Ich fühle mich für einen Augenblick emotional in meine Teenager-Zeit zurückversetzt. Der Gang durch die Menge ist ein ständiger Rückblick auf längst vergangene Sommertage, in denen ich die Vans Warped Tour verfolgte. Dank all der Emo- und Punk-Band-T-Shirts aus dieser Zeit, der typischen Hardcore-Szene-Tattoos, aber vor allem wegen der Kameradschaft und des Lachens, die den Ton für einen unglaublichen Abend angeben, erinnere ich mich an die guten alten Zeiten. Ich hätte Stunden damit verbringen können, Leute im Biergarten zu interviewen, die besten Geschichten und Anekdoten zu sammeln, um ein ganzes Magazin zu füllen. Der kollektive Geist dessen, was wir als “Punk” definieren, ist nicht tot, und diese simple Tatsache ist ein Segen für meine Seele.
Ich stehe in der Mitte des Saals auf der rechten Seite. Das ist mein bevorzugter Platz, da ich im Laufe der Jahre durch Lärm, Rückkopplungen und laute Verstärker langsam mein Gehör verliere. Aber ich fühle mich definitiv nicht taub, als die Vorband die Bühne betritt, loslegt und mit emotionaler Kraft mitreißt. Normalerweise informiere ich mich nicht über die Support-Bands, um Vorurteile zu vermeiden und gespannter zu sein. Ich frage mich also sofort: “Wer ist dieser Typ?” Während seines Auftritts erwähnt er bescheiden: “Hallo zusammen, mein Name ist Nate Bergman, ich komme aus den USA. Ich lade euch ein, näherzukommen, damit wir Freunde werden können.” Ich bin nicht der Einzige, der denkt, dass seine aufrichtige Stimme uns alle bereits zu Freunden gemacht hat.
Phantom Bay folgen kurz darauf. Es ist nie leicht für die nächste Band, wenn der erste Support schon so hervorragend abgeliefert hat und das Publikum vor allem mit Spannung auf den Hauptact Thursday wartet. Denn wegen dem haben wir uns schließlich alle hier an diesem Juniabend versammelt. Ich kenne die Jungs nicht, also frage ich die besonders enthusiastische Gruppe neben mir. Mein Englisch entlarvt mich an diesem Ort als Tourist, aber da ich mich in einer Punkrock-Umgebung befinde, bin ich eine besondere Attraktion. Man erklärt mir, dass es sich um eine “lokale Band” handele. Die Verwendung dieses Begriffs hasse ich in jedem Land der Welt. Ich weiß, dass es weder abwertend noch in irgendeiner Weise respektlos gemeint ist. “Aber sie wurden von einem der Thursday-Jungs für alle ihre deutschen Termine ausgewählt, also müssen sie großartig sein”, fügte einer meiner neuen Freunde schnell hinzu. Sobald sie die Bühne betreten, brauchen sie keine weiteren Erklärungen mehr. Diese Jungs meinen es ernst auf eine umfassende Art und Weise: Tight, schnell, melodisch, und sie bieten gerade genug Dynamik, um mich für ihr ganzes Set bei der Stange zu halten. Der einzige Wermutstropfen für mich ist, dass ich ihren Austausch mit dem Publikum nicht verstehen kann. Also musste ich mich auf die Reaktion des Publikums verlassen. An diesem Abend haben Phantom Bay viele neue Fans gewonnen.
Ich habe Nate noch draußen getroffen, und wir haben uns eine Weile unterhalten. Zufälligerweise ist sein Vater aus Montreal, wo ich herkomme. Was ein Zufall. Er erzählt mir, wie wichtig es für ihn ist, ein Gespür für den Moment zu entwickeln und sich spontan auf die Reaktionen des Publikums anzupassen, anstatt immer wieder die gleichen Sprüche und Bühnentricks zu verwenden: “Emotionen lassen sich nicht definieren, nicht kontrollieren. Sie sind persönlich und intim, aber wenn man echt und ehrlich ist, kann man sich mit jemandem aus dem tiefsten Inneren verbinden. Aber dazu muss man sich selbst entblößen. Das ist die größte Herausforderung. Es ist leichter, zu unterhalten, als sich zu öffnen.”
Als es Zeit ist für Thursday ist die Venue richtig voll. Die glücklichen Gesichter beweisen, dass alle bereit sind für etwas Besonderes – und wir werden nicht enttäuscht. Die nächsten 75 Minuten sollen eine beeindruckende Abfolge von Selbstaufgabe, totalem Loslassen und purem Engagement sein. Eine augenblickliche klangliche Vereinigung vom ersten Akkord von „Workforce“ bis zur letzten anhaltenden Verzerrung in „Paris In Flames“. Obwohl ich nicht an den Fähigkeiten von Thursday zweifele, was ihre Energie und Musikalität angeht, bin ich immer skeptisch gegenüber jeder plötzlichen Wiedervereinigung von Bands, die aus der gefühlt letzten goldenen Ära des Punk hervorgegangen sind – vor allem, wenn sie keine neue Platte veröffentlicht haben. Jeder hat Rechnungen zu bezahlen, das verstehe ich, aber das ist nur meine Sichtweise. Wie auch immer: Die Band klingt nicht nur harmonisch, man kann auch ihre Freude auf der Bühne spüren. Die Geschichten, die sie zwischen den Songs erzählen, sind so zahlreich wie tiefgründig. Die Songs werden eindeutig mit einer neuen Perspektive geteilt – sogar mit einem neuen Gefühl der Dankbarkeit. Sänger Geoff Rickly führt das zum Teil auf seine seit sechs Jahren andauernde Nüchternheit zurück, was nichts weniger als ein großartiger Grund ist, sich lebendig und beschwingt zu fühlen.
Als die Menge zum Ausdruck bringt, wie stolz sie ist, dass Rickly seine Süchte bewältigt hat, schlägt die Fröhlichkeit in Jubel um. Vor allem, als er verkündet, dass die Band erst vor wenigen Tagen einen neuen Song in den legendären Berliner Hansa-Studios aufgenommen hat. Ein lang gehegter Traum, der in Erfüllung geht und schließlich den Weg für ein mögliches neues Album im Jahr 2025 ebnen könnte.
Das Konzert ist ein glückliches Familientreffen, das in den vollen Partymodus übergeht und die Bandmitglieder lachend und grinsend auf der Bühne zurücklässt. Als Thursday die Zugabe ankündigen, ist das Publikum nicht mehr zu bändigen. Eine perfekte Performance von Thursdays Klassikern „Velocity”, “War All The Time” und “Paris in Flames”. Was mir fehlt, ist mein All-Time-Favorite “Counting 5-4-3-2-1”. Platz dafür wäre in dem 75-minütigen Set noch gewesen. Ich bin in die Kantine gekommen, in der Hoffnung, eine Art von Nostalgie zu erleben. Ich habe sie verlassen mit dem schwirrenden Gefühl einer völlig neu geschaffenen Gemeinschaftshoffnung. In meinem Fall ist das eine ziemliche Leistung. Um es mit den Worten von Geoff Rickly zu sagen: “Heute Abend fühlt es sich gut an, am Leben zu sein!”
Bearbeitung: Liane Paasila, Jan Schwarzkamp