Wolfang Rumpf
“Rock-Geschichte”
LIT Verlag
Jeder kennt diese merkwürdigen Rocklexika aus der Stadtbibliothek, die allgemeinverständlich und knapp die Musikgeschichte Revue passieren lassen und zu jeder Band genau die Worte finden, die für Kenner zu oberflächlich und für Neulinge gerade so brauchbar sind. In diese Sparte ließe sich Wolfgang Rumpfs “Rock-Geschichte” einordnen, die auf 304 Seiten nicht nur durch den Rock rast, sondern auch Soul, HipHop, NDW und im Grunde die ganze Popgeschichte zu fassen kriegen will. Dass ihr dabei die Rechtschreibung durch die Lappen geht, wäre mit viel Toleranz gerade noch hinzunehmen; dass auch sachliche Fehler mit munterer Selbstverständlichkeit in den Raum geworfen werden, nicht. So tendiert Rumpf dazu, gerade bei den Themen, die er eher aus Pflichtgefühl abhandelt, schlampig vorzugehen, sei es, dass er Dr. Dre in eine Aufzählung von HipHop-Bands (!) einfügt, Jochen Distelmeyer mit “ie” schreibt oder Peter Maffay unterstellt, er hätte seinen Hit “Über sieben Brücken musst du gehen” bei den Puhdys geklaut. Auch, wenn es sich für einen VISIONS-Redakteur nicht geziemt, das zu wissen: Maffay klaute bei Karat.
All diese Fehler sind nur Indizien einer allgemeinen Unausgegorenheit dieses Buches, das mit einer sinnigen Reflexion darüber schließt, wie Musikjournalismus aussehen sollte, diese selbst aber nicht einlöst. Rumpf mischt eine scheinbar objektive Übersicht über die Epochen mit persönlicher Meinung, die nicht originell-polemisch, sondern eher gönnerhaft daherkommt. Der modernen Popkritik unterstellt Rumpf, “scheinbar intellektuelle” Bands wie Tocotronic und Blumfeld pauschal schönzuschreiben, weil man Angst habe, sich andernfalls als unterbelichtet oder reaktionär zu outen: ein Mechanismus, den es ganz sicher gibt, dessen Benennung hier aber nur dazu dient, Rumpfs eigenes Ressentiment zu legitimieren. Der ist eher der Meinung, dass es Hosen wie Ärzten auf vergleichbarem Niveau (!) gelangen sei, den Geist von Punk und NDW glaubhaft weiterzuspinnen oder dass der kompromisslose Männerkult des Metal zwar macho-haft, aber richtig war, wehrte man sich doch gegen die Aufweichung der Musik zum Radiofutter; die Leitunterscheidung “original/aufgeweicht” ist ihm ohnehin eine liebe Schablone.
Anzurechnen ist ihm, dass er in seinem Temporitt von Elvis bis Cobain einen Großteil des bekannten Kanons skizziert und massiv komprimieren kann, was aber auch bedeutet, dass dieses Buch allenfalls für Menschen einen Wert besitzt, die sich bislang noch überhaupt nicht mit der Rockgeschichte befasst haben. Alle anderen dürften schon von Elvis Hüftschwung und der rebellischen Bedeutung des Rock’n`Roll, der Dichotomie Beatles/Stones oder der einschlagenden Wirkung des Punk gehört haben. Das “Kritische” beschränkt sich neben seiner suggestiv in die naiven Leserköpfe geschmuggelten persönlichen Meinung auf eine altväterliche “Kinder, es war gar nicht so”-Attitüde: Etwa, wenn er erklärt, dass die so gegensätzlich wahrgenommenen Beatles und Stones sowohl gemeinsam musizierten als auch Stilistiken abseits ihres Images drauf hatten. Oder, wenn er uns klar macht, dass von Punk bis HipHop jede Richtung und Subkultur denselben Gesetzen des Marktes und der Mode gehorchte und Rebellion spätestens seit der Etablierung der Musikindustrie nur noch als Verkaufsargument diente.
Und genau da steckt der große Ärger: Wäre es ihm mit diesem Widerspruch ernst, müsste er in seiner Geschichte gerade auf die Sub-, Gegen- und Indie-Kulturen eingehen, denen es wirklich ernst damit war, ökonomisch und künstlerisch ihren eigenen Weg zu gehen. “Indie” jedoch, als Konzept wie als Stilrichtung, fehlt beim ihm völlig. Grunge, Cobain und Punk werden als tragische Helden oder clevere Provokateure innerhalb des großen Spiels abgehandelt; zur substanziellen Bedeutung der Underground- und DIY-Kultur, zu SST oder Dischord, Fugazi oder Sonic Youth, Pavement oder Bad Brains, Hardcore oder “Antipop” kein Wort. Statt dessen eine erneute Zementierung des altbekannten Rock-Kanons mit leiser Liebe zum “Authentischen” und Bodenverhafteten, die ihre Spitzen da findet, wo Campino als Persönlichkeit mit Zuneigung überschüttet, das “Gewitter” der Neubauten aber nicht verstanden wird. Macht ja nichts, da man denen, die es einst als Gegenentwurf lobten, ja einfach unterstellen kann, einem pseudo-intellektuellen Betrug auf den Leim zu gehen, den man selbst süffisant durchschaut.
304 Seiten, Taschenbuch
18,80 Euro
ISBN 3-8258-9094-5
Steven Johnson “Die Neue Intelligenz”
Kiepenheuer & Witsch
Von ganz anderem Kaliber ist da Kulturoptimist Steven Johnson, dessen “Neue Intelligenz” im amerikanischen Original “Why The Bad Things Are Good For Us” hieß. Plausibel, charmant und erfrischend räumt er mit dem Vorurteil auf, dass Videospiele, TV-Serien oder sogar Trash-Fernsehen die Generationen mehr und mehr verdummten und belegt das genaue Gegenteil. So wuchs sowowhl die Komplexität der Spiele als auch der TV-Angebote in den letzten Jahrzehnten rasant und stellt die teils sehr jungen Menschen vor Anforderungen, denen sie in der Schule fleißig ausweichen würden. Eifrig studieren die Kids 200 Seiten lange Handbücher zu Rollenspielen oder strategischen Simulationen, machen sich bei “Sim City 2000” Gedanken über die Wirkung einer Steuererhöhung oder simulieren in Online-Welten ganze parallele Lebensentwürfe in aller zu bedenkenden Komplexität. Hatten die TV-Serien der 80er Jahre gerade mal ein bis zwei parallele Handlungsstränge, fädelt eine moderne Thriller-Reihe wie “24” ein anspruchsvolles Plot-Geflecht auf, das zudem nur oberflächlich von Terror, in Wirklichkeit aber von Vertrauen und Misstrauen handelt. IQ und EQ kommen hier gleichermaßen auf Touren, was Johnson partiell sogar dem modernen Trash-Fernsehen zuschreibt. Eine Show wie “Big Brother” ist in der Interaktion der Bewohner und der “fast schmerzhaft” echten Gefühlsausbrüche reines EQ-Training und verhält sich zu den Game Shows der 80er wie “Die Sims” zu “Pac Man”. Johnson entlarvt die “Argumente” der Kulturpessimisten als Ressentiments, denen der richtige Blickwinkel fehlt. Wo ist die “Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne” bei Spielen wie “Die Sims”, “Black & White” oder gar “Grand Theft Auto”, deren Reiz gerade darin besteht, überhaupt erst mal herauszufinden, wie ihre Welt funktioniert? Warum feiern gerade Film-Trilogien wie “Der Herr der Ringe” Erfolge, deren Figuren- und Kultur-Arsenal ein mythologisches Studium erfordern? Warum lieben die vermeintlich dummen Menschen Serien wie “Seinfeld” oder die “Simpsons”, die auf komplexen popkulturellen Querverweisen aufbauen oder eine Pointe über fünf Jahre aufbauen, wenn Folge 235 sich auf einen Gag aus Folge 1 bezieht? Wird bei “Seinfeld” eine Folge rückwärts erzählt, so dass die Pointe vor dem Witz kommt oder im Medium Internet ganz selbstverständlich mit Hypertext hantiert, sind damit einst als avantgardistisch bewertete Formen in die Alltagskultur eingegangen. Macht man sich in Videospielen Gedanken über Ökonomie, Strategie, Berechnungen oder die richtige Staatsführung, lernt man ganz nebenher mehr über den Aufbau der Welt, als früher denkbar gewesen wäre. Da liegt dann auch die wichtigste Pointe des Buches: Wo man “Intelligenz” klassischerweise mit “Bildung” gleichsetzt, kann kein Videospiel dasselbe leisten wie ein “Faust”, denn seine Handlung ist meist banal. Schaut man sich aber an, was es formal vom Spieler verlangt, fördert es eine “neue Intelligenz”, die in keinem Bildungskanon auftaucht. Die Frage nach der Moral wiederum betrifft die Inhalte der neuen Spiel- und TV-Kultur und wird hier nicht gestellt. Ein überaus konsequentes und kluges Buch, das Kontroversen auslösen sollte.
240 Seiten, Taschenbuch
8,95 Euro
ISBN 3-462-03663-7