Am Ende sind es die Außenseiter, über die alle reden. Zerre nennen sie sich, kommen aus Würzburg und haben eine Woche vor ihrem Auftritt auf dem Desertfest ihr Debütalbum “Scorched Souls” veröffentlicht. Außenseiter sind sie, weil Zerre Death-Thrash spielen und damit die einzige Band im Line-up sind, die das tut. Ihre Songs bewegen sich zwischen klassischem, teutonischem Riff-Gebolze und einer frischen Duftmarke à la Power Trip. Die fünf bayerischen Buam trumpfen mit einer Band-Shirt-Galerie auf, die keine Wünsche offenlässt: Misfits, Slayer, Faith No More, Mastodon und King Gizzard im Metallica-Font. Es folgt: Moshpit, Crowdsurfing, Headbanging und Fans im Publikum, die willig mit ins Mikro keifen. Es ist die Abreibung, die nötig ist – und die dabei hilft, das Desertfest 2024 zu einem der eklektischsten bisher zu machen.
Ein schwülwarmes, gewittriges Wochenende steht Berlin bevor. Schutz vor der Sonne und vor dem Regen, der vor allem am Freitag spät runterkommt und Samstag für einen Regenbogen und dramatische Lichtstimmungen am Himmel sorgt, bieten die zwei Hallen, in denen im Wechsel aufgetreten wird. Jan Korbach hat seine Mama am FOH-Pult platziert, weil er mit seiner Post-Metal-Band Neànder das Columbia Theater in Verzückung versetzt. Denn: Neànder verstehen es exzellent, ihre drei Gitarren einzusetzen und zwischen enormen Melodiekaskaden und noch enormeren Riffs zu wechseln. Da schleichen sich beim zwölfminütigen Finale “Atlas” Blastbeats ein, und am Ende spielt Korbach seine Akustikgitarre direkt ins Gesangsmikro, während das Publikum im Rhythmus klatscht. Der Freitag ist heavy mit den belgischen Weltuntergangspropheten Amenra als Headliner. Das Tagesprogramm hält da mit, liefert Black und Death von Praise The Plague und Thronehammer. Die sattesten Riffs haben jedoch Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs gepachtet. Die haben sich mit ihren drei Alben zwischen 2018 und 2023 und den dazugehörigen Touren einen guten Ruf in der Szene erspielt. Der sympathische Auftritt in der Arena Berlin beim Desertfest 2022 war das Aha-Erlebnis.
Sänger Matthew Baty – wie immer barfuß und in kurzen Sportshorts – macht Schattenboxen auf der Bühne und ist mal wieder sehr kommunikativ, erzählt, dass sich Bassist John-Michael Hedley (ebenfalls barfuß) kürzlich in Las Vegas hat trauen lassen – von Elvis. Vor allem aber sind alle komplett durch, denn am Vortag ist der Van abgeraucht und sie mussten sich “two ridiculous cars” ausleihen, um es zur Show nach Berlin zu schaffen. Touren eben, eine nie versiegende Quelle an Problemen, die es zu lösen gilt. Hinter der Bühne springt bereits Gussie Larkin in einem silberglänzenden Outfit rum. Sie und Schlagzeuger Ezra Simons stammen aus dem neuseeländischen Wellington und sind mit ihrer Band Earth Tongue zum vierten Mal in Europa auf Tour. Und mögen die beiden irgendwie cute und nerdy aussehen: Ihre Duo-Attacke aus Garage Rock und Doom ist überraschend düster und grimmig.
Während der Regen vor allem nach Amenra zuschlägt und so manchen auf dem Heimweg kalt erwischt, knallt am Samstag wieder die Sonne auf den zentralen Außenbereich zwischen den Hallen. Hier wird gegrillt, es gibt Kässpätzle, Fritten, Burger, Pizza-Slices of Doom und Indisches. Im Wechsel beschallen DJs den Platz, es gibt Freakshow-Acts und täglich eine Band auf der Außenbühne. Am Samstag sind das Heckspoiler aus Oberösterreich, die sich selbst als „High Gain Bass & Drums Action Rock Maschine“ beschreiben. Schlagzeuger Andreas Zelko – im Rollkragenpulli – stellt nach drei Action-Rock-Songs fest: “Is’ scho’ sauheiß heut’.” Sorgen muss man sich um seinen Partner Thomas Hutterer machen, dessen Pullover noch viel dicker ist – und der beim Mundart-Singen in der prallen Sonne ausschaut, als würde ihm gleich der Schädel platzen. Bei Zahn singt niemand. Das Trio aus Berlin mischt auf der Bühne Kraut, Post-Rock und Noise – und spielt maschinell präzise, ist atmosphärisch und statisch mit weißen Neonröhren ausgeleuchtet. Gitarrist Felix Gebhardt hat seinen Sohn Elmo mitgebracht, der Papas altes Country-Projekt Home Of The Lame zwar lieber mag, ihm bei der Gitarreneffektakrobatik trotzdem gespannt vom Sitzplatz am Bühnenrand zuschaut.
Der musikalische Kontrast von Zerre, die um 21:30 Uhr ihr Set beenden und Arthur Brown, der zur gleichen Zeit auf die Hauptbühne geht, könnte kaum größer sein. Die Euphorie, mit der beide Acts anstecken, hält sich jedoch die Waage. Arthur Brown hat 1968 mit “Fire” und seiner Vorstellung “I am the god of hellfire” den Okkultrock erfunden. Das Album “The Crazy World Of” blieb das einzige in der Besetzung, und so ganz von der Hand zu weisen ist es nicht, dass Brown ein One-Hit-Wonder ist. Aber: Was für eines! Brown ist jetzt 81 und versammelt ein kurios kostümiertes Trio um sich. Er selbst wechselt alle drei Songs das Kostüm, trumpft mit neonfarbenem Make-up und Paillettengewändern auf. Doch all der optische Bombast, der die Show eher zu einer Revue macht, übertüncht nicht die Tatsache, dass Brown immer noch eine bemerkenswerte Range hat, dass er so soulig klingen kann wie ein Marvin Gaye und so croonig wie ein Scott Walker. Beim großen Hit an vierter Stelle steht seine Kopfbedeckung in Flammen, wobei ihm seine Frau assistiert. Am Ende hüpft Brown befreit über die Bühne – im Ringelrein mit den Kollegen. Dieses lebende Fossil zaubert nicht nur ein Lächeln ins Gesicht, sondern auch eine Wärme ins Herz. Das Hellfire brennt noch immer.
John Dwyer sagt, dass er sich freut, die Bühne nach einer Legende betreten zu dürfen. Die Band ist direkt aus Amsterdam gekommen und macht den Linecheck auf der Bühne. “It’s always a pleasure in Berlin”, sagt Dwyer, der mit den Osees regelmäßig vorbeikommt. Nur in der Columbiahalle noch nicht. Große Bühnen beherrscht die Band mit den zwei Schlagzeugern am vorderen Bühnenrand aber sowieso. Die Garage-Psych-Experimental-Maniacs ballern sich durch eine Wundertüte an Songs. Irres Punk-Hackepeter gibt es zu Anfang mit wie aus der Pistole geschossenen Noise-Kaskaden. Herausstechend sind – wie gewohnt – die Hits “Toe Cutter – Thumb Buster” und “Nite Expo”. Zwischendurch ist Dwyer gewillt, dem tobenden Publikum beizustehen. Nur kommt sein Sprung von der Bühne derart überraschend und riskant, dass sich Dwyer im Anschluss entschuldigt und die junge Frau aus der ersten Reihe fragt: “Are you okay?” Ist sie. Und weiter geht die Sause, in deren Verlauf Dwyer für seine Bandkollegen Bier aus dem Backstage holt und die Kronkorken mit dem Feuerzeug im hohen Bogen über die Bühne schießt, am Ende seines Gitarrenkabels leckt oder es über das Becken kratzt. Noise zwischen jazzigem Freakout und messerscharfer Präzision.
Am Sonntag geht es entspannter los, geradezu klassisch. Die Night Beats um Danny Lee Blackwell fügen dem Desertfest eine herzlich willkommene Dosis R’n’B, Blues, Surf und Soul hinzu, eingewobenen in den von einer wasserdichten Rhythmusgruppe getragenen und einer verhallten Gitarre dominierten Garage Rock. Blackwell wirkt sehr ernsthaft, in sich gekehrt. Seine zwei Mitstreiter und er sehen aus, als wären sie aus den USA der frühen 70er hierhin teleportiert worden. Um das Bild zu vervollständigen, touren sie selbst durch Europa in einem alten US-Van. Blackwell hat in seinen Sound längst auch Cumbia bis zu anatolischem Funk und Tuareg Rock aufgenommen – lässt diese Elemente jedoch heute vornehmlich weg. Für den Tuareg-Rock sind eh Tamikrest um Band-Leader Ousmane Ag Mossa aus Mali verantwortlich. Mossa macht seine Ansagen auf Französisch, hält aber fest, dass er etwas Deutsch kann: „Alles gut, alles klar.“ Genau das ist es. Der “wahre” Desertrock verführt mit Polyrhythmen zum Tanzen in die Trance. Da wird auch schon mal mitgeklatscht.
Um Tamikrest herum positionieren sich heute Abend vornehmlich Kollegen aus der kalifornischen Wüste. Nick Oliveri und sein Mondo Generator sind da. Mit denen reist er musikalisch mal in seine Hardcore-Punk-Jugend, mal besucht er das Erbe seiner alten Band Kyuss in Form einer ultrabrutalen Version von “Allen’s Wrench, “Supa Scoopa And Mighty Scoop” und – zum Finale – “Green Machine”. Dazwischen lässt Oliveri – der offensichtlich seinen shit wieder together hat – anmerken, dass es da mal ein Projekt namens Kyuss Lives! gab, bis die Typen in den Anzügen und mit den Krawatten kamen und ihm Fesseln angelegt haben. Diesem Rechte-Debakel widmet er den Song “Kyuss Dies!”. Auch so geht Therapie. Sein Songportfolio und seine manische Performance – Motörhead-Stoner? – hat auf jeden Fall mehr Esprit als der notorisch relaxte Brant Bjork und sein Trio, das vor allem damit besticht, dass Desertrock-Godfather Mario Lalli den Bass spielt.
Mag Lalli auch der Pate sein, so ist Chris Goss der Elder Statesman des Stoner. Er hat sich einst Kyuss als Produzent angenommen, um sie auf “Blues For The Red Sun” so klingen zu lassen, wie sie es live tun. Er hat den Queens Of The Stone Age ihren Namen gegeben. Goss selbst hat sich als übergroßer, quasi mystischer Bandleader mit seinen Masters Of Reality inszeniert. Mittlerweile ist er ein gebrechlicher Mann von 64 Jahren, der auf einem Stuhl in der Mitte der Bühne sitzt und verschmitzt anmerkt, dass er 5.000 Meilen aus der Wüste angereist ist, um auf dem Desertfest zu spielen. “The Blue Garden” vom 88er Debütalbum läutet das Set ein. Goss hat zu seiner Rechten einen verlässlichen Kollegen: Alain Johannes, treuer Kooperationspartner für Szene von Joshua Tree bis Palm Desert. Das neue Stück “S.U.G.A.R.” ist ein musikalischer Sonnenaufgang in der Wüste. Johannes hat daran und der bald folgenden Masters-Platte mitgearbeitet. Mitgeschrieben hat er auch “Hangin’ Tree” von “Songs For The Deaf”, der sich hier und heute vollkommen legitim einfügt. Das bluesige “Ants In The Kitchen” kommt auch diesmal nicht ohne das liebgewonnene Mash-up mit Don Nix’ “Going Down” aus. Und weil so viele Bekannte mit dabei sind, darf Nick Oliveri zum letzten Stück mit auf die Bühne und das punkige “Time To Burn” singen, während Goss mit doppeltem Mittelfinger die Haltung des Songs transportiert.
Das Finale gehört jedoch dem Doom-Kobold Bobby Liebling und Pentagram. Es stand das Gerücht im Raum, dass es Lieblings letzter Besuch sein könnte. Liebling ist 70 und muss sich glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein. Doch kurz vor dem Festival wird klar: Liebling ist just von Heavy Psych Sounds gesignt worden und wird sein zehntes Album seit 1984 dort veröffentlichen. Jetzt gibt es zum großen Finale 13 Songs aus dem Back-Katalog, bei denen Liebling im Glitzerfummel und schwarzer Schlaghose auf Plateauschuhen wie ein 70s-Rumpelstilzchen über die Bühne stöckelt, sich mal ein Luftgitarrenduell mit seinem Gitarristen liefert, mal manisch blickend das Publikum ins Visier nimmt. Ein tragischer, zwiespältiger Charakter. Eine Legende, aber auch jemand, dessen Zeit abzutreten längst gekommen ist.