“Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst/ Weil du alles hier versäumst/ Und genau so soll das sein (so soll das sein/ so macht das Spaß)/ Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/ Kannst dich gar nicht mehr bewegen”: Diese Zeilen stammen vom Brachialpoeten Till Lindemann. Er beschreibt damit, wie schön es ist, sich an schlafenden Frauen zu vergehen, sprich: sie zu vergewaltigen. Denn wer schläft, kann kein Einverständnis geben.
Verteidigt hat der Autor seine Zeilen mit dem Lyrischen Ich. Doch dieses Ich hat nun gehörig Risse bekommen, nachdem zahlreiche Frauen endlich den Mut gefasst haben, ihr Schweigen zu brechen. Youtuberin Kayla Shyx hat es in einem 37-minütigen Clip zusammengefasst, hat sich bemüht, Aussagen zu bündeln, Details zu sammeln, zu erklären, wie es so weit kommen konnte. Eventuell immer wieder gekommen ist. Seit wer weiß wie lange schon. Von einem “offenen Geheimnis” in der Branche wird gemunkelt.
Die Musikbranche war noch immer gut darin, unschöne Dinge geschehen zu lassen und zu verschleiern. Ob es die minderjährigen Gespielinnen von Led Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page waren, das Grooming, um Michael Jackson mit kleinen Jungs zu versorgen oder die weitverbreiteten Machenschaften um R Kelly. Wer viel Erfolg hat – und damit auch viel Macht und viel Geld –, kann dazu neigen, die Situation auszunutzen, zu missbrauchen. Warum sollte das bei Till Lindemann und Rammstein jetzt anders sein?
Sicher: Es gilt die Unschuldsvermutung. Doch weil der Frontmann des Multimillionen-Unternehmens Rammstein es sich leisten kann, hat er eine namhafte Anwaltskanzlei eingeschaltet. Die droht damit, rechtliche Schritte gegen vermeintliche Verleumder:innen einzuleiten. Das kann im Zweifel dazu führen, dass Veranstaltende, potenzielle Opfer und andere Zeug:innen, die noch haderten, aus dem Schatten hervorzutreten, lieber weiterschweigen.
Wer setzt sich auch freiwillig einem tobenden Mob loyaler Fans aus, die sich in blindem Automatismus mit den potenziellen Tätern solidarisieren, anstatt den Opfern Glauben zu schenken? Dieses System ist leider furchtbar falsch. Und es gehört vernichtet. Sorgfältig und nachhaltig mit einem Täter nach dem anderen. Ob es nun Harvey Weinstein oder Jeffrey Epstein sind, Jesse Lacey von Brand New oder Ian Watkins von Lostprophets, Marilyn Manson oder Dave Kelling von Culture Abuse.
Die Macker – und ja, es sind meistens Männer, die sich am lautesten krakeelend mit den Tätern sozialisieren – würden wahrscheinlich ganz anders reagieren, wenn ihre Töchter, Freundinnen oder andere ihnen nahestehende Frauen betroffen wären. Aber solange alles schön abstrakt und fern von der eigenen Lebensrealität ist, kann man es super negieren, nieder machen, anzweifeln. Auch das ist ein System, das zerstört gehört.
In der Causa Lindemann handelt es sich erschwerenderweise um Rammstein, den großen Goldesel, die erfolgreichste deutsche Band weltweit. Mit der kann und darf es das ja jetzt nicht gewesen sein. Die Band bezahlt schließlich viele Gehälter, vergoldet ihr Label und ihre Booking-Agentur. Da drücken alle gemeinsam gerne gleich zwei Augen zu. Band und Crew anscheinend schon seit Jahren, die Würstchenparty will schließlich weiter im Geldspeicher planschen. Keyboarder Flake skizziert es humorvoll in seinem Buch “Heute hat die Welt Geburtstag”, wie Lindemann mit Frauen und Fans satt saufend steil geht, hinter verschlossenen Klotüren geschnieft wird. Rockstar-Verhalten eben. Und es mag sein, dass sich der Rammstein-Rest aus den – vermutlichen – Hinter- und Hotelzimmer-Spielchen von Lindemann und seiner hopplahopp gefeuerten Zuarbeiterin Alena Makeeva rausgehalten hat, aber: gänzlich an ihnen vorbeigegangen sein kann es nicht.
Wenn sich auch nur ein einziger der Vorwürfe gegen Lindemann bestätigen sollte, dann ist es beschämend, dass niemand aus Band und Crew das Rückgrat besessen hat, diesen Machenschaften ein Ende zu setzen, oder wenigstens dem System irgendwie die Stirn zu bieten, mit dem Ende oder dem Ausstieg aus der Band zu drohen. Und das ist der eigentliche Skandal an dieser Sache: dass sie alle schweigen, sich jetzt eilig hinter dem Schutz ihrer Anwälte verstecken. Denn dass Lindemann sich selbst eventuell schon lange mit seinem Lyrischen Ich verwechselt, wen soll das verwundern?