In einem Land vor unserer Zeit, mitten in den Tiefen der 80er, leben Steve Moore und AE Paterra. Als Zombi rekapitulieren sie seit nunmehr 20 Jahren und sieben Alben die Glanzzeit von Synthie Prog und AOR, Elektronik im Geiste von Jean-Michel Jarre und elektrifizierten Rock à la Rush und King Crimson. So auch auf “Direct Inject” (Relapse, 29.03.), das in Teilen so grell und neonfarben klingt, dass die kanadischen Neo-Prog-Ikonen Saga vor dem geistigen Auge erscheinen. Ob das so gewollt ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall klingt “Direct Inject” nicht mehr so Prog-episch wie “Spirit Animal”, sondern eher nach einem Hybriden aus dem 2015 erschienenen “Shape Shift” und dem gitarrenbetonten “2020”.
Sich absolut treu geblieben ist Brian Williamson, der seit rund 40 Jahren als Lustmord die leeren Tundren vor den Toren zur Unterwelt durchstreift. Wer sich die Mühe macht, sein 1990 erschienenes Album “Heresy” mit dem neuen Werk “Much Unseen Is Also Here” (Pelagic, 15.03.) zu vergleichen, wird natürlich eine um 30 Jahre fortgeschrittene Produktionstiefe bemerken. Auch Williamsons Erfahrung als Komponist von Film- und Game-Soundtracks hat seine Perspektiven geöffnet und seinen Blick auf Horizonte aus tief gepitchten Streichern, Noise-Drones und apokalyptischen Soundscapes erweitert. Im Kern jedoch beschwört Lustmords Musik heute wie damals den Untergang allen Lebens.
Der Übergang zum ersten Album von Full Earth könnte nicht härter sein, denn dieses 80-minütige Monstrum aus Instrumental Prog und Fuzzrock birst geradezu vor Vitalität und Ideen. Fordernde Keyboard-Arpeggios im Geiste Terry Rileys treffen auf heftiges High On Fire-Riffing und Psychedelic à la Elder. Von den sechs Songs auf “Cloud Sculptors” flirten drei mit der 20-Minuten-Marke, während sich die kürzeren Stücke in elektronische Avantgarde versteigen. Der von Minimal Music inspirierte Prog-Sound kommt nicht von ungefähr, ist Full Earth doch eine Erweiterung der Formation Kanaan um Schlagzeuger Ingvald André Vassbø – der momentan das Line-up von Motorpsycho komplettiert.
Ebenfalls von einem Schlagzeuger erdacht, könnte das Album “All Hits: Memories” (Drag City, 29.03.) nicht weiter von “Cloud Sculptors” entfernt sein. Jim White, seines Zeichens Drummer für Bonnie “Prince” Billy, Dirty Three, Smog, Mick Turner, Bill Callahan und viele weitere alternative Musiker aus dem reichhaltigen Kreativbiotop Chicago, hat auf seinem Soloalbum so viele disparate Improvisationen miteinander verquickt, dass jeder Ansatz der Einordnung stecken bleibt. Im avantgardistischen Spiel mit sich selbst und unter Beigabe improvisierter Keyboardfetzen entsteht ein spannendes Verwirrspiel aus Jazz-Improvisation, orchestraler Disziplin und Performance-Kunst.
Deutlich weniger verwirrend geht es auf “Bieber Sessions” (Bandcamp, 08.03.) zu, dem Album des Erich Zann Ensemble. Das Kollektiv um Frank Incense (sic!), seines Zeichens Bassist der Krautrocker The Sun Or The Moon, collagiert basierend auf einer Neuinterpretation des Don-Cherry-Klassikers “Brown Rice” ein dichtes Album aus Improvisationen an der Schnittstelle zwischen Fusion Jazz, World Music, Psychedelic und Neo-Kraut. Im Fluss aus elektronischen Sequenzen übernehmen Bläser die Melodieführung, während motorische Beats die Songs vorantreiben. So wenig wie hier das Rad neu erfunden wird, könnte man die Musik als Acid Jazz bezeichnen, wäre dieser Begriff nicht in den 90ern vom unsäglichen Café-Del-Mar-Phänomen zum Tode verurteilt worden. Weil sich zudem “World Kraut” selten dämlich anhört, bleibt die Einordnung der “Bieber Sessions” an dieser Stelle einfach aus.