2022 stand endlich wieder im Zeichen der Live-Musik: mit insgesamt 45 besuchten Konzerten und neun Festivals, konnte ich eine neue persönliche Bestleistung aufstellen – und das obwohl die Aussichten in den ersten drei Monaten des Jahres noch nicht so rosig aussahen. Als da dann im Februar Casper gemeinsam mit Felix Kummer den Song “Gib mir Gefahr” veröffentlichte, dachte man noch wehmütig an das unbeschwerte 2019 zurück und sehnte sich nach großen Festivalmengen, schlaflosen Nächten auf Campingplätzen und klingelnden Ohren zurück. Kaum war es im Sommer dann wieder so weit, wurde der Song auch prompt zu meiner Hymne des Jahres.
Obwohl der Februar im Hinblick auf Konzerte noch mehr als enttäuschend war, brachte er musikalisch gleich drei meiner diesjährigen Lieblingsalben, inklusive Songs, hervor: angefangen mit Joywave, die auf ihrem Album “Cleanse” eine metaphorische Waschanlage durchlaufen und sich von den toxischen Eigenschaften der Menschheit reinigen. Highlight der Platte ist das düstere “The Inversion”, das sich mit der Verschmelzung der Online-Welt und der Welt vor unserer Tür beschäftigt. Und apropos online-dominierte Welt: auch in dieser Top 10-Liste führt kein Weg an Die Nerven vorbei, die in “15 Sekunden”, geführt von einer drückenden Bassline, die kurzweilige Unterhaltung auf Social-Media-Plattformen kritisieren. Ebenfalls im Februar veröffentlichten Bastille ihr neues Album “Give Me The Future”, das eine dystopisch-anmutende Onlinewelt kreiert, die die Grenzen zur Wirklichkeit verschwimmen lässt: “Stay Awake?” behandelt die Flucht in eine andere Realität.
Eher durch Zufall stolperte ich später im Frühjahr außerdem über das neue As It Is-Album, das genau das im Angebot hatte, was man sich nach einem langen tristen Winter gewünscht hat: Emo-Rock. “I Want To See God” nutzt die Blaupause eines jeden guten 2000er Emo-Rock-Tracks, verliert dabei jedoch nichts an Authentizität und zieht einen mit brachialen Gitarren in seinen Bann. Genau diese Art von Gitarren, die man sich auf den jüngsten Veröffentlichungen von Bring Me The Horizon wünscht. Aber wo wir schon bei den Metalcore-Helden aus Sheffield sind: ihre spontane Zusammenarbeit mit Popstar Ed Sheeran bei den diesjährigen Brit Awards brachte das vermutlich skurrilste Mash-up des Jahres hervor. Der Popsong “Bad Habits” neu aufgelegt von Oli Sykes und Co., die den poppigen Synthesizer schon fast pathetisch mit einem harten Breakdown wegkicken. Grandios.
Und wo wir schon bei Popstars sind: im Oktober veröffentlichte Taylor Swift mit “Vigilante Shit” die Badass-Hymne des Jahres. “I don’t dress for women/ I don’t dress for men/ lately I’ve been dressing for revenge”. Dramatisch, poppig, gut. In diese Sparte reihen sich auch Blond ein, die mit “Männer” eine weitere großartige feministische Kampfansage lieferten. Mit Blick auf die bisher angekündigten Line-ups der großen Festivals des Landes, ist im Hinblick auf die FLINTA*-Quote schließlich noch ordentlich Luft nach oben.
Und was wäre eine Lieblingssongs 2022-Liste ohne Kraftklub? “Teil dieser Band” fängt die Melancholie ein, die man nach dem fulminanten Abschied von Kraftklub-Frontmanns Felix Kummers Soloprojekt im September in Berlin spürte, liefert gleichzeitig aber auch die nötige Euphorie auf die Rückkehr von der Band mit dem K.
Beendet wird diese Liste von Giant Rooks und dem ersten Vorgeschmack auf einen möglichen Nachfolger ihres grandiosen Debütalbums “Rookery”. “Morning Blue” liefert 3:27min fröhlichen Indiepop, der zum Tanzen einlädt und direkt Lust auf die nächste Konzert- und Festivalsaison macht.