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The Breeders im Interview: Cheerleader aus der Hölle

The Breeders: 30 Jahre "Last Splash"

Cheerleader aus der Hölle
1993 reißt die Lawine Alternative Rock alles und jeden in der Musikwelt mit. Im Radio läuft Radioheads “Creep” rauf und runter, Nirvana dehnen die Grenzen des Grunge ganz nach ihrem Gusto. Dinosaur Jr. veröffentlichen mit “Where You Been” ihr erfolgreichstes Album in diesem Jahrzehnt, die Smashing Pumpkins feiern ihren Durchbruch, und sowohl die Cranberries als auch Belly stehen mit ihren Debüts in den Startlöchern. Mittendrin gedeiht “Last Splash”, das zweite Album der Breeders, wie ein Kürbiskern auf dem Kompost. Welche unwahrscheinlichen, dafür zahlreichen Zufälle diesen Nährboden bereitet haben, ergründet Juliane Kehr mit den Deal-Schwestern und Bassistin Josephine Wiggs.
The Breeders by K. Rector
Entspannt am Strand (v.l.): Kim Deal, Josephine Wiggs, Kelley Deal, Jim MacPherson (Foto: K. Rector)

Es ist Ende August 2023 und Kim Deal überlegt laut: “Was heißt nochmal Vulva auf Deutsch? Na, egal, jedenfalls hat Georgia O’Keeffe diese Blumenbilder gemalt, deren Form so aussieht, und am Wochenende haben wir auf diesem coolen kleinen Festival auf ihrer ehemaligen Ranch gespielt.” Die Breeders sind gerade erst zurück vom Blossoms & Bones Ghost Ranch Music Festival, wo sie unter anderem neben Japanese Breakfast, The Beths und Spoon aufgetreten sind. Das Festival findet statt in der felsigen Weite der Ghost Ranch, dem landschaftlich atemberaubenden Gelände von O’Keeffes ehemaligem Ranch-Sommerhaus in Abiquiú, New Mexico und ist benannt nach den Kunstmotiven der Pionierin der modernen Malerei.

Es ist ein Festivalthema, das gut zu den Breeders passt: O’Keeffe (1887-1986), die resolute Vorreiterin, die Blumen, geschwungene Landschaften und scharfkantige Schädel malte und Naturgewalten auf Leinwand bannte, war bekannt für ihre Schlagfertigkeit, Direktheit und Unabhängigkeit, aber auch für den Mut, zu ihrer Angst zu stehen. “Männer tun mich gern ab als beste Künstlerin unter den Frauen. Ich glaube aber, ich bin eine der besten überhaupt”, sagte O’Keeffe mal in einem Interview. Sie hätte sich wahrscheinlich sehr gut mit Kim Deal, Kelley Deal und Josephine Wiggs verstanden, wäre das Jahr ihres Todes nicht erst das Gründungsjahr gewesen von Kim Deals erster Band, den Pixies.

Nun sitzen die Deal-Zwillinge und Bassistin Wiggs (Schlagzeuger Jim MacPherson nimmt wegen einer Tour-Verpflichtung nicht am Interview teil) anlässlich des 30-jährigen Jubiläums ihres Erfolgsalbums “Last Splash” in Dayton, Ohio zusammen. Kim Deal spricht den Namen ihres Geburtsbundesstaates mit so viel gespieltem Bedauern aus, dass man sich vorstellen kann, in welchem Verhältnis sich Kultur- und Kuh-Dichte dort gegenüberstehen. Gleichzeitig ist Dayton die Basis der Breeders-Frontfrau und ehemaligen Pixies-Bassistin. Gleich die erste größere Summe, die sie mit den Pixies verdient, steckt sie 1990 in die Anzahlung eines Hauses in ihrer Heimatstadt.

“Kimankelley”

Die Eltern von Kim und Kelley Deal lernen sich in West Virgina kennen, der Vater hat deutsche Vorfahren, der Nachname der Familie entspringt dem deutschen “Diehl” und wird irgendwann im Laufe der Generationen der englischen Schreibweise angepasst. Als der Vater einen Job als Physiker an der Wright-Patterson Air Force Base annimmt, zieht die Deals nach Dayton, in die mit knapp 140.000 Einwohnern sechstgrößte Stadt Ohios, wo erst der Sohn Kevin geboren wird, dann der eineiige Zwilling “Kimankelley”. Ein Spitzname, den sich die beiden Schwestern selbst geben, zu hören in einem alten Telefon-O-Ton in der niederländischen Doku “The Real Deal”: “Hi Mom, hier ist Kimankelley. Wir haben da mal eine Frage an dich: Wer von uns beiden ist der vernünftigere Zwilling?” Das explosionsartige, dreckige Lachen der Mutter, das daraufhin minutenlang durch den Hörer schallt, haben jedenfalls beide Schwestern geerbt.

“In Dayton zu leben, war immer schräg”, sagt Kelley Deal in der Doku, aufgenommen 2002, als die Schwestern gerade in Los Angeles leben, “unser Humor war schräg, was wir aus Spaß so getrieben haben, war schräg, und die Musik, die wir mochten, war auch schräg. Wir haben nicht reingepasst.” – “Stimmt doch gar nicht, ich war ein Cheerleader, ich habe reingepasst!”, empört sich Kim daraufhin. Kelley erwidert trocken: “Ja, ein Cheerleader aus der Hölle” und fährt fort, dass sie als elf Minuten ältere Schwester unter dem Sandwichkind-Syndrom leide, während Kim, das absolute Nesthäkchen der Familie sei, “verwöhnt bis zum Abwinken, sie weiß das und sie liebt es.”

Schon Anfang der 90er während des Karrierehöhepunkts der Breeders werden die Deal-Schwestern nicht müde, in Interviews zu betonen, dass schlafende Kühe umzuschmeißen das Spannendste ist, was man in Ohio machen kann, und um überhaupt etwas von der heißen neuen Musik mitzubekommen, seien sie auf die Mixtapes einer Freundin aus Kalifornien angewiesen. 2023 scherzt Kim mit ähnlichem Unterton, als es um den Breeders-Hit “Cannonball” geht, den “most 1993 song of all time”, wie es in einem aktuellen Videobeitrag zu “Last Splash” heißt: “Ich habe mir das Mundharmonika-Mikrofon von meinem Bruder für das Intro geborgt. In Ohio hat man traditionell viele Brüder, die alle Mundharmonika spielen.”

Zweite Geige

Bevor aber von “Last Splash”, “Cannonball” oder auch nur den Breeders überhaupt die Rede sein kann, heiratet Kim Deal, die nach der Schule zunächst in einem medizinischen Labor arbeitet, nach nur einem Jahr Beziehung einen Arbeitskollegen, zieht zu ihm nach Boston und meldet sich dort auf die Annonce eines gewissen Black Francis, der für seine Band noch jemanden am Bass sucht: die Pixies sind geboren. Als 1988 das Debüt “Surfer Rosa” erscheint, steht Kim Deals Ehe kurz vor ihrem Ende. Ein Jahr später ist sie geschieden, und die Pixies legen auf Wunsch ihres Frontmanns nach dem zweiten Album “Doolittle” eine Pause ein, damit der auf Solotour gehen kann. Die Pixies-Bassistin sucht nach einem neuen kreativen Ventil für die Zwischenzeit, und Tanya Donelly von den Throwing Muses, die Deal auf einer gemeinsamen Tour kennenlernt, ist zeitgleich ebenfalls unzufrieden mit ihrer Rolle als zweite Geige neben ihrer Stiefschwester Kristin Hersh. Deal und Donelly gründen die Breeders. Deal wird diesen Schritt später simpel erklären: “Ich wollte einfach nur singen. Da es bei den Pixies nicht ohne Weiteres ging, brauchte ich eine andere Band dafür.”

1990 entsteht unter Steve Albini, der bereits “Surfer Rosa” mitproduziert hat, das Breeders-Debüt “Pod”, dessen Sound Deal in der Folge liebevoll als “The Bangles aus der Hölle” beschreibt. Kurt Cobain listet die Platte als eines der 50 Alben, die sein Songwriting beeinflusst haben und geht in einem Interview mit dem Melody Maker 1992 ins Detail: “Ich mag die Breeders vor allem wegen der Art, wie sie ihre Songs strukturieren. Ich wünschte, man würde Kim erlauben, mehr Songs für die Pixies zu schreiben, denn ‘Gigantic’ ist der beste Pixies-Song – und Kim hat ihn geschrieben.” “Pod” erscheint drei Monate vor dem dritten Pixies-Album “Bossanova” und beinhaltet bereits das Bassspiel der Britin Josephine Wiggs, die von ihrer Band A Perfect Disaster zu den Breeders stößt.

Kelley Deal
Foto: Scott Dudelson/Getty Images Entertainment/Getty Images

»Ich saß im Studiovorraum und habe genäht, während Jim und Kim Becken aus einem Fenster in der zweiten Etage geworfen haben.«
Kelley Deal über die Sessions zu “Last Splash”

Da Deal nun vorerst wieder mit ihrer Hauptband beschäftigt ist, Donelly aber Zeit hat und mit fertigen Songs für ein ganzes Album bereitsteht (ausgemacht war, dass Deal alle Songs des ersten Breeders-Albums schreibt und Donelly alle des zweiten), gründet Donelly kurzerhand ihre eigene Band Belly. Eine glückliche Fügung, denn das bedeutet das musikalische Comeback von “Kimankelley”: Schon zu Beginn der Pixies versucht Kim erfolglos, ihre Schwester als Schlagzeugerin mit ins Boot zu holen, jetzt muss sie nicht zweimal darüber nachdenken, wem sie den freien Posten in der Band anvertraut. Wiggs erinnert sich an die Ankündigung der neuen Breeders-Gitarristin: “Kim meinte: ‘Sie weiß zwar nicht, wie man Gitarre spielt, aber sie kann es lernen’.” Ein Umstand, der für den einzigartigen Sound des zweiten Breeders-Albums essenziell ist.

Als 1993 eine erneute Pause für die Pixies ansteht, gehen die Breeders für die Aufnahmen ihres zweiten Albums “Last Splash” in San Francisco ins Studio. Mark Freegard produziert das Album unter der Leitung von Kim Deal. Als neuer Schlagzeuger stößt Jim MacPherson dazu, der bis dahin in einer lokalen Band in Dayton trommelt. Kaum Teil der Breeders, muss er sich Deals Kritik stellen: Die Hi-Hat klinge zu neu, der Nachhall sei zu lang und damit für Deals Geschmack einfach nicht abgefuckt genug. Mit gerissenen Becken sei der Sound schon eher nach ihrer Vorstellung, teilt sie dem frisch gebackenen Breeders-Schlagzeuger mit. “Ich saß im Studiovorraum und habe genäht”, erinnert sich Kelley Deal, “während Jim und Kim Becken aus einem Fenster in der zweiten Etage geworfen haben, damit sie kaputter klingen.” Während der laufenden Aufnahmen ist es dann auch Kelley, die ihrer Schwester eine wichtige Botschaft überbringt, wie Kim sich in einem älteren Interview erinnert: “Ich habe ausgerechnet ‘Canonball’ aufgenommen, als Kelley kam und zu mir sagte: ‘Die Pixies sind aufgelöst.'”

In einem Interview mit BBC Radio 5 erklärt Black Francis Anfang 1993, die Pixies seien Geschichte und aufgelöst. Die anderen Bandmitglieder wissen zu diesem Zeitpunkt noch nichts davon, Gitarrist Joey Santiago gebührt immerhin die Ehre eines anschließenden Anrufs, die Rhythmusgruppe aus Schlagzeuger David Lovering und Kim Deal wird anschließend kurz und bündig via Fax über das Ende der Band informiert, nachdem die Nachricht bereits durch alle Medien gegangen ist.

Volltreffer

Damals sicher eine bittere Pille, sieht Kim Deal heute zufrieden aus, wenn sie sich daran erinnert, dass sie “ausgerechnet ‘Cannonball'” aufnahm, als das Ende ihrer damaligen Hauptband verkündet wurde, denn auch wenn sie es nie laut sagen würde: Die erste “Last Splash”-Single ist in ihrer unbedarften Experimentierfreude der Grundstein für einen Erfolg, den sich Black Francis für die Pixies nur hätte wünschen können. Nur ein Jahr nach seiner Veröffentlichung hat “Last Splash” Platinstatus inne und damit die Verkäufe aller Pixies-Platten zusammen übertroffen.

Um zu verstehen, wie Kim Deal ihre Songs strukturiert und schichtet, hilft es zu wissen, dass die Deal-Schwestern nach eigener Aussage eine Veranlagung zu Zwängen haben. So sieht man Kelley Deal auf der Tour des dritten Breeders-Albums “Title TK” backstage fast immer stricken. Ganze Kartons mit Garn hat sie dabei, um ihre Hände beschäftigt zu halten und Umhängetaschen zu fertigen, deren Riemen aus alten Gitarren- und Basssaiten bestehen. Außerdem spricht sie damals davon, bestimmte Zahlensummen zwanghaft im Kopf zerlegen zu müssen. Kim hingegen betrachtet ihr Arbeitsmaterial Musik auf teils obsessive Weise, zerlegt statt Nummern Songs im Kopf und jagt den Klangvorstellungen ihrer eigenen Stücke beinahe manisch hinterher. “Wenn Foreigners ‘Dirty White Boy’ läuft, muss ich den Raum verlassen”, gibt sie 2002 ein Beispiel und beginnt direkt aus dem Kopf mit der Analyse: “Ich weiß gar nicht, warum mich der Song so triggert. Könnte an der Snare-Drum liegen, der Keyboard-Groove ist eigentlich ganz gut. Das ist doch nicht schräg, dass im Kopf zu können”, wundert sie sich mit Blick Richtung Kelley, während die ältere Schwester sie maßregelt: “Die meisten Leute können das nicht im Kopf, du Idiotin.”

30 Jahre später erklärt eine ruhigere Kim Deal, wie sich eben diese Gabe positiv auf die Aufnahmen von “Cannonball” und letztendlich auch “Last Splash” im Allgemeinen ausgewirkt hat: “Es war nicht so, dass wir von vornherein alles komplett ausgeschrieben und choreografiert hätten, aber wir sind auch nicht traumwandlerisch ans Werk gegangen und haben uns dann gedacht: ‘Oh, wie ist das denn passiert?!’ Wir haben hart an diesem Song gearbeitet und am Ende etwas Gutes geschaffen.”

“Cannonball” beginnt mit einem Gitarrenfeedback und Kim Deal, die nach einem knappen “Check, check, check” in besagtes Mundharmonika-Mikrofon jault. Für den folgenden Schlagzeug-Einzähler spielt MacPherson Deal minutenlang verschiedene Rhythmen mit Drumsticks vor, bis schließlich einer dabei ist, der dem Sound in Deals Kopf entspricht. Wiggs’ ikonisches Bassintro beruht auf einem Verspieler, der den Song jedoch aufwertet, wie Deal rückblickend grinsend feststellt: “Josephine hat diesen Fehler gemacht, gleich zwei Mal und das wurde dann der Anfang des Songs. Es klingt so cool, wenn sie schließlich die richtige Note spielt und damit den ganzen Song auf eine neue Ebene anhebt. Später ist irgendwo noch ein Lacher von Jim drin, der war auch nicht geplant, aber auch der hat den Song nur noch besser gemacht. Und ich habe meine Akustikgitarre in einen Marshall-Verstärker gestöpselt. So hatten wir erst einen Folk-Sound und dann folgt massiver Lärm”, grinst sie und bewegt dabei die Hände in einer plötzlichen Geste auseinander, die den explodierenden, sich schlagartig ausbreitenden Sound darstellen soll.

Indie-Vibe

Die Entscheidung, “Cannonball” als erste Single zu veröffentlichen, trifft Kim Deal ohne viel Aufhebens, wie sie sich erinnert: “Es war nicht so, als hätte ich das damals lang und breit mit dem Label diskutiert. Ich habe im Grunde niemanden wegen irgendwas um Erlaubnis gefragt. Es herrschte insgesamt ein 80er-Vibe, und man hat einfach sein Ding gemacht. Vor allem bei einem Indielabel wie 4AD. Die haben zwar für unseren Kram bezahlt, aber uns deswegen noch lange nicht vorgeschrieben, was die Single sein soll.” Wiggs nickt zustimmend und macht zwei wesentliche Gründe für den Erfolg des Songs verantwortlich: “Zum einen liefen wir in der MTV-Sendung ‘120 Minutes’ hoch und runter, und der DJ hat meist den schrägen Anfang weggeschnitten und erst mit dem Schlagzeug kurz vor dem Bassintro eingesetzt, damit war der Song zugänglicher. Zum anderen war da das Video.”

Im Video rollt eine Kanonenkugel durch verschiedene Einstellungen, in denen die Band, teils in absurden Situationen, den Song performt. Es ist das Regiedebüt von Sonic Youth-Bassistin Kim Gordon, die gemeinsam mit dem späteren Starregisseur Spike Jonze (unter anderem Beastie Boys) hinter der Kamera steht. Jonze wird später neben zahlreichen anderen Auszeichnungen den Oscar für das Beste Drehbuch für den Film “Her” gewinnen, Gordon mit ihrer Autobiografie “Girl In A Band” Wellen schlagen.

1993 hat Jonze gerade mal eine knappe Handvoll Skateboard- und Musikvideos vorzuweisen und Gordon noch nie Regie geführt. Für Kim Deal absolut kein Grund, sie nicht anzufragen: “Kennst du den Sonic-Youth-Song ‘Kool Thing’? Ich mochte den Vibe und den Humor, den das Video ausstrahlt. Ich kannte Kim vorher nicht, hab sie aber daraufhin kontaktiert.” An die Dreharbeiten, vor allem eine Szene, in der Deal unter Wasser singt und die Kamera von unten filmt, erinnert sie sich mit einem stolzen Grinsen zurück: “Wir haben das gefilmt, indem ich kopfüber in einem Aquarium hing. Spike sagte vorher zu mir: ‘Ich habe das gestern in meiner Garage ausprobiert, das sieht fantastisch aus!” Beim Auftauchen habe ich den Kopf nach hinten geschleudert, um die Haare aus dem Gesicht zu kriegen und dabei flog mir ein ewig langer Rotzfaden aus der Nase, ich habe im Umkreis von einem Meter alle vollgesaut, das war super, aber so viel zu ‘Das sieht fantastisch aus.'” Nachdem sich alle die Lachtränen aus dem Gesicht gewischt haben, ergänzt Kelley: “Der visuelle Rahmen für den Song hat zum Erfolg beigetragen, weil die Leute ihn, selbst wenn er im Radio lief, mit den Bildern aus dem Video verbanden.”

Josephine Wiggs
Foto: David Wolff Patrick/Redferns/Getty Images

»Wenn man jung ist, und darum beneide ich junge FLINTAs nicht, ist man am Arsch. Es weht einem all diese sexistische Scheiße ins Gesicht, und das zu einer Zeit im Leben, in der man sehr verletzlich ist.«
Josephine Wiggs

Es ist ein chaotisches, aber auch bedächtiges Gespräch mit den drei weiblichen Mitgliedern der Breeders, bei dem sich ab und zu längere Denkpausen in die Erinnerungen von vor 30 Jahren mischen. Es scheint, als müsste das Trio erst nachspüren, wer es damals eigentlich war im Wirbel der Alternative-Rock-Szene. “Es hat sich neu und aufregend angefühlt, vor allem als dann Nirvana durch die Decke gingen”, versucht Wiggs die passenden Worte zu finden. “Die Shows waren elektrisierend auf eine Art, die ich seitdem nie wieder erlebt habe. Solche Konzerte gibt es heute nicht mehr.” Da sich Kurt Cobain als Breeders-Fan der ersten Stunde outet, begleitet die Band Nirvanas zweiten Teil der “In Utero”-Stadiontour als Hauptsupport. “Leute werden heute auf andere Art unterhalten”, sagt Wiggs. “Damals musste man eine physische Anstrengung unternehmen, um ein Konzert sehen zu können. Das war anders als einen Knopf zu drücken, um ein Konzert zu streamen.”

Für Nirvanas Lollapalooza-Auftritt im Sommer 1994 sind die Breeders als Special Guests eingeplant. Zum erneuten Zusammenspiel kommt es durch Cobains Tod im Frühjahr aber nicht mehr. Stattdessen hören die Breeders für den Rest der Tour vor jeder Show als Trauerritual den Nirvana-Song “All Apologies”. Kim Deal hält lange inne, bevor sie über Cobain spricht: „Kurt war ein Feminist. Das habe ich damals deutlich wahrgenommen, das ist nichts, was ihm erst rückblickend zugeschrieben wurde. Er war ein Botschafter für die LGBTQ-plus-Bewegung, auch wenn es all diese Bezeichnungen damals noch nicht gab. Kurt hat damit nicht nur kokettiert und rumgealbert – es war ihm ein wichtiges Anliegen. Überleg mal: Wir kamen geradewegs aus den 80ern mit all diesem Hair-Metal-Getue, die Kids fuhren auf Warrants “Cherry Pie” ab. Das Problem an dieser Musik ist aber, dass sie kaum interessante Rollen für Frauen zu bieten hat. Das war davor anders, man nehme nur den Jazz der 30er und 40er Jahre, aber speziell die 80er gaben in der Hinsicht nicht viel her.”

Albumformat

Es scheint, als sickert den Deal-Schwestern und Wiggs erst bei der Aufzählung all der Epochen wieder ins Bewusstsein, dass stattliche 30 Jahre vergangen sind, seit “Last Splash” wie ein Wirbelwind durch die Alternative-Szene gerauscht ist. Wiggs seufzt: “Manchmal fühle ich das, spüre jedes einzelne dieser 30 Jahre und jeden einzelnen Tag davon in den Knochen, und dann gibt es wieder Tage, an denen fühlt es sich an, als wäre gar keine Zeit vergangen, an denen man sich fragt, wo die Zeit eigentlich hin ist.” Da stellt sich die Frage, wie man ein Album, dass so stark in einem Szenekontext verhaftet ist, heute entdeckt. Wieder findet die Breeders-Bassistin zuerst die Worte: “Es ist wichtig, die Platte als Ganzes zu hören.” Kim Deal widerspricht: “Echt? Das mache ich nie mit anderen Alben, ich hör nur die Songs, die mir gefallen, die meisten Platten haben doch nur eine gute Seite”, gibt sie, mit dem Vinyl-Format vor dem inneren Auge, zu bedenken. “Stimmt”, sagt Wiggs, “aber nicht diese Platte. Jeder einzelne Song hat etwas Spannendes in sich, das den Zuhörenden über die anderen Songs informiert. Man versteht das Sonderbare an ‘Cannonball’ besser, wenn man auch die anderen Songs hört. Hört man nur ‘Divine Hammer’, sagt das rein gar nichts darüber, was das Album ist und welchem Genre es zugehört.”

In der Tat könnten die einzelnen Songs, die Surf-Gitarren in “No Aloha”, die Metal-Anleihen in “Roi”, das poppige “Divine Hammer” und die Country-Einflüsse in “Drivin’ On 9” (einem Cover der Ed’s Redeeming Qualities) unterschiedlicher nicht sein. Für das Intro von “S.O.S.” etwa stöpselt Kelley Deal ihre Nähmaschine in einen Gitarrenverstärker. Es ist diese Mischung, das kalkulierte Chaos, in das sich die Breeders zu keinem Zeitpunkt in ihrer Karriere reinreden lassen und das Künstlerinnen wie Courtney Barnett, Bully oder The Linda Lindas heute dazu veranlasst, die Breeders als wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten musikalischen Einfluss zu nennen.

Es ist bekannt, dass Kim Deal Fragen zu den Pixies nerven, weil sie sie hunderte Male zuvor gehört hat. Immerhin antwortet sie nie gehässig oder feindselig. In jedem Interview der vergangenen 30 Jahre – wobei sie von 2004 bis 2013 selbst zum Reunion-Lineup gehört – wünscht sie ihren ehemaligen Bandkollegen nur Gutes. In den Texten auf “Last Splash” allerdings finden sich subtile Seitenhiebe, die den Frust, den Deal damals gefühlt haben muss, auf eine kreative Ebene transportieren. So kann man “I Just Wanna Get Along” durchaus als Abrechnung mit dem egozentrischen Black Francis lesen: In dem aus gutem Grund von Kelley gesungenen, aber von Kim geschriebenen Song, kommt beinahe unschuldig die Frage auf: “If you’re so special, why aren’t you dead?”, nach der Lesart: Wenn nur die Besten jung sterben, warum lebst du dann noch?

Generell sind die Texte der einzelnen Songs aber eher fragmentarischer, oft kryptischer Natur. Ein weiterer Grund vielleicht, weshalb sich Kurt Cobain so zu Kim Deals Songwriting und den oft verdrehten Inhalten hingezogen fühlte. So nennt sie vor Jahren, gefragt nach dem Thema in “Cannonball”, als Inspiration den gewaltpornografischen Romanautor und posthumen Namensgeber des Sadismus: Marquis de Sade. Kelley habe eine Biografie des umstrittenen Franzosen gelesen und sie, Kim, habe sich einen Spaß daraus gemacht, ein imaginäres Gespräch mit ihm zu führen: “Ich sagte ihm: ‘Du kleiner Scheißer, du kommst in die Hölle, und ich bin dir dicht auf den Fersen’.” So seien Zeilen entstanden wie: “Spitting in a wishing well/ Blown to hell, crash/ I’m the last splash/ I know you, little libertine/ I know you’re a real cuckoo.” Inwieweit diese Erklärung tatsächlich zündender Funke des Textes war oder ob Kim Deal die Geschichte im Nachhinein als passenden Überbau gedichtet hat, lässt sie offen. Wo bliebe denn sonst der Spaß beim Hören? Aufgenommen wurde der Gesang des Songs passend dazu im Herrenklo des Studios, das laut Kim eine bessere Akustik hatte als das Damenklo.

Gänsehaut

Nun ist es eine Sache, wie Frauen in den alten und neuen Unterarten des Rock dargestellt werden oder, im Fall der Breeders, wie sie sich selbst darstellen. Eine komplett andere Sache ist der Alltagssexismus, der den drei Musikerinnen entgegenschlägt, die sich in der Selbstwahrnehmung auf der Bühne so wenig als weiblich wahrnehmen wie Georgia O’Keeffe beim Malen, eine Chirurgin bei Eingriffen oder eine Pilotin beim Fliegen. So empört sich Kim Deal 1993 in einem Interview mit dem französischen Metal Express: “Neulich hat mich ein Journalist ernsthaft gefragt: ‘Ich verstehe ja, dass ihr als Frauen im Mittelpunkt stehen wollt, aber muss es denn mit so einer lausigen Band wie den Breeders sein?’ Als ob wir nur für die Aufmerksamkeit eine Band gründen würden. Der konnte sich echt nicht vorstellen, dass wir vielleicht einfach Gitarrensounds lieben und eine Gänsehaut bekommen, wenn in der Mitte des Songs auf einmal ein geiler Akkordwechsel kommt.”

Foto: Scott Dudelson/Getty Images Entertainment/Getty Images

»Die Musikindustrie nimmt sich immer noch, was sie kriegen kann, und übervorteilt dafür den verletzlichsten Teil ihrer Mitglieder.«
Kim Deal

Heute sieht der weibliche Teil der Breeders das Thema gelassener, und obwohl jede von den dreien eigene Belästigungsgeschichten erzählen kann, winkt Kim Deal ab: “Klar, wir können alle unsere eigenen Berührungspunkte mit Misogynie erzählen, aber das ist doch langweilig, das will doch keiner lesen.” Die offen lesbisch lebende Wiggs ergänzt: “Das Ding ist: Wenn man jung ist, und darum beneide ich junge FLINTA*s nicht, ist man am Arsch. Es weht einem all diese sexistische Scheiße ins Gesicht, und das zu einer Zeit im Leben, in der man sehr verletzlich ist, weil man noch nach einer Identität sucht – und die auch durch Bestätigung von außen aufbaut. Im Alter verschwindet das glücklicherweise.” Da stimmt Kelley Deal zu: “Je älter man wird, desto mehr scheißt man darauf und nimmt diese Leute entsprechend nicht mehr wahr. Sie finden einfach nicht mehr statt.”

Diese Erkenntnis heißt jedoch nicht, dass sich die Breeders nicht dafür interessieren, wie es um den Zustand der Welt und die FLINTA*s darin steht. In einem Interview zum noch aktuellen Album “All Nerve” (2018) wird Kim Deal mit den Worten “Frauenfeindlichkeit ist das Rückgrat der Musikindustrie” zitiert. Auch fünf Jahre später sieht sie wenig Veränderung: “Ich stehe immer noch zu 100 Prozent hinter diesem Satz. Soll ich dir erklären warum?”, holt sie aus: “Zunächst: Ja, ich bin der Meinung, dass Dinge wie die #metoo-Bewegung das Thema in den Mittelpunkt gerückt haben, und ich finde, das hat auch etwas gebracht. Der Umgang miteinander ist erwachsener geworden. In der Werbung sieht man das, aber eben nicht in der Musikindustrie. Man bedenke nur, wie Künstler:innen immer noch um ihre Musikrechte betrogen werden. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Die Musikindustrie nimmt sich immer noch, was sie kriegen kann, und übervorteilt dafür den verletzlichsten Teil ihrer Mitglieder.” Für einen kurzen Moment überlegt Deal, dann fährt sie fort: “Die ganze Idee dieser sexy Rockmusik, da geht es doch nur darum, wie man eine Attitüde am besten zu Geld machen kann, nicht mehr um den Geist der Musik selbst. Und die Basis, auf der dieses Gerüst steht, nennt sich Misogynie. Sie ist immer noch da und erstreckt sich in alle Bereiche des Lebens. Es gibt immer noch eine massives geschlechtsspezifisches Lohngefälle, um ein weiteres Beispiel zu nennen. Sorry, Leute, schweife ich zu weit ab?”

Alle anderen Anwesenden unterbrechen ihr zustimmendes Nicken kurz, um vehement den Kopf zu schütteln, denn abzuschweifen ist genau der Punkt. Es ist das Erfolgsrezept der Breeders von vor 30 Jahren, die mit “Last Splash” einen feuchten Dreck darauf geben, was normal ist und lieber ihre kurzweiligen, schrägen Songs mit Spitzen versehen und durch alle Genres wildern. Die mit “Cannonball” einen Hype erfahren, der ihnen völlig egal ist, diesen Cheerleadern aus der Hölle. Und es ist mehr noch das Credo der Breeders von heute, deren Karriere gerade mal fünf Alben in wechselnder Besetzung umfasst, dafür aber zahlreiche andere Bandprojekte wie The Amps und glücklicherweise erfolgreiche Entzüge der Deal-Zwillinge, die sich bis Anfang respektive Mitte der 2000er mit Alkohol (Kim) und Heroin (Kelley) selbst therapieren und offen mit diesen Schwächen umgehen. Das fällt dann allerdings wieder in Kims Kartei der “langweiligen Geschichten”.

Viel spannender ist doch, schweift sie kurz darauf erneut ab, während wir uns eigentlich schon verabschiedet hatten, dass nun eine Reihe von Konzerten in den USA ansteht, bei denen die Breeders “Last Splash” in voller Länge spielen werden, mit all den schrägen Sounds, die das Album ausmachen: “All diese interessanten, verrückten kleinen Dinge müssen wir jetzt wieder auf die Bühne bringen”, freut sich Kim Deal, als ihr ein Gedanke kommt: “Kelley, wir machen das mit deiner Nähmaschine bei ‘S.O.S.’ Ich habe mir überlegt, dass wir das vorher aufnehmen und dann abspielen.” Kelley unterbricht aufgeregt: “Ja, daran habe ich schon gearbeitet, das machen wir auf jeden Fall.” Dann scheint Kim plötzlich einzufallen, dass die Band gar nicht im Proberaum ist, und sie sammelt sich noch ein letztes Mal: “Du siehst also, wir müssen Sachen sampeln, die Violine etwa auf eines meiner Gitarrenpedale legen und lauter solche Sachen. Und natürlich”, grinst sie schließlich vorfreudig, “bringe ich auch das Mundharmonika-Mikrofon mit.”


Dossier: Women To The Front
Weiblich gelesen

Inhalt

  1. The Breeders: 30 Jahre "Last Splash" – Cheerleader aus der Hölle
  2. Essay: Das sogenannte Frauenspecial – Finger in die Wunde
  3. Im Porträt: Johanna Bauhus – Optimismus als Katalysator
  4. Essay: Das Pseudo-Genre – Female fronted is over
  5. Interview: Miki Berenyi – Die Nettigkeitsfalle
  6. Im Porträt: Linda Dağ – »Technik-Talk langweilt mich«
  7. Geschlechtergleichheit bei Musikevents – Es regnet Männer
  8. Im Porträt: Marga Glanz – »Wir spalten uns auf«
  9. Interview: Bush Tetras – Nicht beirren lassen