Kein Mensch ist eine Insel. Oder vielleicht doch? Wie auch immer, jedenfalls stand 2023 (zumindest teilweise) im Zeichen von Songs (und selbstverständlich auch kompletten Alben!), die sich um Sommer, Sonne – und von Wasser umgebenem Land gedreht haben. Denn wie knarzte Helge Schneider, Großmeister der jazzigen Unterhaltungskomik, bereits vor zehn Jahren in sein Mikro: “Hey!/ Sommer, Sonne, Kaktus/ Playing Federball on the beach/ Blauer Himmel, gute Laune!” Zugegeben, ein Feuerwerk der guten Laune sind die ersten Songs (“Possession Island”) dieser Liste nicht unbedingt. Dazu wird besagte Insel-Hymne zu sehr von Fernweh und Melancholie geflutet. Und die Augen mit der einen oder anderen Träne. Aber was soll man denn auch bitte dagegen ausrichten, wenn Zeilen wie “Where things they don’t exist/ And we’re all in this together ’til the end” einen da treffen, wo es besonders dolle wehtut? Genau: nichts. Genießen, lauschen und einfach mal schweigend dasitzen und die Klappe halten, bis Damon Albarn und Beck zu Klavier, Akustikgitarre und einer sich aufbäumenden Trompete den Schlussakt des “Cracker-Island”-Closers zelebrieren, als wäre es die Heiligste aller Angelegenheiten auf der Welt.
Daran reicht fast nur noch das verträumte “Far Away Island” heran, das ebenfalls aus der Feder von Albarn stammt, diesmal allerdings auf dem Blur-Comeback “The Ballad Of Darren” erschienen. Die Platte: kam überraschend. Die erneute Frührente, angestiefelt von Mastermind Albarn: ebenfalls. Der Song bleibt einem – trotz der Tatsache, dass die einstige Britpop-Band wieder auf Eis gelegt wurde – in Gedächtnis und Herz kleben wie der gutplatzierte Kaugummi unter der Schulbank. Und an Nachschub für das kommende Musikjahr dürfte es ebenfalls nicht mangeln: Albarn hat bereits ein neues Gorillaz-Album in Arbeit, Graham Coxon mit The Waeve alle Hände voll zu tun – und Alex James und Dave Rowntree? Werden vielleicht an der Rezeptur für Käse und dem Nachfolger des Anfang des Jahres erschienen Debüts frickeln.
Last but not least, darf in dieser Insel-Hitparade eine Person auf keinen Fall fehlen. Pop-Ikone Miley Cyrus. “So close to heaven but so far from everyone” schmettert sie auf “Island” zu elektronischen Beats und liefert damit weniger Trennungs-Herzschmerz und Melancholie als ihre Vorgänger. Dafür haut sie nach “Flowers” und “Mother’s Daughter” einen weiteren feministischen Empowerment-Popsong raus, der einen vom nächsten Sommer träumen lässt.
Runter von der Insel, rein in den Yachtclub des kleinen Mannes. Nach 25 Jahren (!) hat “Tatortreiniger”-Komponist Carsten “Erobique” Meyer im Juni mit “No.2” ein neues Album herausgebracht und darauf lädt er nicht mit Pauken und Trompeten, sondern mit Xylophon und Violinen zu einer gediegenen Matinee in die örtliche Schrebergarten-Anlage. “Ahoj!” will man ihm da hinter seinem Keyboard zurufen, nachdem man mit Dave auf dem Rave war uns zu “Salut Les Copines!” an der brandenburgischen Côte d’Azur entlang getänzelt ist, als gebe es keinen Morgen und keine grauen Wolken im Paradies. “It’s easy mobeasy” – manchmal.
Apropos Comeback-Alben und Trennungsschmerz: davon können die Libertines ebenfalls ein Lied singen – oder mindestens 11, wenn man sich die Tracklist ihrer kommenden Platte “All Quiet On The Eastern Esplanade” anschaut. Acht Jahre hat es gedauert, bis Doherty und Barât sich für die Arbeit an einem neuen Album zusammengerauft haben. Ergebnis: das von “Schwanensee” inspirierte “Night Of The Hunter”. Darauf besingt Doherty in Bestform und mit gefestigterer Stimme den Schmutz, der sich leider nicht so leicht von der Seele schrubben lässt, wie das Blut von der verschlissenen Skinny-Jeans Anfang der 00er-Jahre.
Von der schmutzigen zur schmerzenden Seele. Bittersüß haben PJ Harvey (“Prayer At The Gate”) und Marika Hackman (“No Caffeine”) in diesem Jahr die Selbstzweifel und die Sinnsuche, die Panikattacken und den Umgang mit dem Tod artikuliert. Beide auf ihre Art, beide mit Folk und feenhafter Grazilität in der Stimme. Wer Harvey in diesem Jahr im Berliner Admiralspalast gesehen hat, konnte sich davon selbst ein Bild machen – und wurde nicht mit einem Konzert, sondern mit einem spirituellen Erweckungserlebnis entlohnt. Daran kann sich die November-Show von Cigarettes After Sex im Kölner Palladium ebenfalls messen lassen. Mein persönliches Highlight dieses Konzertabends: das sanftmütig dahin gehauchte “Stop Waiting”, das so wahrscheinlich nur Greg Gonzalez hinbekommt.
Ein Ranking, in dem der Name Nick Cave nicht auftaucht? Hochverrat vor dem Herrn, mindestens. Deswegen darf der Coversong “On The Other Side” mit Blondie-Frontfrau Debbie Harry hier auch nicht unter den Tisch fallen, immerhin handelt es sich dabei um ein musikalisches Testament für den verstorbenen The-Gun-Club-Sänger Jeffrey Lee Pierce, und um eines der bezaubernd-feinfühligsten Duette des Jahres – neben “The Alcott” (“First Two Pages Of Frankenstein”) von Taylor Swift. Ein wiederholtes match made in heaven: Bereits 2020 haben der The-National-Frontmann und Swift gemeinsame Sache gemacht und einen Song veröffentlicht, in dem es ebenfalls um eine Insel ging. So schließen sich Kreise.