon damals gehörte die indigene Warumpi Band zum engen Umfeld der politisch engagierten Midnight Oil. Mal wieder fasst es David Lowy kurz und knackig zusammen: “Sydney hat diesen Mix von verschiedenen Kulturen und Menschen mit verschiedenen Geschmäckern, der die Szene gedeihen lässt.”

Lebendiger Untergrund

Das gilt auch, zumindest im echten DIY-Verständnis, für die Punkszene. Ganz konkret zeigen das die Punx Picnics, einer der lebhaftesten Beweise, dass es da doch noch einen Untergrund in Sydney gibt, der lieber zur Gitarre statt zum Sampler greift. Dafür stand uns Szene-Insider Jay zur Verfügung, der mit seinem Label Innercity Uprising (früher Snapshot Records) seit 1996 lokale Punk-Bands veröffentlicht. Mit seiner eigenen Band The Blurters tritt er regelmäßig bei den Punx Picnics auf, war als Gast sogar schon 1989 dabei. Zu der Veranstaltungsreihe erzählt er voller Begeisterung: “Die Punx Picnics bedeuten vielen Leuten in Sydney jede Menge. Sie haben in der Mitte der 80er angefangen – damals sogar noch ohne Bands. In den ganzen Jahren haben schon viele verschiedene Leute die Organisation übernommen, immer mit ganz viel Herzblut. Das Schöne an den Picnics ist, dass sie draußen im Park stattfinden und für alle Altersgruppen geöffnet haben. Es ist wirklich schön, junge Punks aus den Vorstädten kommen zu sehen. Für viele ist es das erste Mal, dass sie eine Punk-Band live erleben.”

Auch Jay berichtet davon, dass dem Untergrund gerade nach den Lockout Laws und Corona immer weniger konventionelle Spielorte übrigbleiben. So greifen die Punks auf ihre Picnics zurück, spielen aber auch auf Fahrbahnen zwischen Fabriken oder unter Brücken. Die Szene sei dabei musikalisch sehr divers und reiche von Street Punk über Grindcore bis zu hartem Noise. Als Protagonisten der Szene listet er echte Sydney-Urgesteine der Hardcore-Szene auf, etwa Tutti Parze, Deviant Kickback, Subliminal Pressure und Toe To Toe. Zu guter Letzt gibt er noch einen kleinen aktuellen Geheimtipp: “Gerade haben wir die junge Band Speed, die Sydney wieder auf die internationalen Karten bringt. Die Jungs reißen alles ab und unterstreichen den multikulturellen Hintergrund von Sydney. Es ist wirklich erfrischend, diese neue Generation mitzuerleben.”

Genau das ist es, was sich Peter Garrett von der jungen Musikszene wünscht: “Wenn Leute den Appetit haben, mit ihrer DIY-Mentalität einfach selbst Poster aufzuhängen und zu spielen, werden sie immer irgendwo Plätze finden, wo sie auftreten können.” Dave Le’aupepe hingegen sieht Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten stärker bei der Politik als den Musiker:innen: “Wenn die Leute, die für den Staat arbeiten, irgendwann entscheiden, dass Kunst wichtig ist, dann wird sich alles ändern.” Sein größter Wunsch wäre künstlerische Teilhabe für alle: “Ich hoffe, dass Leute, die zu staatlichen Schulen gehen, auch Möglichkeiten bekommen, Musik zu machen. Momentan dreht sich noch viel um die Mittelschicht und die Upper Classes.” Und dann hat der Underground von Sydney vielleicht irgendwann die gleiche Bedeutung für Musikfans wie das Opernhaus für Tourist:innen.


Dossier: Australien
A Land Down Under

Inhalt

  1. Australien: Essay – Down Anders
  2. Australien: Surf-Rock – Auf einer Wellenlänge
  3. Australien: Melbourne – Die Insel der Glückseligkeit
  4. Australien: Metalcore – Down-Tuned In Down Under
  5. Australien: Big Red Bash – Desert Rock
  6. Australien: Labels – Niemand muss wegziehen
  7. Australien: Garage Rock & Psychedelic Rock – Wir können das auch
  8. Australien: Sydney – Kein Platz für Subkultur?
  9. Australien: Pub-Rock & Punk – Go Hard Or Go Home
  10. Australien: Tex Napalm im Interview – "Die Leute wollen Livemusik"
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