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Time & Space: Alles fließt und mäandert

Prog mit Carsten Sandkämper

Alles fließt und mäandert
“Time & Space” – unsere Kolumne für Prog und Artverwandtes widmet sich in der ersten Ausgabe des neuen Monats Krautrock in allen möglichen Spielarten. Mit dabei sind Kreidler, Ort, Sounds Of New Soma, Body / Negative und die Pioniere Agitation Free.
Time & Space: Kreidler (Credit: Kreidler/Niederkirchner)
Selbst ihre Bandfotos sind Kunstwerke: Kreidler (Credit: Kreidler/Niederkirchner)

Auch wenn es nicht ausschließlich vom Tod handelt, liegt ein Schatten über dem zweiten Album von Body / Negative. Andy Schiaffino wollte “Everett” (Track Number, 08.12.) eigentlich von Midwife aka Madeline Johnston in ihrem mexikanischen Studio produzieren lassen. Die plötzliche Krankheit von Schiaffinos Vater zwang den non-binären Künstler hingegen, sich in Los Angeles um das letzte verbliebene Elternteil zu kümmern und ihn in den Tod zu begleiten. Dementsprechend fatalistisch klingen die von Field Recordings und Störgeräuschen durchzogenen Avantgarde-Tracks, die nur noch sehr wenig mit den Drones von “Fragments” (2021) zu tun haben. Zerbrechlich, verhallt und vielfach manipuliert geistert Midwifes Stimme noch durch ein paar Song-Features, jedoch bleibt “Everett” ein oftmals distanziertes Album aus einer Paralleldimension.

Ebenfalls ungeplant war die gesamte Existenz von Ort, dem Sludge-Metal-Trio um den Gitarren-Forscher Helmut Neidhard alias N. Die ursprüngliche Idee, sich den Untiefen elektronischer Experimente hinzugeben, musste angesichts der heftigen Noise- und Drone-Sessions im Proberaum mit Simon Dümpelmann und Dennis Müller in den Hintergrund treten. Die zwei 20-minütigen Kompositionen auf “Maschinenhafen” (My Proud Mountian, 01.12.) atmen atmosphärisch dichten Doom- und Noise-Metal, verschränken Einflüsse von Earth, Sleep, Melvins, Blind Idiot God oder auch Godflesh. Dabei lassen sich die Musiker viel Zeit, um einem ihre monotonalen Sequenzen auch ganz sicher ins Hirn zu hämmern.

Was Kreidler nicht nötig haben, denn ihre Musik ist von Haus aus quirlig und eindringlich. Die Düsseldorfer zeigen auch nach 30 Jahren in ihrem eigenen Genre keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Immer noch tauchen Thomas Klein, Alex Paulick und Andreas Reihse aus ihren Referenzkisten mit einem neuen, frischen Grundton auf, so auch für “Twists (A Visitor Arrives)”(Bureau B, 12.01.). Ins Elektro-Kraut-Gewand haben sie auf diesem Album zudem ein paar Gäste eingenäht (Maxim Bosch, Timuçin Dündar, Khan Of Finland und Natalie Beridze), deren Präsenz die Experimente zwischen Artrock, Jazz und Afrobeat in alle möglichen Richtungen aufbrechen lässt. In der zweiten Albumhälfte sind Kreidler dann wieder die alten: rhythmisch, tanzbar und infektiös.

Als sich Kreidler 1994 gründeten, lag die erste Auflösung der Berliner Impro-Rocker Agitation Free bereits 20 Jahre zurück. Die Band um den Gitarristen Lutz “Lüül” Ulbrich formierte sich 1998 neu und setzte ihren 1967 begonnenen Weg mit Live- und Studioaufnahmen fort. Mit “Momentum” (M.I.G., 24.11.) erscheint nun das erste Studioalbum seit 24 Jahren. Den langen Produktionsprozess hört man dem dicht produzierten Mix aus Progrock, Weltmusik und Improvisation auf jeden Fall an. Fans von Ikonen wie Joe Zawinul, Guru Guru, Eloy oder Ashra werden “Momentum” mit offenen Armen begrüßen. Alle anderen können von der musikalischen Perspektive dieser Krautrockwegbereiter noch etwas lernen.

So wie Sounds Of New Soma es getan haben. Ohne Vorbilder wie Tangerine Dream oder Conrad Schnitzler hätte es ein Album wie das zwölfte der Berliner wohl nicht gegeben. Zumindest nicht in dieser Form. “Fluxus 2071” (Tonzonen, 01.12.) zitiert nicht zufällig den Geist der Bewegung, die in den 60ern weltweite Bekanntheit erreichte. Die Freiheit, mit der Joseph Beuys und Nam Jun Paik ihre Kunst überschrieben, setzt sich in den neo-krautigen, scheinbar endlos dahinfließenden Songs von Sounds Of New Soma fort. Alles fließt und Elektronik, deren Quelle in den motorischen 70ern sprudelt, mäandert durch Ambient und IDM in eine strahlende Zukunft.