“Ein bisschen hat man mir in der Redaktion den Stempel ‘Prog’ aufgedrückt. Falsch, sag ich immer, es gibt reihenweise Bands aus dem Bereich, die ich ganz grässlich finde, wie in jedem anderen Genre. Tool sind da zwar außen vor, aber innige Liebe sieht anders aus. Ich bin kein Tool-Apologet, nein, ich habe auch nicht sehnsüchtig auf ein neues Album gewartet. Dafür wirkte schon ‘10,000 Days’ von außen auf mich zu sehr wie Kinderspielzeug und gefallen hat mir nur die erste Hälfte bis einschließlich ‘The Pot’. An der ersten Hälfte von ‘Fear Inoculum’ gefällt mir kaum etwas. Suite oder keine Suite, die Dreiviertelstunde kann man sich sparen. Ab ‘Culling Voices’ wird es spannender, heraus sticht ‘7empest’, ein episches, extrem befriedigendes Stück Prog-Metal. Macht unterm Strich anderthalb brauchbare Songs. Zu solchen hätte man auch die Interludes verarbeiten können, das wäre vielleicht eine bessere Idee gewesen, als am trockenen Sound festzuhalten und komplizierte Fingerübungen in die Länge zu dehnen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Tool, das sind vier Könner, die ihre künstlerische Vision wenig kompromissbereit verfolgen. Davor habe ich Achtung, und ‘Fear Inoculum’ als abendfüllendes Ganzes wird sicher noch wachsen. Nur nicht mehr so hoch wie früher.”
Martin Burger
“Nach 13 Jahren war ich müde, leer, gleichgültig in Sachen Tool: Ich wollte dieses Album einfach hinter mich bringen – was sollte da 2019 noch kommen außer ein paar bestenfalls okayen Selbstkopien? Und dann erwischt es mich noch im ersten Song von ‘Fear Inoculum’ plötzlich kalt: Was für eine unfassbare Band das noch immer ist! Die vertrackten Rhythmen, die progressiven Song-Ungetüme, der melodisch-angespannte Gesang… alles, was mir vor bald 20 Jahren den Mund offen stehen ließ, entwickelt erneut seinen Sog. Der Rest sind verschwommene Momentaufnahmen aus dem ersten Durchlauf dieser Platte: Statt Hits gibt es konzentrierte Klangarchitektur, die man als Hörer durchschreitet wie Jahreszeiten. Sechs Songs und ein Interlude in 80 Minuten sind auf dem Papier pure Selbstherrlichkeit, haben tatsächlich aber genug für ihre Überlänge zu bieten. Die Gitarrenarbeit von Adam Jones hat sich nochmal entwickelt. Tool bauen Synthies ein, und es stößt nicht unangenehm auf. Am Ende steht eine gute Nachricht: ‘Fear Inoculum’ bietet nicht mehr das zornige Feuer von ‘Aenima’ oder die mathematische Urgewalt von ‘Lateralus’, dafür aber eine reifere, überlegtere, dezent luftigere Version von Tool, dank der man sich als Fan nach all den Jahren noch einmal neu in die Band verlieben kann.”
Dennis Drögemüller
“Bisherige Highlights: ‘Pneuma’ alias ‘Schism Vol. 2’ und die ersten zehn Minuten von ‘7empest’. Die Dreiviertelstunde dazwischen hat mich in den zwei kompletten Durchläufen, die ich bisher geschafft habe, sehr unterwältigt. Tool klingen genau wie vor 20 Jahren. Und was damals wahnsinnig einflussreich war, haut heute doch höchstens die treuesten Fans vom Hocker. Fortgeschrittene Musikmathematiker müssen nur bis sieben oder acht plus sieben zählen können, um den Code von ‘Fear Inoculum’ zu knacken, und das gleichbleibende, langsame Tempo macht es einem dazu noch einfach. Adam Jones’ Gitarrensolos sind weder dienlich noch fordernd und die ‘Bonus-Instrumentals’ der digitalen Version ziehen das Album mit Synthesizer-Spinnereien wie dem ‘Litanie Contre La Peur’ nochmal zusätzlich unnötig in die Länge. Ich bin mir sicher, dass ‘Fear Inoculum’ noch wachsen kann, weil es darauf nette Feinheiten und Synergien gibt, die sich einem erst nach längerer Zeit erschließen. Wären Tool aber nicht so ein wichtiger Name und das Album nicht das am meisten erwartete der jüngeren Musikgeschichte, hätten viele bessere Releases die Aufmerksamkeit mehr verdient.”
Gerrit Köppl
“Tool-Alben sind eigentlich nicht für einen Ersteindruck gemacht, auf diesem hier begegnet einem aber immerhin direkt viel Vertrautes. Zu viel? Das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Es entbehrt jedenfalls keiner Ironie, dass ausgerechnet Maynard die Arbeit über Jahre aufgehalten hat – sein Anteil am großen Ganzen ist dem ersten Höreindruck nach zu urteilen eher der Geringste. Gleichzeitig hab’ ich Bock auf die nächsten Durchläufe. Denn mit jedem werden sich ein paar Türen mehr öffnen.”
Dennis Plauk
“Nein, Fear Inoculum ist nicht das ‘Chinese Democracy’ des Prog-Metal, aber ein Anachronismus, der nach einer maximal langen Aufmerksamkeitsspanne verlangt: 85 Minuten, jeder der sechs richtigen Songs ist länger als zehn Minuten. Nichts ist hier für nebenbei. Es gibt aber auch wenig, an dem man sich festhalten kann, etwa Refrains oder Melodien, die wiederkehren. Stattdessen Abwechslung in epischen Ausmaßen, die Taktzähler reihenweise in Verzweiflung stürzen werden. Für alle anderen haben Tool hier so viele Toolismen aneinandergereiht, dass man meint, es mit einer Tool-Coverband zu tun zu haben. Aber was passiert auf der emotionalen Ebene? Die hat die Band für mich bislang immer aus dem Elfenbeinturm des Prog herausgeholt. Der Schmutz von ‘Aenima’? Weggespült vom Klimawandel. Die Verzweiflung und Wut von ‘Undertow’? Über die Jahrzehnte verloren gegangen. Stattdessen spielen Tool virtuos, aber eben auch reichlich selbstverliebt mit jenem Gut, das über die vergangenen 13 Jahre immer knapper geworden ist: Zeit.”
Florian Schneider
“Ich bin nicht der Typ, der Tool religiös verehrt, sie ganz oben auf ein Podest stellt und dann jede andere Band an ihrer vermeintlichen Genialität misst. Deshalb war meine Erwartungshaltung ‘Fear Inoculum’ gegenüber auch äußerst ausgeglichen. Entweder die Band veröffentlicht noch mal ein Album – oder eben nicht. Mir relativ egal. Schon ‘10,000 Days’ hat mich nicht mehr so mitgerissen, wie die drei Alben davor. Tool büßten darauf viel von ihrer Unberechenbarkeit ein. Es gab keine wirklichen Überraschungen mehr wie all der Wahnsinn, der zwischen den Zeilen von ‘Aenima’ stattfindet. Dafür wurden die Songs immer länger. Auf ‘Fear Inoculum’ haben Tool komplett vergessen, wie man kürzere Songs schreibt. Jedes der sechs Stücke geht über zehn Minuten – außer ‘Chocolate Chip Trip’, dessen Titel noch das Beste an dem Synthie-Schwurbel-Drum-Solo-Konstrukt ist. Justin Chancellor fand es erwähnenswert, dass ‘7empest’ eine Grundidee hat, die über 21 Takte geht: Ist das jetzt ein Gütesiegel – oder nur ein Streich besessener Nerds? Und zählt das wirklich jemand nach? In den 13 Jahren, in denen Tool vor allem durch Stillstand von sich reden machten, ist viel passiert. Ganze Legionen von Post-Rock- und Post-Metal-Bands haben das Laut/Leise-Schema bis in die totale Belanglosigkeit ausgereizt. Amenra, Russian Circles, Cult Of Luna, Deafheaven: Sie alle haben mehrfach bewiesen, dass die Welt sich auch ohne Tool problemlos und spannend weiterdreht. Warum Tool nun da weitermachen, wo andere längst waren, ist merkwürdig. Ihre neuen Songs brauchen eine Ewigkeit, um sich zu entwickeln – und werden meist erst in der letzten Minute wirklich spannend, endlich rasanter und lauter. Davor gibt es Malen nach Zahlen, hübsch inszenierte, gut klingende, halbwegs vertrackte Prog-Rock-Elegien, denen der Dreck und die Dringlichkeit der frühen Alben fehlt, die mitreißenden Ausbrüche, die emotionalen Eskapaden. Tool waren schon immer gut geölt, doch jetzt sind sie vollends zur Maschine geworden, der ein Stück weit die Seele abhanden gekommen ist. Dabei beweist ‘7empest’, dass es auch anders geht – ein Song, den Maynard James Keenan fast bis zum Ende mit seinem Gesang begleitet, anstatt bei Minute sieben oder acht den Rest des Songs den Instrumentalisten zu überlassen. Es ist auch ein Song, in dem es schon früh laut wird, in dem wirklich was passiert, anstatt dass circa fünf Minuten für den Aufbau verplempert werden. Was man vom wahnsinnig teuren CD-Packaging halten soll, ist zudem fraglich. Umweltbewusst ist das in China zusammengelötete Konstrukt ganz gewiss nicht – aber dafür dürfte es einen weiteren Grammy für ‘Best Recording Package’ geben.”
Jan Schwarzkamp