Ihr seid jetzt schon seit gut 20 Tagen unterwegs, wie läuft eure erste Young-Fathers-Tour seit 4 Jahren bis jetzt?
Graham “G” Hastings: Gut, aber es fühlt sich nur immer noch so an, als wäre es ein bisschen zu früh. Es liegt daran, dass wir immer noch einiges verändern. Wir versuchen herauszufinden, welche Songs funktionieren und welche nicht. Es ist eine ständige Suche. Beim Soundcheck und bei den Proben kann etwas großartig klingen, aber live ist es etwas völlig anderes.
Seid ihr denn Perfektionisten? Es hört sich ein bisschen so an.
Kayus Bankole: Nicht unbedingt Perfektionisten. Das ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist wie Graham sagt, ich genieße einfach diesen Prozess des Ganzen und probiere neue Songs aus. Jeden Tag eine andere Setlist, neue Songs einbauen. Dieses Gefühl, dass nichts wirklich festgelegt werden muss. Mit der Zeit werden wir uns mit einigen Songs wohler fühlen als mit anderen, aber diesen Teil mag ich – die Suche. Es geht nicht unbedingt darum, perfektionistisch zu sein, sondern darum, das Unperfekte zu genießen.
Wenn ihr ein Album herausbringt, ist es also nicht zu hundert Prozent fertig. Kann man das so verstehen?
Graham: Ja, wir haben Alben und Auftritte immer komplett verschieden behandelt. Das Album ist nur eine aufgenommene Version davon und live muss man sich nicht an die Regeln des Songs halten, den man geschrieben hat. Es ist einfach besser, beides als unterschiedliche Einheiten zu sehen, denn dann ist man nicht auf etwas festgelegt. Es ist ja auch so: wenn ich zu einer Show gehe, denke ich nie daran, dass sie genau wie die Platte klingen muss. Das will man ja auch gar nicht. Oftmals vergleichen wir unsere Songs auch, und die Live-Version klingt dann so, als hätte sie mehr zu bieten als die aufgenommene Version.
Kayus: Das Live-Gefühl ist einfach etwas, was man nicht duplizieren kann. Die Rückkopplung der Monitore und so weiter, das macht das Ganze noch spannender. Es ist also zu Recht ein ganz anderes Kaliber. Daher behandeln wir es auch völlig getrennt. Sogar die Herangehensweise an den Song oder wie man die Sets spielt, ist völlig anders als die Art und Weise, wie wir unsere Gedanken in die klarste Form des Albums stecken.
Erlebt ihr eure Auftritte als Katharsis?
Graham: Naja, es fühlt sich gerade so an, als wäre nicht viel Zeit vergangen. Als wir wieder anfingen zu spielen, kommt alles wieder zu einem zurück. Es fühlt sich nicht wirklich an wie … wie …
… es ist wie Fahrradfahren.
G: Ja, das ist es. Es fühlt sich schon so an.
Alloysious Massaquoi: Für uns fühlt es sich einfach wie eine Erleichterung an, eine Platte herauszubringen. [lacht] Wie du schon sagst, ist dieser Prozess tatsächlich kathartisch. Es war frustrierend und wir hatten eine ganze Reihe Rückschläge. All die Sorgen, es noch nicht veröffentlicht zu haben. Außerdem wachsen dem Album nun Arme und Beine – es wird zu etwas. Es ist jetzt greifbar. Und jetzt können wir sozusagen mit dem Rest unsern Lebens fortfahren. Die Live-Erfahrung ändert sich dadurch aber komplett. Sie wird zu etwas anderem. Wir versuchen, einige Elemente der Aufnhmen einzubringen: Einige der Performances oder wie wir uns bewegen. Was dabei herauskommt, ist sehr intuitiv und roh. Das muss man ausbalancieren: Diese Schärfe, ein kleines bisschen Gefahr, aber auch Zusammengehörigkeit, ein gefestigter Sound und Lockerheit. Wir lieben diese vielen Kontraste: Das Dunkle und das Süße sozusagen.
Übt ihr viel für eure Auftritte? Oder wie geht ihr bei der Zusammenstellung einer Show vor?
Alloysious: Wir proben nicht übermäßig. Wir überlassen die Dinge gerne der Spontaneität. Es passiert eben. Das ist also der Aufbau: Wir sind auf der Bühne, wir kennen die Songs und wir haben eine Setlist, aber wir versuchen, so viel Dynamik wie möglich einzubringen, und wenn sich jemand während des Auftritts zu irgendetwas inspiriert fühlt, dann machen wir es einfach. Die Leute können darauf reagieren oder nicht. Aber selbst wenn sie nicht darauf anspringen, ist das etwas. Es geht alles über das Equipment, das wir auf der Bühne haben: Da gibt es Geräte, an denen man ziehen kann, auf denen man herumschlagen kann; Der ganze Kram erzeugt die Stimmung und den Vibe, den wir versuchen, den Leuten zu vermitteln, damit sie etwas fühlen – wenn sie wollen. Für uns geht es nur darum, genau das zu erreichen, was wir für die Performance brauchen und das es hoffentlich beim Publikum ankommt.
Kayus: Es geht auch darum, darauf aufzubauen können, was wir in den Proben erarbeitet haben. Wie Alloysios schon sagte, proben wir nicht übermäßig viel, aber wir versuchen, den Song zu verstehen und schauen, was Sinn ergibt. Wenn wir dann auf der Bühne stehen und live spielen, ist das wie ein Baukasten. Wir finden so heraus, was Resonanz findet oder besser funktioniert. So entsteht ein Gefühl der Freiheit, wodurch man Neues auszuprobieren kann. Das ist wie eine Droge für mich. Spontaneität ist eine Droge, die mich high macht. Wir sind in einem Live-Szenario immer auf der Suche danach. Ein bisschen Gefahr ist immer gut, da man nicht weiß nicht, was passieren wird. Ohne das kann es verdammt langweilig sein, also wollen wir sicherstellen, dass wir auf der Bühne immer noch etwas fühlen. Ob es nun Wut, Aufregung oder was auch immer ist, wir nutzen es so gut wie möglich aus. Ich habe mit unserem Tontechniker und auch einigen weiteren Leuten über unsere Gigs gesprochen. Die Gigs, die sie am meisten genossen haben, sind die, bei denen etwas auf der Bühne schief gegangen ist.
Ihr überrascht euch also immer noch gegenseitig auf der Bühne?
Alle: Ja!
Kayus: Ja, die ganze Zeit. Hundertprozentig. Das ist eine gute Sache, den wir wachsen daran. Wenn du zum Beispiel sagst: “Oh cool, was du da gemacht hast, das war ziemlich geil” und du versuchst es dann selbst und versaust es. [lacht]
Seid ihr im Studio auch so drauf? Es ist sicherlich nicht so, dass einer von euch ankommt und sagt: “Schaut her, ich habe hier dieses Riff, lass uns einen Song damit machen.”
G: Es ist das totale Gegenteil. Auch hier überraschen wir uns gegenseitig, denn wir wollen von anderen Leuten überrascht werden, und uns selbst überraschen. Wir können alle Ideen und Texte schreiben und solche Sachen, aber dieses Album fühlte sich so an, als ob wir es wirklich genießen konnten, weil es eben nicht auf diesem Zeug basiert. Wir waren nur zu dritt in einem Raum zusammen. Nur wir. Und es fing auch erst dann an. Die ganze Konzeption wurde also gemeinsam gemacht. Die Basis legte unserer Instinkt, das Reagieren aufeinander. Wir haben diesen Luxus vielleicht auch nur weil wir uns schon kennen seit wir Kinder waren, vielleicht liegt es aber auch an der Art, wie wir zueinander sind. Wir reden nicht wirklich viel, wenn die Musik läuft. Aber wenn irgendwas passiert, wird jemand darauf reagieren. So sind wir nun mal. Es ist seltsam. Wir haben fast nicht gemerkt, wie seltsam es ist, bis wir anfingen, darüber zu reden, wie andere Leute wohl Songs schreiben.
Alloysious: Ja, es ist lustig, wenn man darüber nachdenkt, wie traditionelle Songs oder Songstrukturen geschrieben werden. Wir malen zwar mit einigen dieser Strukturen auf unserer Palette, aber wir versuchen immer, einen Weg zu finden, sie für uns interessanter zu machen. Sie auf eine Art und Weise zu bastardisieren, die sich richtig anfühlt. Im Grunde geht alles. Denk mal an den James-Brown-Song “Please Please Please”: Er sagt es die ganze Zeit. Das war’s. Heißt das, du brauchst dieses “Baby, please, ich brauche dich in meinem Leben, die ganze Welt ist schlecht, blabla”? Brauch man nicht, er kommt einfach auf den Punkt. Lass den ganzen Schnickschnack weg. Nimm das Fleisch und lass die Knochen zurück.
Macht ihr das absichtlich oder geht das auch ganz natürlich?
Alloysious: Wir sagen nie aktiv: “Lass uns diesen Song dekonstruieren.” Nein, es geht nur über unser Gefühl. Wenn es sich richtig anfühlt, beenden wir den Song einfach, wenn es bis dahin alles ist, was wir brauchen. Betrachte es doch mal ganz praktisch: Gefällt dir das? Nein. Ist das besser? “Ja. Na, super! Sowas passiert auf einer bestimmten Ebene, aber man muss genug Selbstvertrauen dafür haben. Es braucht die Jahre oder die Alben oder was auch immer, um dieses Vertrauen zu haben. Wir denken nicht mehr über sowas nach: “Oh, vielleicht hätten wir das nicht so machen sollen.” [schnippt mit den Fingern] “Nein, so klingt es einfach besser.” Das war’s. Und wir machen weiter. Es ist immer so, dass man den Glanz von dem nimmt, was man macht: “Oh, sind wir mystisch.” Alles Schall und Rauch. [lacht]
G: Es ist einfach direkt auf den Punkt gebracht. Wir arbeiten auf eine Art und Weise, die kein populärer Standard ist, die als seltsam angesehen wird. Das ist für uns einfach unser Geschäft. Es ist eine Sache des Vertrauens. Für uns geht es darum, mit absolut nichts ins Studio zu gehen. Keiner von uns hat eine Gitarre, keiner von uns hat ein Riff, keiner von uns hat nichts. Für uns ist das wie der Himmel, während es für andere wie die Hölle wäre, mit nichts ins Studio zu gehen, weil der Druck so groß ist: “Ah, ich muss etwas machen. Ok, ich kopiere diese Refrains von den Beatles. Und wir haben den gleichen Scheiß wie immer.” Wir sind das Gegenteil davon. Nur unsere Vorlieben und all das, was wir bisher zusammen gemacht haben, kommen in unserer Musik zum Ausdruck und werden dort verarbeitet.
Kayus: Es ist auch dieses Übertheoretisieren von Dingen, was es dumpf macht und einen salzigen Geschmack im Mund hinterlässt. Für uns basiert es hauptsächlich auf dem Gefühl und der Verbindung zum Song und was auch immer diese Verbindung sein mag. Ich war also noch nie ein Fan von diesem “Das muss genau so sein, weil es so sein muss.” [Alloysious fällt ins Wort]
Alloysious: G-Dur! Es gibt eine Menge Leute, die Musik auf technischem Niveau lesen können und jede Note spielen können, die es gibt, aber zur gleichen Zeit muss man sich immer fragen: Klingt es gut? Hat es Seele? Es muss also nicht unbedingt so sein, dass man immer perfekt klingt. Man kann auch völlig daneben liegen, man legt sich aber so ins Zeug, dass es etwas hinzufügt, was fehlen würde, wenn man immer technisch korrekt wäre. Es ist einfach das Engagement und die Leidenschaft, was die Musik ausmacht für uns.
Kayus: Wenn man so technisch ist, denkt man nur noch an “Ich kann nicht” und “Ich muss” und all diese Regeln. Sobald die musikalische Landschaft offen ist, kann ich machen, was ich will. Wenn es sich gut anhört, wenn es sich gut anfühlt, dann kann man das machen. Nutze alles, was du kannst, um dir das Mindset zu schaffen, dass alles möglich ist. Bastardiere so viel du kannst!
Alloysious: Das soll nicht heißen, dass man keine perfekten Akkordfolgen in einem Song haben kann. Das klingt absolut schön und die beste Musik wird so gemacht. Es ist aber etwas anderes, wenn man davon abweichen kann und trotzdem etwas schafft, das genauso schön ist, wenn nicht sogar besser. Wenn man sich dafür entscheidet, kann man die Instrumentierung auf der technischen Ebene über andere Musiker hinzufügen und so die Freiheit des Ganzen erhalten. Für uns funktioniert das. Es ist weniger Stress, weniger Sorgen mit der Musikpolizei: “Das ist technisch nicht korrekt!” Aber klingt es gut? Ja!
Kayus: Wenn es gut klingt, halt die Klappe.
Klar, Atmosphäre statt Mathematik. Aber wie war denn überhaupt die Atmosphäre bei den Aufnahmen zum Album?
Alloysious: Es war eine gesetzfreie Zone, so wie wir uns eingerichtet haben. Alles, was da drin passiert, wird aufgenommen, um diese Raumatmosphäre zu schaffen und den Moment einzufangen, in dem die Leute auf etwas reagieren. Du weißt schon, ein Grunzen oder ein Schrei. Man beginnt mit einer Melodie oder dem Riff und man baut einfach darauf auf und schaut, was passiert. Es gibt also schon eine Ebene der Mathematik, wir beschäftigen uns nur nicht aktiv damit. Wir machen es instinktiv. Wir arrangieren den Song, ohne darüber nachzudenken.
Kayus: Stell dir vor, deine Mutter kocht. Das ist wie Mathematik, weil es eine Menge an Zutaten gibt, die man braucht, um es zu machen. Aber ich sehe auch, wie meine Mutter immer verdammt viel abmisst, aber den Scheiß einfach irgendwie in den Top wirft.
Naja, sie kocht mit dem Herzen.
Kayus: Ja, genau.
Alloysious: Es ist dieses Gefühl.
G: Das ist alles Instinktsache. Für mich geht es bei diesem Album um die Tatsache, dass wir uns nicht vorbereiten. Je weniger man sich vorbereitet, desto besser. Auch wenn man viele Texte schreibt, die man nie benutzt, wirkt sich das trotzdem auf das Album aus, denn es ist wie Hausaufgaben machen. Man lernt etwas, aber benutzt es vielleicht nie. Allein die Tatsache, dass man es nicht benutzt, ist aber ein Vorteil. Denn wenn ein Song anfängt zu spielen, kennst du plötzlich den Text dazu, es ist alles in Echtzeit da. Bei dem Album ging es darum, alles in Echtzeit einzufangen und nicht zu denken, das ist das Demo. Es geht nur um die Momente der Konzeption und schnell genug zu sein, um sie einzufangen. Das ist das Einzige, worauf das Studio ausgelegt ist: Geschwindigkeit.
Thematisch und in Anbetracht des Titels, inwiefern ist das Album ein Spiegelbild der Zeit, in der wir leben?
Alloysious: Nun, das ist spielt immer eine Rolle.
Kayus: Warte, was bedeutet “Heavy Heavy” für dich?
Ich denke da an das Gefühl von Schwere.
Alloysious: Das stimmt. Es gibt Elemente davon, aber es gibt auch eine kreative Seite, wenn man etwas zweimal sieht. Das nimmt einem die Schwere, die man empfindet. Wenn es nur “Heavy” hieße, hätte ich eine andere Konnotation, aber wenn du “Heavy Heavy” sagst, denke ich, dass es einen kreativen Weg gibt, den wir beschreiten wollten. Es ist ein spielerisches Element. Der Klang, der Sound, die Art und Weise, wie wir auftreten, all diese Dinge spielen miteinander. Diese Dinge verleihen dem Ganzen eine gewisse Tiefe und Kreativität, um etwas zu schaffen, zu dem man eine Meinung haben kann, die für mich, Graham und Kayus unterschiedlich sein kann. Wir lieben das. Wir mögen es, Dinge offen für Interpretationen zu halten. Manchmal möchte man einfach etwas Persönliches für sich behalten und das war’s. Wie bei jeder großen Kunst gibt es all diese Ebenen. Ich denke, das ist der Inbegriff von großer Kunst und etwas, an das wir glauben und hinter dem wir stehen.
Kayus: Der Grund für meine Frage ist, dass ich es interessant finde, dass die Leute “Heavy” auf unterschiedliche Weise sagen. “Heavy” kann sich auf Heavy Metal beziehen, aber wenn ich zum Beispiel jamaikanische Freunde “Heavy Heavy” sagen höre, ist das wie ein Zeichen der Anerkennung gemeint. “Heavy” im europäischen Sinne ist meist gewichtet und das spiegelt auch in unserer Musik wieder: Es gibt Momente, an dem es sich sehr dicht anfühlt. Wir mussten daran arbeiten, etwas zu schaffen, das fließt und hohe und tiefe Momente hat, die irgendwie zusammenpassen, damit es nicht zu viel wird. Weil: zu viel von etwas ist manchmal nicht so gut. [lacht] Also ging es darum, ein Gleichgewicht dazwischen zu schaffen. Wir alle leben auf dieser verdammten Erde und die Welt brennt. Wir alle wissen, wie es ist, verbrannt zu werden, und wir alle leben diese Erfahrung. Wir denken nicht allzu viel darüber nach, aber im Nachhinein manifestieren sich Elemente unseres individuellen Lebens in den Songs der Platte.
Wenn die Welt also eh schon brennt, warum nicht auch tanzen, richtig?
Alle: Ja!
Kayus: Auf dem Cover sieht es tatsächlich so aus. Das ist es! Wenn die Welt brennt, kannst du immer noch mit mir tanzen. [lacht]
Alloysious: Wenn ich untergehe, gehst du mit mir unter. Wir sitzen jetzt alle im selben Boot. [lacht]
Young Fathers spielten auf der Tour zu ihrem neuen Album “Heavy Heavy” unter anderem im Amsterdamer Club Paradiso. Wir waren vor Ort und konnten uns einen Eindruck von der außergewöhnlichen Performance der Schotten machen. Lest den Konzertbericht bei VISIONS+.