Rock am Ring, 2005. Deutschlands größtes Rockfestival feiert sein 20. Jubiläum. Neben den Headlinern R.E.M., Green Day und Iron Maiden stehen auch Wir sind Helden ganz oben auf dem Programm. Dabei kaum zu übersehen: Der Zusatz “Limp Bizkit haben abgesagt!” – ein Schlag in die Magengrube für die Band um Judith Holofernes. Den Headlinerslot füllt sie dennoch und bleibt damit bis heute der einzige Rock-am-Ring-Headliner mit einer Frau an der Bandspitze.
Woran liegt das? Unter Booker:innen heißt es, dass “Frauen keine Tickets verkaufen.” Eine fragwürdige Aussage, schließlich wurden seit Jahrzehnten keine bis wenige weiblich gelesenen Personen überhaupt in die oberen Festivalslots gebucht. Die Folge: Es mangelt nicht unbedingt an weiblich gelesenen Personen im Business, sondern an Förderung und Sichtbarmachung der Talente. Das schlägt sich auch in der misogynen Einstellung der Gesellschaft nieder. Laut einer Studie der Initiative Keychange werden weiblich gelesenen Personen allgemein weniger bühnentaugliche Rock’n’Roll-Eigenschaften zugeschrieben als Männern. Zudem sind viele Strukturen in der Musikindustrie männlich geprägt, Führungspositionen bei Veranstaltungs- und Produzenten-Firmen, Labels und Management liegen seit Jahrzehnten in Männerhand.
Geschlechtergleichheit in der Musikindustrie ist eine Thematik, die erst in den vergangenen zehn Jahren in den Fokus der Diskussionen geraten ist und mittlerweile immer größere Wellen schlägt. Denn je weniger weiblich gelesenen Personen Repräsentation auf deutschen Festivalbühnen geboten wird, desto weniger weiblich gelesene Personen bekommen auch die Möglichkeit ihre Fanbase zu vergrößern. Schließlich haben auch die größten Karrieren der männlich gelesenen Superstars mal auf Festivals um 15 Uhr vor 30 Leuten angefangen.
Die Keychange-Idee
Ende 2017 tritt mit Keychange erstmals eine globale Initiative für Geschlechtergerechtigkeit ins Blickfeld der Industrie, die bis 2022 eine geschlechtergerechte 50:50-Verteilung bei Festivals, in Konferenzpanels, bei Orchestern und Komponist:innen fordert. Keychange bringt den Stein ins Rollen: Bereits zum Start des Projekts schließen sich über 50 Festivals der Bewegung an – mittlerweile sind es über 500 Festivals und Musikfirmen aus zwölf Ländern. Neben zahlreichen europäischen Festivals haben sich auch Veranstaltungen aus São Paulo oder Hongkong angeschlossen.
Während die Initiative positive Vorreiter schon kurz nach ihrem Start vor allem im hohen Norden – etwa beim Iceland Airwaves Festival oder beim schwedischen Way Out West Festival – vermelden kann, gilt in Deutschland das Reeperbahnfestival als Wegweiser. Bereits 2019 hatte das Hamburger Branchen-Festival eine FLINTA*-Quote von 44 Prozent, seit 2020 hält es die von Keychange geforderte 50:50-Quote aufrecht. Auch das Maifeld Derby und das Haldern Pop Festival halten an der Erfüllung der Quote fest.
Doch obwohl Keychange Jahr für Jahr mehr Anhänger:innen gewinnen können, müssen die Verantwortlichen 2022 feststellen, dass die geforderten Ziele von den meisten Festivals nicht erreicht wurden. Um langfristig eine Erfüllung der Quote verbuchen zu können, planen sie um, starten ein Förderprogramm für Künstler:innen, Produzent:innen und Branchenaktivist:innen und bieten den Festivalverantwortlichen Hilfestellungen an. Unter anderem geben sie Zugriff auf ihren großen Pool an weiblich gelesenen Künstler:innen, der Entscheidungen beim Booking vereinfachen soll.
Eine positive Veränderung lässt sich in den vergangenen fünf Jahren dennoch vermerken. Die Fusion etwa kann 2023 auf der Bühne eine FLINTA*-Quote von 49 Prozent vorweisen, das MS Dockville immerhin 47 Prozent. Die großen FKP-Scorpio-Festivals Hurricane, Southside und Deichbrand bleiben zwar unter 35 Prozent, bieten jedoch erstmals eigene Initiativen an. Die Schwesterfestivals Hurricane und Southside stellen den “Gamechanger”-Wettbewerb vor, der je einem FLINTA*-Act einen Slot auf der großen Festivalbühne geboten hat. Das Deichbrand stellte die “New Port”-Bühne vor, die ausschließlich von Newcomer:innen bespielt wurde, mit einer FLINTA*-Quote von 70 Prozent.
![Vanessa Cutraro, Foto: Greta Baumann](https://www.visions.de/wp-content/uploads/aIMG_7985-scaled.jpg)
»Ein Quoten-Zwang ist nicht schön, aber vielleicht bemerken die Leute so endlich, wie viele coole FLINTA*-Acts es gibt, die echt gute Musik machen.«
Vanessa Cutraro, Buback
Auch bei Deutschlands größtem Rockfestival sieht die Gegenwart rosiger aus als noch 2005: Knapp 30 Prozent der Bands bei Rock am Ring im Juni haben mindestens eine weiblich gelesene Person mit auf der Bühne stehen. Mit Evanescence ist eine Band mit weiblicher Spitze außerdem immerhin in die zweite Headliner-Reihe gerutscht. Darüber hinaus betonen die Rock-am-Ring-Veranstalter Dreamhaus in einer Pressemeldung, dass sie beim Booking aktiv vermehrt auf Diversität achten. Und auch in den eigenen Führungsetagen würden vermehrt weiblich gelesene Personen eingesetzt.
Mit Zwang zum Umdenken?
Ist eine erzungene Quote also das Mittel, das uns zum Ziel bringen wird? Vanessa Cutraro, Geschäftsführerin des Hamburger Independent-Labels Buback, spricht sich dafür aus: “Ein Quoten-Zwang ist nicht schön, aber vielleicht bemerken die Leute so endlich, wie viele coole FLINTA*-Acts es gibt, die echt gute Musik machen.”
Cutraro ist seit 2012 in der Veranstaltungsbranche und Tourmanagerin tätig und seit März 2022 in der Geschäftsführung von Buback Konzerte und Tonträger angestellt. Sie setzt sich seit einigen Jahren für die Geschlechtergerechtigkeit in der Festivallandschaft ein und hat etwa 2018 das Further-Festival im Uebel & Gefährlich in Hamburg ins Leben gerufen. Auf der Bühne des Festivals haben in den vergangenen drei Ausgaben ausschließlich FLINTA*-Acts gestanden, 2022 unter anderem Rapperin Nura. In diesem Jahr organisiert Cutraro außerdem erstmalig das *Schanze Open Air. Beide Festivals sollen einen Anreiz schaffen. “Wir wollen zeigen, dass es möglich ist, ein reines FLINTA*-Festival auf die Beine zu stellen und damit noch genügend Tickets zu verkaufen”, sagt Cutraro. Dabei liegt der Fokus der Festivals nicht darauf, männlich gelesene Personen von den Bühnen zu vertreiben, sondern weiblich gelesenen Künstler*innen exklusiv eine Möglichkeit zu bieten, sich miteinander zu vernetzen und ein inklusives Festival zu gestalten, bei dem sich alle Anwesenden wohlfühlen. Die Zuschauerschaft besteht laut Cutraro vor allem aus der Generation Z, also aus Menschen, die zwischen 1996 und 2010 geboren wurden.
Genau diese Altersklasse ist es, die laut einer Studie der MaLisa-Stiftung von 2021 auf eine Diversität in Festival-Line-ups achtet. Etwa ein Drittel der Befragten gibt an, dass Geschlechtergerechtigkeit die Kaufentscheidung für oder gegen ein Ticket beeinflusst. Die MaLisa-Stiftung wird 2016 von der Schauspielerin Maria Furtwängler und ihrer Tochter Elisabeth gegründet und setzt sich in Deutschland für die Stärkung von FLINTA* ein. In ihren zahlreichen Studien hat sie unter anderem feststellen können, dass nahezu jede der befragten weiblich gelesenen Personen aus der Musikbranche bereits negative und diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf ihr Geschlecht gemacht hat. Die Hoffnung von MaLisa liegt darin, dass eine aktive Förderung von FLINTA*-Netzwerken langfristige Änderungen mit sich bringt. Denn die schlechte FLINTA*-Quote findet sich nicht nur auf den Bühnen dieser Welt statt, sondern auch dahinter.
Hier will Music Women* Germany für Veränderung sorgen. Die Idee, eine bundesweite Datenbank mit allen weiblich gelesenen Personen in der deutschen Musikbranche zu erstellen, kommt bereits 2017 auf. 2019 folgt der Launch im Rahmen des Reeperbahnfestivals. Schon damals schließen sich über 400 FLINTA*s an, aus allen musikrelevanten Sparten und Genres. Ob weiblich gelesene Soundtechniker:innen, Dirigent:innen, Mercher:innen, Vorstandsmitglieder oder DJs – das Netzwerk vermittelt Kontakte und bietet ein eigenes Job-Portal an.
»Die Ladys sollen ihre Performance verbessern«
Seit 2022 verleiht Music Women* Germany außerdem gemeinsam mit Sony Music Germany den Female* Producer Prize. Denn auch ein Blick auf die Quoten der großen Musikpreise zeigt auf, dass es Verbesserungsbedarf gibt. Eine gemeinsame Studie der MaLisa-Stiftung, Music Women* Germany und der Musik-Verwertungsgesellschaft Gema wertet etwa die deutschen Top-100-Singlecharts von 2010 bis 2019 aus. Das Ergebnis: 85 Prozent der Songs haben rein männlich gelesene Personen komponiert, Songs von ausschließlich FLINTA*s bleiben unter der Ein-Prozent-Marke. Die Studie nimmt zudem die fünf größten deutschen Musikpreise unter die Lupe und stellt fest, dass von 2016 bis 2019 nur 14 Prozent der Nominierten FLINTA*s waren.
Diese Quote schlägt sich nicht nur in Deutschland nieder. Auch der weltweit größte Musikpreis, die Grammys, kommt nicht viel besser weg, von 1.220 Nominierungen zwischen 2013 und 2020 sind gerade einmal 143 an weiblich gelesene Personen gegangen – also nur 11,7 Prozent. Diese Quote lässt sich in ähnlicher Bandbreite auch in den einzelnen Kategorien reproduzieren. Nur etwa 2,6 Prozent der Auszeichnungen haben weiblich gelesene Produzent:innen erhalten, 7,6 Prozent der Preise für das “Album des Jahres”. Auffällig: Während im Pop-Bereich immerhin noch 18,5 Prozent der ausgezeichneten Songwriter:innen weiblich gelesen sind, sind es im Alternative-Bereich nur noch 9,8 Prozent.
![Deborah Dugan](https://www.visions.de/wp-content/uploads/03-GettyImages-1188919607-scaled.jpg)
2018 tut der nun ehemalige Grammy-Chef Neil Portrow die schlechte Quote ab mit dem Kommentar “Die Ladys sollen ihre Performance verbessern.” Er betont anschließend, dass er persönlich die von den Frauen genannten Mauern innerhalb der Branche nicht kennen würde. Wenige Monate nach diesen Aussagen folgt seine Entlassung. Auf ihn folgt mit Deborah Dugan die erste Frau an der Spitze der Grammys. Dugan legt ihr Amt allerdings schon fünf Monate später wieder nieder und reicht eine knapp 40-seitige Beschwerde über Machtmissbrauch, Sexismus, Rassismus und sexuelle Belästigungen innerhalb der obersten Reihen des Grammy-Komitees ein – ohne Erfolg.
Auch die Rock And Roll Hall Of Fame kämpft dieser Tage um ihr gutes Image. Ende vergangenen Jahres sagt Alanis Morissette ihre Teilnahme an der Zeremonie aufgrund des vermeintlich “sexistischen Umfelds” ab, Pretenders-Chefin Chrissie Hynde ergänzt: “[Die Rock And Roll Hall Of Fame] hat absolut nichts mit Rock’n’Roll zu tun.” Gerade einmal 8 Prozent der aufgenommenen Künstler:innen sind weiblich gelesene Personen.
Statt an alten Mustern festzuhalten, setzen dagegen etwa die MTV Video Music Awards (VMAs) ein positives Beispiel und verleihen ihre Preise seit 2017 ausschließlich in genderneutralen Kategorien, in diesem Jahr haben sie sogar erstmalig mehr weiblich gelesene Personen als männlich gelesene nominiert. Auch in Deutschland soll mit den VUT-Indie-Awards Besserung eintreten. Der Preis wird im Rahmen des Reeperbahnfestivals in diesem Jahr zum elften Mal vom Verband unabhängiger Musikunternehmer:innen verliehen. Die Preise gibt es für Qualität, Originalität und Neuartigkeit – völlig unabhängig vom kommerziellen Erfolg.
Was tun?
Bleibt bei allen Gesprächen von schlechten oder erzwungenen Quoten also die Frage, was noch geschehen muss. Vanessa Cutraro sieht die Verantwortung auch direkt beim männlichen Geschlecht: “Reine Männerbands sollten nicht einfach den besten Kumpel mitnehmen, sondern FLINTA*s. Etwa als Mercherin, Tourmanagerin, Produktionsleiterin oder Tontechnikerin.” Denn häufig entscheiden persönliche Beziehungen und Kontakte darüber, wer einen Platz in eine Tour-Crew bekommt statt des eigentlichen Könnens.
Hier beginnt ein ähnlicher Teufelskreis wie schon auf der Bühne, denn ohne Aufträge, bekommt man keine Erfahrung und kann nicht wachsen. Auch mit Entscheidungen über das eigene Vorprogramm auf Tour können Bands ein Zeichen setzen: “Nehmt Newcomer:innen mit und gebt ihnen einen Push in Sachen Visibilität”, so Cutraro. Kraftklub etwa sind bei ihrer “Kargo”-Tour im vergangenen Herbst mit gutem Beispiel voran gegangen und haben ausschließlich FLINTA*-Bands als Support mitgenommen. Ein großes Zeichen setzt auch Max Gruber alias Drangsal: Er übergibt die Hälfte seines Slots bei Rock am Ring 2022 Indiepop-Sängerin Mia Morgan – das Festival hat in diesem Jahr mit einer FLINTA*-Quote von 5,6 Prozent einen neuen Tiefpunkt erreicht.
Kurz gesagt: Man(n) sollte sich seiner Privilegien bewusst sein, die angesprochenen Probleme der FLINTA*s ernst nehmen und kann häufig schon im kleinen Rahmen ein Zeichen setzen.
Dossier: Women To The Front
Weiblich gelesen
Inhalt
- The Breeders: 30 Jahre "Last Splash" – Cheerleader aus der Hölle
- Essay: Das sogenannte Frauenspecial – Finger in die Wunde
- Im Porträt: Johanna Bauhus – Optimismus als Katalysator
- Essay: Das Pseudo-Genre – Female fronted is over
- Interview: Miki Berenyi – Die Nettigkeitsfalle
- Im Porträt: Linda Dağ – »Technik-Talk langweilt mich«
- Geschlechtergleichheit bei Musikevents – Es regnet Männer
- Im Porträt: Marga Glanz – »Wir spalten uns auf«
- Interview: Bush Tetras – Nicht beirren lassen