2015 haben wir für VISIONS 271 mit Ärzte-Frontmann Farin Urlaub über Haltung gesprochen.
Farin, bist du ein Mensch, der Haltung hat – und wenn ja, in welcher Hinsicht?
Farin Urlaub: Ich würde es mir wünschen. Und ich würde mir wünschen, dass meine Haltung moralisch und intellektuell beleg- und begründbar ist. Ich gebe mir immer Mühe, wenn ich Stellung beziehen soll oder ungefragt Stellung beziehe – was ich auch gerne tue –, dass meine Meinung halbwegs fundiert ist. Dass ich etwas erlebt und aus der Erfahrung gelernt habe.
Also braucht man für eine Haltung eine gewisse Erfahrung und Kenntnis.
Was heißt “braucht”? Ich kann auch Dinge spontan moralisch entscheiden. Durch Empathie zum Beispiel. Wenn jemand auf dem Boden liegt, dann muss ich nicht viel wissen, um zu verstehen, dass es unfair ist, auf ihm rumzutreten. Aber über solche Dinge reden wir ja auch nicht. Wir reden eher über moralische Standpunkte. Und bevor ich eine Moral habe, muss ich erst mal wissen, worum es überhaupt geht. Also alle beteiligten Faktoren zumindest einmal angedacht haben.
Das heißt, dass man sich mit Dingen, zu denen man Stellung bezieht, auseinandersetzen muss.
Für mich ist das so. Bevor ich Stellung beziehe, möchte ich möglichst viel darüber wissen. Wenn mir das nicht möglich ist, weil die Zeit fehlt, dann muss ich mir eine Haltung oder eine Einstellung aus dem zusammenreimen, was ich weiß. Aber bei so einfachen Dingen wie der sogenannten Flüchtlingsdebatte, die eigentlich keine ist, sondern eine falsch geführte Diskussion, kann ich meine Haltung schon ganz gut begründen, glaube ich.
Glaubst du, es ist auch eine Sache der Erziehung, Haltung zu zeigen? Oder wenigstens eine Charakterfrage?
Charakter braucht man definitiv. Ich weiß nicht, wie die alle erzogen sind, aber auf mich hat es sicher Einfluss gehabt, dass ich in den ersten sieben Jahren in einer WG auch unter Arabern aufgewachsen bin und dort viel arabische Musik gehört habe. Und dass meine Mutter mich oft auf die Partys ihrer besten Freunde mitgenommen hat, einem schwulen Pärchen. Das heißt, ich wurde von vornherein mit der Normalität von sich küssenden Männern konfrontiert, und mit Menschen, die anders aussehen und eine andere Sprache sprechen. Dinge, die man als Kind als normal erlebt, bleiben eben auch normal. Ich denke, das hat mit Sicherheit bewirkt, dass ich später weder homophob noch xenophob werden konnte. Denn ich wusste, die sind genau wie wir auch. Das war kein erzieherischer Auftrag, aber meine Mutter hatte nun mal kein Geld, um anders zu leben, und das waren ihre besten Freunde.
Wie war das früher in der Schule? Hast du da schon gerne deine Meinung geäußert?
Ich war extrovertiert und introvertiert zugleich, sowohl Klassenclown als auch nicht wirklich ansprechbar. Ich habe mich nicht besonders hervorgetan durch Ansagen oder dadurch, andere in ihre Schranken zu weisen. Ich habe meine Meinung eher für mich behalten, als sie der Gruppe zu präsentieren. Das hat mich nie sonderlich interessiert. Als alle anfingen, Alkohol zu trinken, mit 14 oder 15, und ich nicht, habe ich niemandem erklärt, warum das nichts für mich ist, sondern habe es einfach nicht mitgemacht.
Erinnerst du dich an einen Zeitpunkt, als du erstmals das Gefühl hattest, Haltung zeigen zu müssen oder zu wollen?
Bei “Schrei nach Liebe”, das war uns schon ein Bedürfnis.
Aber das kam ja relativ spät.
Als öffentliches Bekenntnis vielleicht. Aber privat muss ich das auch gar nicht, da ich wie die meisten von Freunden umgeben bin, und die sind überraschenderweise keine rechtsradikalen Menschenhasser. “Schrei nach Liebe” war das erste Mal, dass wir uns hingestellt und gesagt haben: Übrigens! Das hat sich gut und richtig angefühlt, aber leider hat das Lied in 20 Jahren nichts von Aktualität eingebüßt.
War es dir immer wichtig, deinen Standpunkt auch lautstark zu vertreten, öffentlich?
Ja, weil es immer wieder Leute gibt, die einen sonst vereinnahmen. Wenn man sich nicht klar positioniert, denken die: “Oh, der denkt sicher dies oder jenes, weil …” Und dann denken sie sich irgendwas aus. Das will ich nicht. Ich werde ohnehin nur ungern vereinnahmt, und vor allem nicht von Arschgeigen. Dann mache ich lieber einmal zu viel den Mund auf. Wobei: Ungefragt passiert das eher selten. Aber wenn mich jemand fragt, möchte ich auch kein Geheimnis draus machen. Manche machen ja einen Eiertanz und sagen, man muss für beide Seiten Verständnis haben. Ich sage: Nein, für manche Sachen muss ich kein Verständnis haben.
Dabei macht auch so mancher Politiker einen Eiertanz und sagt, man müsse Ängste ernst nehmen und vielleicht mal in Dialog treten mit den Wutbürgern.
Ach, weißt du, ich habe ja auch noch ein Leben. Nein, danke.
Gab es danach noch weitere Bestrebungen deinerseits, dich öffentlich zu äußern?
Seit ich das Interview für Frizz [Das Magazin für Halle; Zitat Farin Urlaub: “Solange es Leute gibt, die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben, wird es auch Rassismus geben. Denn auch diese Leute wollen sich gut fühlen und auf irgendetwas stolz sein. Also suchen sie sich jemanden aus, der anders ist als sie und halten sich für besser. Oder sie sind bekloppterweise stolz darauf, ‘deutsch’ zu sein, wozu keinerlei Leistung ihrerseits nötig war.”] gegeben habe, fragen mich viele, ob ich noch ein Statement abgeben möchte. Nein, möchte ich nicht. Denn das habe ich ja schon.
Viele andere Künstler schrecken davor zurück, ihre Meinung zu sagen. Woran könnte das liegen?
Vielleicht denken die sich: Solange ich gar nichts sage, verkaufe ich mehr Tonträger, weil ich niemanden vor den Kopf stoße. Wenn man das Leben so betrachtet, ist das wahrscheinlich die richtige Entscheidung. Für mich wäre das aber keine Option. Was nicht heißt, dass ich denke, ich wäre irgendwie besser. Ich hatte mehr Erfolg, als ich jemals gedacht hätte, und wenn ich dadurch, dass ich Haltung zeige, weniger Erfolg habe, dann ist es immer noch mehr, als ich dachte.
Kommen wir zu uns, den Bürgern. In jüngster Zeit ist vermehrt festzustellen, dass sich der einzelne lieber hinter den Aussagen einer öffentlichen Person versteckt, oder deren Meinung eins zu eins für sich übernimmt, statt eine eigene Haltung zu formulieren. Was sagst du dazu?
Darin sehe ich ein großes Problem, denn nur, weil jemand eine Haltung teilt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch fundiert ist. Es reicht mir nicht, wenn jemand sagt: Ich schließe mich dem Farin an, das ist ein Guter. Deswegen sage ich in der Öffentlichkeit immer: Leute, informiert euch, das ist das Allerwichtigste! Ich glaube sogar, dass wenn die Leute, die gegen Flüchtlingsheime oder Auffanglager demonstrieren, sich einmal mit Migranten unterhalten würden, als Gespräch von Angesicht zu Angesicht, würden viele sich schämen und schnell merken, dass sie aus den falschen Gründen mitgerannt sind. Ich glaube nicht, dass es so viele moralisch völlig verkehrte Menschen gibt. Es gibt bestimmt genug, aber nicht so viele. Ich glaube soweit an das Gute, dass ich sicher bin: Wenn diese Leute mehr Informationen oder die gleichen Reisen wie ich gemacht hätten, würden sie ganz anders damit umgehen. Weil sie wüssten, unter welchen Umständen manche Menschen leben.
Vielleicht braucht es mehr Leute wie dich, die ihnen vermitteln, wie wichtig es ist, auch mal über den eigenen Schatten zu springen.
Da überschätzt du meine Position. Dafür habe ich schon zu sehr polarisiert. Wahrscheinlich bin ich für viele der linke Spinner. Ich bin nicht bei Facebook, aber man hat mir nach dem jüngsten Shitstorm gegen mich ein paar Kommentare weitergeleitet, damit ich weiß, worum es geht. Das war den meisten, die sich abfällig über mich geäußert haben, ganz wichtig: mir jegliche Kompetenz zu einem Urteil abzusprechen. Nach dem Motto: Der ist doch sowieso reich, der macht doch nur Musik, was weiß der denn schon. Der weiß gar nichts über mich!
Es gibt also keine gute oder schlechte Haltung, sondern nur die eigene?
Man sollte sie gelegentlich der Realität anpassen und überprüfen, ob die Sachen, aufgrund derer man seine Haltung formuliert hat, überhaupt noch stimmen. Ich glaube, es kommt gerade schwer aus der Mode, eine Haltung zu haben.
Du hast mal gesagt, du würdest dir wünschen, eines Tages frei von Vorurteilen zu sein. Deine Reisen sind dafür sicher gutes Training.
Total! Eine Begebenheit aus Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens. Mauretanien ist nicht gerade ein sicheres Land, ich wollte dort schnell durch, nach Marokko. Es drohte am totalen Chaos in einem Kreisverkehr in Nouakchott zu scheitern. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich abbiegen musste. Das bekamen zwei Jungspunde in einem tiefergelegten BMW mit, Sonnenbrille, geöltes Haar. Sie führten mich quer durch die ganze Stadt zur Straße nach Norden, halfen mir sogar noch, einen Streckenposten problemlos passieren zu können. Sie wollten nichts dafür haben, keine Gegenleistung, sie haben sich einfach gefreut, mir geholfen zu haben. Da waren meine Vorurteile wieder dahin. Ich hatte gedacht, das müssen verwöhnte Söhne reicher Leute sein, weil niemand in Mauretanien BMW fährt. Eine Lektion in Demut.