Donnerstag, 18.01.:
Traditioneller Tatort in Sachen Musik ist der Plattenladen Plato. Ab dem frühen Nachmittag und bis abends spielen hier in rascher Taktfolge die vornehmlich rockigen Bands des ESNS unter dem Motto “Platosonic”. Um 17:50 Uhr auch die in den Niederlanden gegründeten, aber nach Hamburg verzogenen Get Jealous, die ihren eigentlichen Auftritt tags zuvor absolvierten. Hier, einige Stufen über den Plattenregalen und den Köpfen der Anwesenden, dreht das Trio zwischen Pop-Punk und Power-Pop mit seiner berüchtigten Spielfreude 20 Minuten lang frei. Beim letzten Song legt Frontperson Otto ihre Gitarre nieder und kraxelt munter ins Publikum. Dating-Herzscheiße wird hier mit Bühnenaction charmant verquickt. js
Güner Küniers Wurzeln sind in Izmir, aufgewachsen ist sie in Flensburg und angereist aus ihrer Wahlheimat Berlin. Im unattraktiven Betonklotz Mutua Fides steht sie allein auf der Bühne, hinter einem Keyboard, auf dem der Laptop den Rhythmus vorgibt, den Künier mit krachenden Hallschleifen aus ihrer Gitarre garniert. Als würde PJ Harvey in Drone Rock machen – bloß um dann und wann in motorischen Anatolian-Disco-Funk abzubiegen. Das Dröhnen lässt Küniers Equipment derart vibrieren, sodass mitten im Song ihr Laptop vom Keyboard fällt – exakt im Break stoppt der Rhythmus. Unbeeindruckt stellt Künier die Elektronik wieder auf, murmelt “excellent timing, though” und spielt weiter. js
Im architektonischen Wunderwerk Forum um die Ecke tritt im Rabostudio Betterov auf. In Berlin füllt er mittlerweile die Columbiahalle. Aber es hat Tradition, dass bereits populäre deutsche Bands und Künstler*innen sich in Groningen einem internationalen Publikum stellen. Mag Betterov auch auf Deutsch texten – die Musik seiner Band nährt sich aus Editors, Kings Of Leon, Killers und Springsteen. Nach zwei Songs gibt es von Manuel Bittorf eine Ansage auf Englisch: “It’s not common for us to play abroad. And to speak English.” Danach hängt er sich eine Gitarre um, und es wird lauter. Ein unsichtbares Keyboard dickt den Sound mit Harmonien an – und wenn Bittorf kein Plektrum halten muss, dann dirigiert er sich und seinen Gesang mit dem rechten Arm. js
Tramhaus umgibt in den Niederlanden ein regelrechter Hype: In den Plattenläden in Groningen stehen ihre Singles dieses Wochenende besonders weit vorne und im Kult-Club Vera wurden die Rotterdamer*innen vollmundig zur besten Live-Band 2023 erkoren. Jetzt prangt ihr Name dort an der Wand, direkt neben Bands wie Idles und Parquet Courts, von dessen Sound Tramhaus nicht allzu weit entfernt sind. Den dürfen sie dieses Jahr allerdings im großen Saal des Huize Maas präsentieren – doch werden sie hier dem Hype kaum gerecht. Einzig bei Lukas Jansen, dem schlaksigen Sänger und Richard-Ashcroft-Lookalike, sitzen die ekstatischen Bewegungen, die den stoischen Post-Punk nach vorne peitschen sollen. Seine Band steht allerdings komplett statisch da. Zu weiten Teilen wirkt Jansen verloren auf der Bühne, der Sound ist wenig bissig. Bald dürfen sie im Post-Punk-Mekka, dem Windmill Pub in Brixton, spielen. Hoffentlich fühlen sich die Niederländer*innen in einer Kneipenatmosphäre dann wieder mehr in ihrem Element. jss
Während der letzten paar Lieder von Tramhaus machen sich La Élite aus dem katalanischen Lleida warm. Lange brauchen sie nicht. Wahrscheinlich war sogar keine der oft akribisch vorbereiteten Bands schneller mit dem Soundcheck fertig. Synthie und Soundboard von David Burgués sind im Handumdrehen aufgebaut, und Nil Roig in Trainingsanzug und Fischerhut blökt nur ein paar Mal ins Mikro, bevor er später oben ohne und mit schneller Brille zu rasantem Synth-Punk vom Band über die andere Bühne im Huize Maas hechtet. Allein musikalisch hat das schon Unterhaltungswert: Als würden Pisse die Instrumentals für Sleaford Mods aufnehmen und Ska-P singen lassen. Doch die Spanier verstehen sich vor allem als Entertainer: Neben Roigs spaßigen Ansagen gibt es reichlich Airhorns, ein passend für die Niederlande ausgewähltes Meme-Sample des “Ok, let’s go”-Jungen und einen Geburtstagsburger, den Burgués von seinem Kollegen geschenkt bekommt und über die ganze Show hinweg genüsslich verspeist, während er einhändig Synthie spielt. Steile These: Auf keinem ESNS-Konzert wurde am Donnerstagabend so ausgelassen getanzt – und mitgefilmt. jss
Um kurz vor 1 Uhr nachts stellt sich eine deutsche Band mit niederländischem Namen dem All Round: Iedereen. Beim Soundcheck singen Schlagzeuger Ron Huefnagels und Gitarrist Tom Sinke den Refrain von “GKO” noch auf deutsch – für den Auftritt haben sie den Song (und später noch einen zweiten) ins Niederländische übersetzt. Sinke ist halber Niederländer, das funktioniert also. Im Hintergrund laufen über eine Digitalanzeige Text-Häppchen und freundliche Ansagen in drei Sprachen. Das ist simple, aber herzliche Völkerverständigung. Überhaupt haben Iedereen das Herz am rechten Fleck. Davon zeugen ihre Texte. Ihrem Song “Chauvi” schiebt Sinke ein “scheiß Chauvinismus” nach und richtet sich zwischendurch mit “Thanks for being here in quality and quantity” ans feiernde Publikum. Dazwischen zerlegen die beiden den Laden mit ihrem stürmischen Indie-Punk, der zwischen Japandroids und Wipers/Wire/Devo oszilliert. js
Freitag, 19.01.:
Generell lohnt es sich in der Poolbar All Round zu einer Show vorbeizuschauen. Am früheren Freitagabend aber besonders: Dort spielen nämlich Batbait aus Zürich und bauen ihre ungewöhnlich langen Garage-Punk-Songs über mehrere Minuten auf. Eile haben sie nicht, während sie konzentriert auf ihre Instrumente gucken und dabei in die zärtlichen Indie-Psych-Sphären von Warpaint aufsteigen, nur um das alles wieder einzureißen und so auszurasten wie etwa 24/7 Diva Heaven. Auch wenn die Performance nicht sonderlich hängenbleibt, tun es doch die fetten Peter-Hook-Basslines und der noch fettere Drumsound, sowie die einigermaßen unkonventionellen Songstrukturen abseits ausgetretener Pfade. jss
Es hat ein bisschen was vom Musikvideo von “Teenage Dirtbag”, wie Wahl-Londonerin Vanilla Jenner alias Viji und ihre Band zumindest modisch die frühen 2000er zurückholen. Aber auch klanglich wildert die Songwriterin bei Avril Lavigne und ähnlichem Pop, versenkt diesen aber in reichlich verzerrte Gitarrenmelodien und Shoegaze-Flächen. Gerade mit ihrer Band überzeugt das, denn Vijis sleazy Pop-Punk-Grunge mag zwar im Schlafzimmer entstanden sein, gehört mit seinen Fuzz-Ausbrüchen Richtung Sonic Youth aber definitiv auf die Bühne. Entdeckt wurde Viji bereits: von Labelchef und Post-Punk-Produzent Dan Carey, der schon Fontaines D.C. unter seine Fittiche genommen hat. jss
Als “Noise & Depressed Band” beschreiben sich W!zard auf ihrer Bandcamp-Seite. Und während man noch überlegt, ob diese Beschreibung grammatikalisch Sinn ergibt, legt das Trio aus Bordeaux im legendären Vera einen Spagat aus progressivem Alternative, Post-Hardcore, Noise und Garage Rock hin. Dazwischen basteln sie an einer Dance-Nummer mit Wave-Beat. Der letzte Song erinnert ein wenig an Mclusky, “it’s called ‘Junkie Sociopath'” und ist weder Teil des 2018er Debütalbums noch der Nachfolge-EP von 2021. Zum Finale kraxelt der sonst so breitbeinig agierende Sänger und Bassist Romain Arnault etwas unbeholfen auf seinen wackelnden Amp. Ex-Dillinger-Escape-Plan-Gitarrist und berüchtigter Bühnen-Stuntman Benjamin Weinman hätte geschmunzelt. js
University aus England versetzen schon mit ihrem Soundcheck im Vera jede andere (Rock-)Band in Schockstarre. Den Song, den sie für ihren Linecheck durchprügeln, wirkt wie das furiose Finale eines wahnwitzigen Konzerts: jazzige Blastbeats untermalen einen waghalsigen Mix aus Emo, Mathrock und Black Metal. Was soll da beim Auftritt noch kommen? Nun: mehr davon. Aber mit dem Bonus, dass zwischen den drei Musikern ein Typ mit schwarzer Skimaske auf einem Stuhl sitzt und Games zockt, um zwischendurch dem Publikum die auf Din-A4-Zettel gekritzelten Songtitel zu offenbaren. Etwa: “History Of Iron Maiden Part 2” – gefolgt von “Part 1”. Wenn der 21-jährige Schlagzeuger nicht gerade hyperaktiv-intuitiv auf sein Set einprügelt, dann macht er Raum, um seiner Band den grimmigsten Doom-Breakdown zu ermöglichen. Komplett abgefahren. js
Erst kürzlich widmeten wir uns in unserem großen Global-Beat-Special Yin Yin aus Maastricht. Wie sehr das Phänomen zumindest in Groningen angekommen ist, erkennt man im Simplon, wenn die sieben Niederländer heute die Veröffentlichung ihres Albums “Mount Matsu” feiern und die Möglichkeiten südostasiatischer Musik für den Dancefloor ausloten. Gerade der elektronische Aspekt bekommt live noch mal deutlicher mehr Platz eingeräumt, als auf Platte, und Yin Yin geben sich als echte Party-Band mit knallenden Beats, dickem Bass-Sound und Bongosolos. Wenn sie sich in den ausufernden Songs nicht gerade selbst ins All befördern, ist die komplett gefüllte Halle in Bewegung. Eine beachtliche Leistung für das tendenziell hüftsteife ESNS-Publikum. jss
Ebenso beachtlich: der Auftritt von Plié aus Litauen. Der sechsköpfige Experimental-Mahlstrom ist eine dieser Bands mit Potenzial, den Laden leer zu spielen. Nicht umsonst fragt Sänger Matas L. in knappen Ledershorts und Sonnenbrille “Do I scare you?” in die lichten Reihen. Pliés glitchy Noiserock mit zwei Saxofonen hat tatsächlich eine erschreckend brutale Energie, in der Songs nur noch entfernt zu erkennen sind. Am ehesten kann man es mit einer Vertonung der krudesten Bilder von Hieronymus Bosch vergleichen – oder irgendwas zwischen Ditz, Black Midi und Swans. Plié wollen nicht gefallen, doch genau das macht es so interessant. Wer auf der Suche nach einem neuen extremen Sound ist, ist hier genau richtig. Alle anderen werden vermutlich keine zwei Songs durchhalten. jss
Dass Heave Blood And Die keine gewöhnliche norwegische Metalband sind, haben sie schon mehrfach unter Beweis gestellt. Längst haben sie den garstigen Doom ihrer Anfangstage abgestreift und loten seitdem aus, was zwischen der Elegie des Post-Rocks und rauem Post-Punk alles möglich ist. Auch auf der Bühne hat die immer noch junge Band aus Tromsø für Klischees wenig übrig. Bassist und Sänger Karl Pedersen trägt Ralph-Lauren-Hemd, das nach wenigen Songs klitschnass ist und Co-Sängerin Marie Sofie Langeland Mikkelsen dreht am Synthie in der Mitte der Bühne sowieso frei: selbst bei den behäbigeren Songs grinst sie in die Menge, springt herum, und animiert das Publikum. So tonnenschwer wie der Sound vor ein paar Jahren kommt die Performance allerdings nicht mehr rüber: Heute stehen die treibenden Songs des kürzlich erschienen “Burnout Codes” im Fokus, bei denen der Doom-Anteil nur noch durch Synthie-Melodien durchblitzt, die an ein Dungeon-Level in einem alten Videospiel erinnern. Heave Blood And Die gehen dabei so ab, dass Pedersen permanent blinzelt, weil ihm der Schweiß in Augen rinnt – und auch der Rest ist am Ende nicht weniger aus der Puste. jss