“Ich komme noch aus Zeiten, als Geschlecht und Herkunft in der Musik scheißegal war, was früher einfach schrill, cool oder anders war, braucht heute ein Label und einen Antidiskriminierungsbeauftragten.”
So lautete die Reaktion einer Leser:in auf eine meiner kürzlich veröffentlichten Kolumnen. Dass nicht nur über Musik als solches gesprochen wird, sondern darüber hinaus Kategorien wie z.B. Musik von FLINTA und Nicht-FLINTA aufgemacht würden, sei das Ergebnis unseren “woken” Zeitgeistes und Identitätspolitik und sorge eher für noch mehr Spaltung statt Einigkeit, so der Kommentar in eigenen Worten zusammengefasst. Zugegebenermaßen: ich fühle mich über die Erregung geehrt, denn scheinbar treffe ich einen wunden Punkt. Ein perfekter Anlass, um gleich noch einmal ins Wespennest zu stechen …
Wikipedia sagt: “Identitätspolitik bezeichnet eine Zuschreibung für politisches Handeln, bei der Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen im Mittelpunkt stehen.” Schon oft habe ich diesen Begriff in Genderdebatten fallen hören. Das Argument, dass das besondere Betonen von Unterschieden zwischen gesellschaftlichen Gruppen die Kluft zwischen jenen noch verstärkt, klingt im ersten Augenblick sogar nachvollziehbar. Vor allem, wenn man von einem idealen Menschenbild ausgeht, in dem Geschlecht, Hautfarbe und sonstige Distinktionsmerkmale keine Rolle spielen und man lediglich den “Menschen” sehen möchte.
Auch die Musikwelt bleibt von diesen Debatten nicht verschont, gerade dieser Tage, in denen wir beispielsweise die Erfahrungen von Frauen im Musikbusiness thematisieren oder über eine FLINTA-Quote auf Festivals streiten. Schnell ist man auf den “Mir-ist-es-egal-welches-Geschlecht-Hauptsache-die-Musik-ist-geil”-Zug aufgesprungen und schlussfolgert, dass wir nur noch aufhören müssten über Unterschiede zu reden, damit sich diese gar nicht erst zum realen Problem hochschrauben und wir am Ende etwas heraufbeschwören, das in Wahrheit gar nicht existiert.
Leider muss ich diesbezüglich eine – zugegebenermaßen – enttäuschende Wahrheit verkünden: The struggle is real – und nur weil wir denken, es gäbe kein Problem, heißt das nicht, dass wir damit recht haben.
Wenn wir wollen, dass mehr FLINTA auf Festivals oder in den Charts vertreten sind, müssen wir erfahren, warum sie es bisher nicht sind. Und das geht nicht, ohne mühselig auseinanderzuklamüsern, wie die Lebensrealität vieler FLINTA-Musizierender überhaupt aussieht, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Dass alle die gleichen Startvoraussetzungen hätten, unabhängig von z.B. Geschlecht oder Hautfarbe, ist ein Märchen so alt wie Methusalem und hält zudem keiner wissenschaftlichen Prüfung stand, auch, wenn wir uns es noch so sehr wünschen.
Selbst wenn wir gute Absichten haben und fest davon überzeugt sind, dass wir nur den Menschen sehen und alle anderen Merkmale keine Rolle spielen, dann ist das eine riskante Schlussfolgerung, gefiltert durch unsere persönliche, höchst individuelle Brille, gefüttert durch Erfahrungen und Erzählungen unserer eigenen Backgrounds. Unterschiede zu negieren bedeutet, dass verdeckte Diskriminierungsstrukturen nicht aufgedeckt, strukturelle Benachteiligungen nicht erkannt und alte Muster reproduziert werden. Nochmal zusammengefasst: Nur weil uns bestimmte Mechanismen nicht als problematisch erscheinen, heißt das nicht, dass dies für andere Gruppen ebenso gilt.
Identitätspolitik kann in der Tat Unheil anrichten, vor allem wenn sie dazu benutzt wird, Gesellschaft in wertvolle und weniger wertvolle Gruppen aufzuteilen. Oder dann, wenn sie einfach nicht zielführend und schlicht verletzend wirkt. Sie kann aber auch helfen, einen echten Fortschritt zu erreichen, indem Positionen von Gruppen in den Diskurs aufgenommen werden, zu denen man selbst keinen Zugang hat. Sie kann andere Lebensrealitäten sichtbar machen und dazu dienen, einen großen Schritt in Richtung gerechterer Gesellschaft zu gehen. Das erkämpfte Wahlrecht für Frauen in Deutschland etwa, ist ein prima Beispiel für gelungene, progressive Identitätspolitik.
Für die Musikwelt bedeutet das, dass beispielsweise ein cis-Mann* lange glauben kann, dass eine FLINTA-Person in der Musik die gleichen Voraussetzungen hat, solange die Erfahrungen der betroffenen Gruppe unter Verschluss bleibt und diese nicht thematisiert werden. Wenn wir aber wirklich erreichen wollen, dass wir nur noch über die Musik reden, ohne dass das Geschlecht eine Rolle spielt, dann müssen wir dafür sorgen, dass strukturelle Ungleichheit im Musikbetrieb aufgedeckt und abgebaut wird und wirklich alle vom gleichen Startturm springen können. Denn sonst lügen wir uns selbst einen in die Tasche. Mal eine andere Brille als die eigene aufzusetzen führt nicht zu Spaltung, sondern im Idealfall zu echtem Fortschritt.
Im Übrigen denke ich nicht, dass es jemals eine Zeit gab, in der Herkunft und Geschlecht keine Rolle in der Musik gespielt hätten. Aber das ist nur meine bescheidene Sicht der Dinge, am besten ist, wir fragen mal bei denen nach, die es betrifft.
Herzlichst,
Eure Kat
*Als Cis-Mann wird derjenige bezeichnet, dessen Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde