Beinahe wirkt Joanna Newsom auf ihrem Cover von “Ys” (2006) wie eine Elfe: Ihre Ohren lugen leicht zwischen dem geflochtenen blonden Haar hervor. Ihre Haut ist hell, beinahe weiß, und sie trägt eine imposante Blumenkrone. Das Gesamtbild erinnert an ein altmeisterliches Porträt. Die Künstlerinnen und Künstler der damaligen Zeit waren in der Lage, durch besondere malerische Kniffe Hinweise auf die Dargestellten zu geben und mit einem Bild eine ganze Geschichte zu erzählen. Anhand bestimmter Gegenstände, sogenannter Attribute, ließen sich Personen eindeutig identifizieren. Bei Newsom, einer ausgebildeten Harfenistin, würde man beispielsweise dieses charakteristische Instrument erwarten. Stattdessen hält sie eine Sichel in der Hand, ein jahrhundertealtes Erntegerät, das von Bäuerinnen oder Druidinnen benutzt wurde. Die zahlreichen Blumen und Ähren im Bild passen zu diesem Grundthema.
![joanna newsom ys](https://www.visions.de/wp-content/uploads/joanna-newsom-ys-1.jpg)
Auf dem Fensterbrett neben Newsom sitzt eine schwarze Amsel. Sie trägt eine Kirsche im Schnabel und verkörpert hier wohl den Überbringer einer Nachricht. Das reife Obst könnte ein Symbol für Fruchtbarkeit darstellen. Aber warum all diese Ernte-Metaphern? Vielleicht liegt die Antwort in der Ferne: Hinter dem offenen Fenster erstreckt sich eine weite Landschaft mit Hügeln und Wäldern. Bereits vor fünfhundert Jahren drückte man so ein Gefühl von Sehnsucht aus. Oft steht ein solches Panorama auch für die Möglichkeit, zu reisen. Vielleicht wollte Newsom mit ihrem Cover auf sehr ästhetische Art darauf hinweisen, dass die Zeit für eine neue Tour „reif“ ist?
Ein weiteres Rätsel wirft das kleine, goldgerahmte Bild einer Motte in der rechten Hand der Künstlerin auf. Es steht symbolisch für etwas Vergangenes oder Erinnerungswertes. Der keltische Glaube besagt, dass Verstorbene in Gestalt einer Motte zurückkehren. Und auch der Album-Titel beruft sich auf die Mythologie: „Ys“ ist der Name einer angeblichen bretonischen Insel, die der Sage nach vor vielen Jahrhunderten im Meer versunken ist. Noch heute, so erzählt man sich, erscheint die Prinzessin von Ys überraschten Seeleuten und kämmt ihr langes, blondes Haar. Ob Newsom darauf anspielt oder nicht: Das Cover ist gleichzeitig eine Hommage an das Vergangene und ein Blick in die Zukunft. Die Künstlerin schlüpft in die Rolle einer sagenumwobenen Figur, die musikalisch Legende und Wirklichkeit, Geschichte und Gegenwart vereint.