Wenn das Wall Street Journal die dunkle Seite des Metal entdeckt, soll das etwas heißen, tummeln sich auf den Seiten der Zeitung sonst doch vornehmlich monetär basierte News von A wie Aktie bis Z wie Zoll. Doch Erfolg ist anziehend, nicht nur an der Börse, sondern auch auf den Bühnen dieser Welt, von daher passt es, wenn das 1889 gegründete Leitmedium der kapitalistischen Hemisphäre befindet, Ghost würden zur kommenden Generation von Stadion-Bands gehören. Und die Los Angeles Times gleich noch mit einstimmt: Wenn es um Live-Acts geht, gehören Ghost zu den Besten im Business.
Es ist eine Menge Wasser den Styx hinabgeflossen, seit die Band um Tobias Forge anno 2010 ihr Debütalbum “Opus Eponymous” veröffentlicht hat. Damals schaffte es die Platte gerade mal eine Woche lang auf Platz 90 der deutschen Charts, in ihrer Heimat Schweden ging es immerhin bis auf Platz 30. Vier Alben später bot sich mit “Impera” ein gänzlich anderes Bild, Platz 1 in Deutschland, Österreich und Schweden, in den USA ging es bis auf Platz 2. Im Zuge des neuen Werks “Skeletá” dürfte es aller Voraussicht nach ähnlich aussehen – eine Prognose, für die man nicht unbedingt Stammleser des Wall Street Journals sein muss. Die besondere Metal-Spielart des Tobias Forge ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, ein Eindruck, der sich mit der Vorabsingle “Satanized” noch einmal verstärkt. Aus ihren schwedischen Pop-Wurzeln haben sie nie einen Hehl gemacht, aber so abbaesk im Kern hat die Band wohl noch nie geklungen, sieht man einmal vom “I’m A Marionette”-Cover von 2013 ab.
Zuletzt eroberten Ghost mit dem Film “Rite Here Rite Now” (2024), einer Kombi aus Liveaufnahmen und der fiktiven Bandgeschichte, die Kino-Leinwand, nun geht es zurück zum musikalischen Kerngeschäft. Die Studioarbeiten für das sechste Album hatten bereits Ende 2023 begonnen, Material war mehr als ausreichend vorhanden. „Ich schreibe im Prinzip ständig, wobei es nicht immer ein ganzer Song sein muss“, sagt Forge. „Mal ist es eine Idee, die ich vor fünf Jahren ins Telefon gesungen habe, die mir jetzt wieder einfällt. Ein anderes Mal gibt es bereits fast fertiggestellte Arbeitsversionen, die dann doch noch etwas lagern müssen. ‘Satanized’ ist so ein Song, ‘De Profundis Borealis’ ebenfalls, beide waren bereits für ‘Impera’ angedacht, aber passten zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz. Das war nun im Zuge von ‘Skeletá’ anders.“
Eine Schwäche fürs Komplizierte
Beim Blick auf die Songtitel selbst fällt zunächst einmal der Hang zum Lateinischen auf. Natürlich passt der archaische Duktus zum Ghost-Gesamtkunstwerk, in dieser Dichte jedoch ist das neu. “Cenotaph”, das Lied vom leeren Grab. Das von Oscar Wilde inspirierte “De Profundis Borealis”, “Umbra” mit seinem nihilistischen Unterton, “Missilia Amori”, das kaum zufällig an den Pop-Metal von Def Leppard erinnert, zum Abschluss “Excelsis”, wie die Credits am Ende eines Films. Forge und das Große Latinum, eine gewachsene Beziehung? „Das hat eher einen lustigen Hintergrund“, so Forge, „wenn ich jemandem einen neuen Song vorspiele, lautet die Frage nach dem Titel mal, ah, heißt der ‘Crying’? Nein, sage ich dann, der heißt ‘Lachryma’. Aber dieser heißt ‘Love Rockets’, oder? Nein, das ist ‘Missilia Amori’. Keine Ahnung, warum ich es immer so kompliziert machen muss. Als leidenschaftlicher Metal-Fan wächst man da auf gewisse Weise hinein.“

»Ghost existiert in meinem Kopf, gleichzeitig führt es ein noch vielschichtigeres Leben in den Köpfen unserer Fans.«
Tobias Forge
Hineingewachsen sind Ghost, ist Forge und mit ihm die mittlerweile weltweit so vielköpfige Glaubensgemeinschaft in ein Bandkonstrukt, das den steten Wechsel zur Konstante erhoben hat. Einst als Papa Emeritus gestartet, ist Forge mit seinem Alter Ego mittlerweile beim fünften Titel angekommen. Einen realen „Emeritus“, was im Lateinischen so viel wie „ausgedient habend“ bedeutet, und im Zusammenhang mit Soldaten verwendet wurde, gab es in der katholischen Kirche übrigens nur ein einziges Mal. Galt im Allgemeinen, dass ein Papst im Falle seines Rücktrittes aus der Öffentlichkeit verschwindet, sorgte Papst Benedikt XVI. bei seinem freigewählten Ruhestand 2013 für die einzige Ausnahme. Er entschied mithin nicht nur, dass sein Titel „Papst emeritus“ sein solle, sondern trug auch weiterhin die weiße Soutane. Ein für den Kirchenapparat temporär verwirrender Zustand, der so im Hause Ghost, mit einem zweifachen Forge, kaum möglich gewesen wäre – was die eigenwillige Bandhistorie angeht, gibt es auch so ausreichend Stoff für Mythen und Mutmaßungen. Am Ende von “Rite Here Rite Now”, so wurde im Forum auf thebandghost.fandom.com diskutiert, wurde zuletzt die Möglichkeit eines Papa-Zwillings angedeutet, der wiederum die Nachfolge als fünfter Papa Emeritus hätte antreten sollen. Alles Spekulation, wie man heute weiß. Im Zuge von “Skeletá” hat vielmehr Papa V Perpetua seine Amtszeit begonnen.
Eine Prise Salz
Doch in der Gerüchteküche brodelt es bereits, was den Hintergrund dieser Personalie betrifft. Sollte „perpetua“, was so viel wie „ewig“ bedeutet, womöglich darauf verweisen, dass dies, was die Personalwechsel der Vergangenheit angeht, der Schlusspunkt sein könnte? Forge hält sich bedeckt. „Für mich persönlich geht es da eher um den ironischen Aspekt. Wo auch immer sich jemand zum ‚ewigen Führer‘ erhebt, ist doch klar, dass das nicht funktioniert. Nichts hält ewig. Der eine dankt irgendwann ab und wird durch den nächsten ewigen Führer ersetzt. Diese Art von Ewigkeit gibt es nicht, sie muss irgendwann enden.“ Also sollte man auch den Titel von Papa V Perpetua mit einer gewissen Vorsicht genießen.
Spekulationen machen dennoch Spaß. So ergeben die Recherchen nach der Figur Perpetua durchaus Bemerkenswertes. Bei Perpetua handelt es sich um eine Märtyrerin aus dem Karthago des 3. Jahrhunderts, zusammen mit ihrer Sklavin Felicitas die erste ihrer Art, deren Geschichte, die “Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis”, überliefert ist. Beide wurden am 7. März 203 in einem Amphitheater unter den Augen des Volkes hingerichtet. Der Grund: Sie wollten ihrem Glauben nicht abschwören. Die neue Inkarnation des Ghost-Vaters womöglich mit weiblichem Bezug? Forge selbst wird nicht allzu konkret, ausschließen will er es jedoch nicht. „Es gibt da immer einen gewissen androgynen Touch, für mich ist das positiv konnotiert“, so Forge. „Ehrlich gesagt betreibe ich in dem, was ich tue, nicht allzu tiefgehende Nachforschungen. Was ich jedoch immer wieder feststelle, ist die Tatsache, wie sehr sich unsere Fans in diese Themen vertiefen und sich solche Dinge verselbständigen. Ghost existiert in meinem Kopf, gleichzeitig führt es ein noch vielschichtigeres Leben in den Köpfen unserer Fans. Auf gewisse Weise kann Ghost also alles sein, was du willst.“
So schickt sich “Skeletá” an, die Erfolgsgeschichte des Vorgängers “Impera” fortzusetzen. Ein American Music Award und iHeart Radio Award stehen zu Buche, für die Single “Mary On A Cross” erhielten Ghost ihre erste RIAA-Platin-Auszeichnung. “Rite Here Rite Now” entwickelte sich in den USA zum erfolgreichsten Hardrock-Kino-Event überhaupt, in Deutschland schaffte es der Film in die Top-5 der Kinocharts. 55 Shows umfasst die anstehende Welt-Tournee, erstmals machen Ghost dabei – das Wall Street Journal wird genau hinschauen – einen Stop im New Yorker Madison Square Garden. Nach den großen Entwürfen der Vorgängeralben widmen sich Forges Texte diesmal dem Innenleben, es geht ums große Ganze, die eigene Gedankenwelt und die Erfahrungen der vergangenen Jahre, den zunehmend verstörenden Zustand dieses Planeten – viel Ruhe zur Kontemplation wird ihm fortan eher nicht bleiben. Für Forge ein lebensbejahender Zustand, der Blick ist nach vorn gerichtet, auch wenn seine Geschichten oft vom Ende her erzählt werden: „Es gibt noch so viel zu tun. Das ist die simple Botschaft von ‘Excelsis’, dem letzten Song des Albums: Wenn du es bis hierher geschafft hast, ziehe auch weiter durch. Mach’ dein Ding, und zwar genau jetzt, weil es einfach großartig ist, am Leben zu sein. Genieße es, solange du es kannst.“