2022 ging für mich musikalisch gleich mit zwei Ausnahmealben los. In der ersten Januarwoche veröffentlichte Rapper OG Keemo sein Film-Noir-Konzeptalbum “Mann beißt Hund”, das Deutschrap auf ein neues Level brachte. Der Ausnahmesong der Platte, “Vögel”, ist ein mehr als sechs Minuten langer Storyteller, der mit einem Knalleffekt endet. Mit denen kennen sich auch Wiegedood aus, die sieben Tage später mit “There’s Always Blood At The End Of The Road” Black Metal in Schutt und Asche legten. Der Opener “FN SCAR 16” scheidet die Spreu vom Weizen – entweder man hasst oder liebt diese Raserei, die ihren Titel einem belgischen Armeegewehr verdankt. Explosiv ist bei Plosivs im März vor allem der Name, musikalisch bieten Songs wie “Broken Eyes” vor allem Power-Pop-Dynamit, das ich unerklärlicherweise ein wenig übersehen habe.
Kommen wir zu zwei Metal-Konstanten, die den Sommer 2022 dunkel färbten. “Hate über alles” ist mal wieder eine dieser Kreator-Hymnen, von denen es immer mindestens eine auf jedem Album der Thrash-Metaller gibt. Das gilt so ähnlich auch für Mantar, die mich zwar auf Albumlänge erneut nicht überzeugen konnten, mit “Hang ‘Em Low (So The Rats Can Get ‘Em)” aber wieder einen Hit des Kalibers “Era Borealis” in petto haben.
Mit Oliver Sim von The xx und seinem ersten Soloalbum biegen wir in den Herbst ein. Im September bezeichnete er sich als “Hideous Bastard”. “Hideous”, der Opener seiner großartigen Platte, ist nicht nur ein Wiederhören mit Jimmy Somerville, sondern auch Sims Outing als HIV-Infizierter, mit dem er lange haderte, es nun aber in einer Art und Weise kommuniziert, die niemand kalt lässt. In ihrem Karriereherbst befinden sich eigentlich Die Sterne. Ein so überzeugendes Album wie “Hallo Euphoria” hätte ich Frank Spilker und seiner runderneuerten Band nicht mehr zugetraut. Vor allem der tolle Krautrock-Einschlag wie im Titelsong macht die Platte zu einer der besten ihrer Diskografie. Die haben auch Die Nerven mit ihrem nach der Band benannte Album veröffentlicht, das endlich auch die Restredaktion überzeugen konnte. “Europa” ist der Opener und zeigt sowohl politisch als auch musikalisch, wie stark sich die Band im vergangenen Jahrzehnt entwickelt hat.
Auf den letzten Metern des Jahres kamen noch zwei Alben heraus, die diese Liste gehörig durcheinanderwirbelten: erst das schwedische Allstar-Projekt Les Big Bryd mit “Eternal Star Brigade” und tollen Kraut-Indierock-Songs wie “I Used To Be Lost But Now I’m Just Gone”, dann die frischgebackene Mercury Prize-Gewinnerin Little Simz. Auf “No Thank You” findet sich mit “Broken” eine Demonstration des Könnens der MC – ein fast beatloses Stück, in dem Little Simz mit ihrem Flow den Takt in jeder Hinsicht vorgibt. Meisterhaft!
Honorary Mentions:
Zwei Songs waren 2022 ebenfalls für mich wichtig, auch wenn sie in einem Fall schon acht Jahre, im anderen mehr als 60 Jahre auf dem Buckel haben: “Ich habe eine Fahne” von Deichkind nahm schon 2014 die Machenschaften der FIFA aufs Korn, während Bob Dylans “Masters Of War” 2022 leider aktueller denn je ist – hier in der Version von Eddie Vedder anlässlich des 30-jährigen Bühnenjubiläums von Dylan 1992.