31.Oktober 1968
Es lässt sich anhand der Intensität des Debütalbums und auf Basis einiger Überlieferungen leicht erahnen, dass an diesem Abend die Luft im Detroiter Grande Ballroom wie elektrisiert gewesen sein muss. Als der ehemalige Prime-Movers-Schlagzeuger und Prediger der Fantasiereligion Zenta, Brother JC Crawford, eine ganze Generation auffordert, sich zu entscheiden, ob man denn nun Teil des Problems oder seine Lösung sein wolle, steht ein Teil dieser Lösung bereits fest: The Motor City Five, kurz MC5. Die Band, der zum damaligen Zeitpunkt bereits der Ruf vorauseilt, die härteste und chaotischste Truppe des bekannten Universums zu sein, nehmen an diesem Abend ihr erstes Album auf. Live. Vor einem ausverkauften Haus. Die Idee hatte ihr Manager John Sinclair, ein stadtbekannter Hippie und Gründer der White Panther Party, einer Unterstützergruppe der Black Panthers.
Die MC5 liefern ein ungestümes, zwingendes Set, das Wayne Kramer später als nicht mal sonderlich druckvoll beschreiben wird. Wenn das nicht nur Koketterie ist, mag man sich kaum ausmalen, was die Band in ihrer Hochphase entfesseln konnte. Die MC5 übernehmen Sinclairs politisches Programm und fügen ihrem ohnehin schon kontroversen Ruf als Troublemaker eine weitere Facette hinzu. Neben der politischen Attitüde, von der nie ganz klar werden wird, wie sehr sie die Band selbst verinnerlicht hatte, sind es vor allem die Bandmitglieder selbst, die als Summe eine Urgewalt präsentieren, die Rock als buchstäblich gefährliche Kunst auf ein neues Level heben: Rob Tyner, der Derwisch-hafte Frontmann, Schlagzeuger Dennis “Machine Gun” Thompson, Bassist Michael Davis und die beiden Gitarristen Fred “Sonic” Smith und Wayne Kramer. Vor allem letzterer fügt dem ursprünglichen Garage-Sound der seit Mitte der 60er existierenden Band eine Dringlichkeit hinzu, die ihren Ursprung eher aus dem Jazz eines Pharao Sanders oder John Coltrane bezieht.
Die Band ist Ende der 60er im amerikanischen Norden “the next big thing”, kann aber durch Drogenprobleme, schlechte Presse und innere Kämpfe in den gerade mal vier Jahren nach der Veröffentlichung des ersten Albums nie die Größe erreichen, die sie verdient hätte. Und trotzdem schreiben sich die MC5 in die DNA der Musikgeschichte ein und sind in der Rückschau die Propheten der Revolution, die die ewige Verheißung des Rock’n’Roll bleibt. Ihr politischer Aktivismus wirkt inhaltlich bis in die Neuzeit und ist aktuell mal wieder besonders relevant.
100 Club, London, 13. März 2003
Es ist noch nicht einmal 23 Uhr als Ian Astbury (The Cult) die Bühne betritt und den Schlachtruf “Kick out the jams, motherfuckers!” ins Publikum bellt, um den Abschluss der Show einzuleiten. Dieses Publikum, bestehend aus 100 Auserwählten, ist im Verlauf des Abends Zeuge geworden, wie man eine Legende standesgemäß zelebriert, ohne dass in irgendeinen Bürgersteig ein glitzernder Stern einbetoniert werden muss. Drei Fünftel der MC5 haben mit wechselnden Sängern und Nicke Royale von den Hellacopters an der zweiten Gitarre die größten Hits der Band gespielt und für mindestens feuchte Augen bei den Anwesenden gesorgt, vor allem im geradezu magischen Moment als Motörheads Lemmy Kilmister “Sister Anne” mit ungeheuer viel Seele und Schmutz intoniert.
Der eigentliche Star des Abends aber steht vorne links am Bühnenrand, eher zierlich, drahtig und bewaffnet mit der ikonischen Stars’n’Stripes-Fender-Gitarre: Wayne Kramer. Was dieser Mann aus den sechs Drähten akustisch zu destillieren imstande ist, erfordert eigentlich eine eigene Lizenz. Zwischen fein ziselierten Saitenflitzereien und sprichwörtlichen Detonationen, verjazzten Synkopen bis zu akustischem Bombenhagel – Kramer spielt sie mit einer ironischen Leichtigkeit, die sprachlos macht – so als ob er große Teile des Gehirns gar nicht bemüht, sondern seine Riffs rudimentär im Kleinhirn vorgegart werden und dann direkt über das Rückenmark, durch den Arm aufs Griffbrett fließen. Und dann dieses Lächeln. Selig, fast entrückt ist der Mann der personifizierte Spaß an der Sache und nimmt die 100 Leute im stickigen Club einfach mit. Solche Momente sind rar, auch für jemanden, der in seinem Leben locker 1.000 Konzerte gesehen hat. An diesem Abend im 100 Club bin ich froh, dass der Fön aus Klimaanlage und Bassdruck in der ersten Reihe so massiv ist, dass er meine Tränen der Rührung sofort trocknet. Ja, ich gebe zu, ich habe geweint – vor allem auch wegen der Bilder der Erinnerung, die mir durch den Kopf gehen. Es ist dieser 13. März 2003, an dem ich in die retrospektive Phase eintrete – der Anfang des Lebens als alter Sack, der den Kindern vom Krieg erzählt. Oder eben von Wayne Kramer.
Sommer 1987
Wir liegen auf einer alten Rotkreuzdecke auf einer Wiese an der Elbe in der Nähe von Dessau. Am Horizont rauchen die Schlote des Heizkraftwerks Vockerode, neben uns liegen Hirschbeutel und eine angebrochene Schachtel Juwel 72 Zigaretten, die ich bei meinem Opa geklaut habe. Wir trinken Bier. Dessauer Hell, die Flasche für 72 Pfennig. Es ist bis heute das miserabelste Bier, das es je gab. Wir – das sind ein paar unbeholfene Teenager, deren adoleszente Auflehnung gegen das System aus Batikshirts, ungeschnittenen Haaren und existenzialistischen Diskussionen über Flower-Power und freie Liebe bestehen. Unser Meinungsführer ist ein etwa vier Jahre älterer Schreinergeselle, der sich unserer Verehrung allein schon dadurch sicher sein kann, dass er sich dem engen Korsett einer geregelten Arbeit verweigert und deshalb vom “System” den höchst verdienten Status eines Asozialen verliehen bekam. Mehr Outlaw ist in der DDR schwer möglich. Er kramt in seinem Hirschbeutel und fördert fiebrig eine K60 Low Noise ORWO-Kassette zutage, die er in einen Kassettenspieler der Marke Stern Rekorder einlegt, den Wiedergabeknopf drückt und die Lautstärke auf Anschlag regelt. “Das müsst ihr euch anhören. Habe ich gestern getauscht.”
Das in Holz gefasste Gerät verwandelt sich in meiner Erinnerung in einen Schrein der Transzendenz, als JC Crawford das revolutionäre Intro zu “Ramblin’ Rose” predigt und nach anderthalb Minuten die Lösung aller unserer Selbstfindungsprobleme präsentiert: “I give you a testimonial: The MC5!”. Acht Songs später ist es Gewissheit. “Kick out the jams, motherfuckers!” wird unser Schlachtruf. Und nichts ist mehr, wie es war. Aus einem, überwiegend die Rockabilly-Tapes des Vaters hörenden Muttersöhnchen, dessen Dissidententum darin besteht, westliche Logos auf sein Holzlineal zu kritzeln, wird quasi über Nacht ein in seinem Freiheitsdrang kaum zu bändigendes Torpedo mit ADHS-Einspritzung. Dabei ist es weniger Inhalt sondern der unfassbare Sound der Kassette, die vor allem eines verheißt: Freiheit und Hedonismus. Und die mit jeder Note zu uns spricht: Was auch immer sich dir in den Weg stellt, renn es einfach um!
1976
Wayne Kramer bekommt einen Wutanfall, als das amerikanische Billboard-Magazin in einem Artikel über die Ramones den MC5 attestiert, die Erfinder des Punk zu sein. Der Legende nach zerreißt er das Heft und befördert es direkt ins Klo. Kramer war ein Jahr zuvor in das Staatsgefängnis von Kentucky eingefahren, nachdem man ihn beim Koksdealen erwischt hatte. Dort hatte er die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Punk kennengelernt, das die unterworfene Person in einer homoerotisch-submissiven Beziehung kennzeichnet. Etwa zeitgleich lernt er im Knast Red Rodney kennen, ein Heroin-Junkie wie er selbst und bekannter Jazz-Trompeter, der zuvor etwa mit Charlie Parker gespielt hatte. Kramer bekommt Lektionen in Improvisation und bohrt sein Spiel mit dem auf, was bereits zur Gründung der MC5 Mitte der 60er eine der Hauptinspirationen für ihn war: Jazz. Im Gegensatz zu Wegbegleitern wie etwa den Stooges, ist der Sound der MC5 immer wesentlich mehr als nur mit Detroits Großstadtdreck panierter Rock’n’Roll. Nicht nur, dass die Band aus universitärem Kontext kam, es war Kramers Liebe für Jazz und die improvisatorischen Ideen eines Sun Ra oder Coltrane, die das kontrollierte Chaos in seine Musik injizierten.
Kramer dehnt die Bestimmung der Gitarre als Instrument, indem er sie nicht nur spielt, sondern regelrecht in Stücke reißt, wie es ein Kritiker Ende der 60er einmal formulierte. Dabei nimmt er etwa 20 Jahre vorher den voluminösen Sound des Grunge vorweg. Er verpasst dem Spiel eine neue Ästhetik, indem er das Instrument mal wie ein Sturmgewehr hält, den Arm wie einen Propeller kreisen lässt oder den Hals biegt und so den Sustain erhöht – Techniken, die Hendrix ebenso ausprobierte wie später Pete Townsend, Caspar Brötzmann, Page Hamilton oder Chris Spencer bei Unsane. Dabei ist Kramer nicht nur Techniker, sondern vor allem ein grandioser Poser. Auf Youtube finden sich Ausschnitte eines im Juli 1970 auf dem Tartar Field in Detroit aufgezeichneten Konzerts, von Kramer höchstselbst klanglich überarbeitet und hochgeladen. Hier sieht man den Gitarristen trippelnd, moonwalkend und mit dem Hintern in Richtung Publikum wackelnd – eine einzige Lektion in perfektem Posing mit gleichzeitigem Infragestellen bekannter Machismen des Rock. Es ist klar: Von 70s Rock über Punk, Grunge, Noise Rock, Sleaze, Glam, Metal bis hin zu Shoegaze und sogar dem Crossover von Rage Against The Machine – Kramers Spuren finden sich überall – im Sound, der Technik oder dem Posing, manchmal in allem. Und sie sind nicht auf den Punk limitiert, mit dessen Bezeichnung Kramer zeitlebens Probleme hatte, vor allem, weil er die ursprüngliche Bedeutung im Gefängnis kennengelernt hatte.
Januar 1995
Wayne Kramer veröffentlicht sein erstes Soloalbum “The Hard Stuff”, nachdem er fast die kompletten 80er als Schreiner gearbeitet und musikalisch kaum in Erscheinung getreten ist. 1981 ist er noch an der Seite von Don Was in Was (Not Was) und deren historischem Debütalbum zu hören. Der sich daran anschließende Versuch einer Band mit Johnny Thunders wird ein kapitaler Rohrkrepierer. Gang War schaffen nicht mal ein Album, bevor die Band im Heroinnebel verblasst. 1995 ist Kramer clean. Am nördlichen Horizont kündigt sich eine musikalische Welle an, die ein Jahr später unter dem wenig konkreten Titel “Scandinavian Rock” über die Musikwelt hereinbricht und ihre Gischt bis ins Heute versprüht. “The Hard Stuff” ist, trotzdem Kramer eigentlich nichts anderes macht als bei MC5, seiner Zeit wieder einmal voraus und bleibt am Wegesrand zurück als der unter Volldampf fahrende Roadtrain Scandinavian Rock, aufgetankt mit “Supershitty To The Max!” und “Riding The Tiger” durch die Schallmauer kracht. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, denn “The Hard Stuff” ist ebenso wie das zwei Jahre später folgende Album “Citizen Wayne” von einem solch zwingenden, auf die Tube drückenden Enthusiasmus angefeuert, dass ein Großteil der auch noch heute zahlreich existierenden Epigonen der MC5 zu Tingel-Truppen degradiert. Die Gitarrenarbeit von Kramer ist schlicht nicht von dieser Welt und die Dichte der breitbeinigen Riffs, die nie nur Pose sind, ist so hoch, dass man nach dem Genuss regelrecht besoffen davon ist.
12. März 2003
Wayne Kramer, Michael Davis und Dennis Thompson, die drei verbliebenen Mitglieder der MC5 stehen in einem Londoner Proberaum. Sie bereiten sich auf das am nächsten Tag stattfindende Konzert im 100 Club vor. Zwischendurch werden einige Journalisten durchgeschleust, von denen jeder zehn Minuten mit den Bandmitgliedern für ein kurzes Gespräch bekommt. An solchen Interview-Setups ist prinzipiell nichts ungewöhnlich. Was diesen Nachmittag allerdings besonders macht, ist vor allem der Enthusiasmus, mit dem Kramer die Pressevertreter empfängt. Während Künstler in der Regel die Promotion eines neuen Albums oder Konzerts als notwendiges Übel empfinden, ist Kramer bestens gelaunt und voller Energie. Ich komme nicht dazu, meine sorgsam vorbereiteten Fragen überhaupt zu stellen. Stattdessen quatscht Kramer zwanglos über Politik und die gesellschaftliche Kraft von Musik. In einer beachtlich geerdeten Weltsicht merkt man Kramer an, dass er neben ungeheurem Spaß an der Sache ein überaus reflektierter Zeitgenosse ist, der gesellschaftliche Entwicklungen nicht nur mit Sorge, sondern vor allem auch mit Lösungsideen betrachtet. Seiner Position ist er sich dabei immer bewusst.
Als die zehn Minuten um sind, verlasse ich den Raum elektrisiert und muss erstmal verschnaufen. Ich mache es mir auf einem Sofa in der Ecke des Komplexes bequem, trinke einen Tee und sehe plötzlich Kramer auf mich zukommen, der sich neben mich setzt und noch einmal auf das Gespräch zurückkommt, das wir vorher geführt haben. Ich erzähle ihm etwas von der verbindenden Kraft von Musik und erwähne meine persönliche Geschichte und wie ich das erste Mal die MC5 gehört habe, auf einem hölzernen Kassettenspieler. Nun dreht er das Gespräch um und interviewt nun mich zu meinen Idealen aus der Zeit vor dem Mauerfall und was davon übriggeblieben ist. Wir sprechen über Musik und eine Band, die ich als die würdigsten Epigonen dessen werte, was MC5 der Musikgeschichte hinzugefügt haben und die nebenbei meine unangefochtene Lieblingsband sind: Zen Guerrilla – die ohne die MC5 absolut undenkbar wären.
28. November 2018
Es ist Marcus Durant von eben jenen Zen Guerrilla, den Wayne Kramer als Sänger zum 50. Geburtstag des Debütalbums der MC5 auf die Bühne eingeladen hat, neben solch illustren Gästen wie Brendan Canty (Fugazi), Kim Thayil (Soundgarden) und Billy Gould (Faith No More). Im nicht mal ausverkauften Berliner Columbia Theater schaffen es die als MC50 auftretenden Musiker jeder Skepsis zum Trotz ein Feuer zu entfachen, das dem Anlass mehr als gerecht wird. Was das Konzert besonders macht, ist die ungeheure Spielfreude, für die Kramer bekannt ist und die sich auf seine Mitmusiker überträgt. Es gibt nichts zu beweisen. Dass die Songs längst zum Weltkulturerbe zählen, ist Common Sense an diesem Abend. Die Anwesenden erleben einen Gitarristen, der sich seines Status selbstverständlich bewusst ist und der vielleicht gerade deshalb eine innere Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt, die das gesamte Publikum abholt. Es ist Nostalgie in ihrer reinsten und positivsten Form. Kramer scherzt, grinst und lacht und lässt nicht nur in seinem erwartungsgemäß exzellenten Spiel genau diese Klasse aufblitzen, die die MC5 bereits vor 50 Jahren so einzigartig gemacht hat.
An diesem Abend wird es deutlich: Brother Wayne Kramer hat Frieden gefunden, der über die Musik hinausreicht. Seiner über Jahrzehnte geäußerten Kritik am amerikanischen Justizsystem hat er bereits 2009 Taten folgen lassen und mit Billy Bragg die Charity-Organisation Jail Guitar Doors ins Leben gerufen, die Häftlinge mit Instrumenten und Gitarrenkursen versorgt. Er ist Teil der Lösung, präsentiert sich als vehementer Verteidiger der Demokratie und äußert sich unmissverständlich zur Rolle von Donald Trump in der US-Gesellschaft, dem er in einem Interview attestiert, jedem Arschloch auf der Welt die Genehmigung gegeben zu haben, ein Arschloch zu sein. Kürzlich hat er außerdem ein neues MC5-Album angekündigt. Es ist aktuell nicht klar, ob es posthum erscheinen wird.
Wayne Kramer ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, der dafür bekannt ist, besonders heftig und aggressiv zu sein, weil er in der Regel zu spät entdeckt wird. Wahrscheinlich hätte er das mit einem verschmitzten Lächeln als passend kommentiert.