Das Beste kam nicht zum Schluss, aber es wurde in den verbliebenen drei Monaten bis zum Jahreswechsel durch nichts mehr getoppt: Ende September veröffentlichten The Cure ihr 14. Album “Songs Of A Lost World”, das erste seit über anderthalb Jahrzehnten – und im Gegensatz zum bisher letzten, “4:13 Dream” von 2008, ein würdiges Abschlusswerk, sollte Robert Smith tatsächlich eines Tages genug vom Songschreiben und Plattenmachen haben. Schwer in Worte zu fassen, was der Moment mit uns Fans gemacht hat, als quasi über Nacht “Alone” erschien, der erste Songvorbote des Albums. Der widmet einen stattlichen Teil seiner knapp 7 Minuten Spielzeit dem epischen Intro. Womit Smith & Co. bewiesen hätten, was man spätestens seit dem Hin und Her um ihr chronisch verschlepptes Comeback-Album weiß: The Cure haben alle Zeit der Welt.
Im Gegensatz, so scheint es, zu zwei ungleich jüngeren und hochproduktiven Post-Punks-Bands von der Insel beziehungsweise den Inseln, die bereits seit Jahren eine große Rolle in VISIONS spielen. 2024 haben sie sich nacheinander ihre Coverstorys bei uns abgeholt. Denn sowohl Idles als auch Fontaines D.C. haben auf dem Weg zu ihren aktuellen Alben einen spannenden, unvorhersehbaren Wandel durchlaufen. Nachhören kann man das etwa in der finster funkelnden Pianoballade “A Gospel” von Idles oder in “Starburster” von Fontaines D.C., das mit seinem Mix aus Mellotron, zackigen Wave-Gitarren und der Stimm- und Sprechgesangsakrobatik von Grian Chatten dem bisherigen Signature-Song der Iren, “Televised Mind” von 2020, den Rang streitig macht.
Apropos Chatten: Der hatte 2023 mit “Chaos For The Fly” ein hervorragendes erstes Soloalbum rausgebracht – und war damit wesentlich schneller als Breeders-Chefin Kim Deal. Deal hat für ihr Debüt unter eigenem Namen fast 40 Jahre Anlauf genommen. Dafür hat es “Nobody Loves You More” dann aber in sich. Es ist neben “The Collective” von Kim Gordon (of Sonic Youth fame) eines der beiden herausragenden Soloalben, das im zurückliegenden Jahr aufs Konto einer US-Indie-Ikone gegangen ist. Erstaunlich ist, wie unterschiedlich und doch gleichermaßen innovativ die beiden Namensvetterinnen in ihre Platten einsteigen. Während Deal sich im eröffnenden Titelstück selbst reflektiert und zu verschachtelten Streicher- und Bläser-Arrangements knapp am Jazz vorbeischrammt, kommt Gordon in ihrem grime-igen Albumopener “Bye Bye” auf die ziemlich brillante Idee, eine Einkaufsliste zu vertonen.
Fehlt noch ein Schwenk zum dritten Solo-Coup einer Veteranin der Alternative Nation (mehr dazu im Text aus unserem Jahresrückblick). Man kann das Covermotiv von “Lives Outgrown” auf den ersten Blick für ein Bandfoto halten, tatsächlich zeigt es vier Ansichten derselben Person: Beth Gibbons, die mit wunderbaren Songs wie “Floating On A Moment” fast vergessen lässt, dass das bislang letzte Album ihrer Band Portishead auch schon wieder über 16 Jahre her ist – “Third” erschien im April 2008.
Übrigens ebenso wie “Attack & Release” von den Black Keys – die allerdings seitdem sieben weitere Alben aufgenommen haben. Das jüngste heißt “Ohio Players” und bringt zwischen Garage-Kante, Soul-Schmelz und Blues-Coolness die Vorlieben von Dan Auerbach und Patrick Carney auf den Punkt. Eine “verspielte Wundertüte” hat mein Kollege Jan Schwarzkamp in dieser nunmehr zwölften Black-Keys-LP erkannt; das trifft es gut. Andererseits legt es “Ohio Players” weniger auf eindeutige Hits an als viele seiner Vorgängeralben. Stattdessen spricht aus einem Song wie “I Forgot To Be Your Lover” Understatement und die Art von Souveränität, die man sich nur mühsam erarbeiten kann. Sie ist das Resultat von über einem Vierteljahrhundert kreativer Zusammenarbeit zwischen Auerbach und Carney – solange muss man es erst mal miteinander aushalten.
Metz aus Toronto zum Beispiel werden es nicht schaffen. Die Noise-Rocker waren schon auf Abschiedstour und haben mit ihrem fünften Album “Up On Gravity Hill” im Studio bereits den Schlusspunkt gesetzt. So haftet dem Shoegaze-inspirierten “Light Your Way Home” ganz am Schluss der Platte nicht nur aus musikalischen Gründen etwas sehr Melancholisches an. Zumal wenn einem dabei einfällt, dass mit Metz’ Landsleuten Japandroids eine ähnliche gepolte Band das Zeitliche gesegnet hat. Ihr viertes Album “Fate & Alcohol” wird wohl das letzte gemeinsame Lebenszeichen von Brian King und David Prowse sein. Das offenbar unausweichliche Ende ihrer Band hat sie so mitgenommen, dass sie sich nicht mal mehr imstande sahen, in Interviews darüber zu reden. Dann kann nur die Musik für sie sprechen: Danke, Japandroids, für vier Alben voll noisiger Powerpop-Songs à la “D&T” – auch ihr werdet uns noch fehlen!
Am Schluss rüber zu zwei HipHop-Künstler:innen, die ans Karriereende hoffentlich noch lange nicht denken. Kendrick Lamar hat sich mit “GNX” mal eben das nächste Superalbum aus dem Ärmel geschüttelt. Anspieltipp: “Squabble Up”. Doch fast genauso so ein großes Verdienst von Lamar sind die Lanzen, die er während der vergangenen Jahre für die junge Rapperin Doechii gebrochen hat. Inzwischen ist sie auf seinem früheren Label Top Dawg untergekommen, wo im Sommer zunächst nur digital ihr Mixtape “Alligator Bites Never Heal” erschienen ist. Kurz vor Jahresfrist kam es dann auch endlich auf Vinyl heraus und in meinem Fall nur noch selten runter vom Plattenteller. Wer es antesten will: “Nissan Altima” ist nicht der einzige Killertrack auf der Platte, aber ein repräsentativer. Noch besser lernt man Doechii nur live kennen. Kürzlich hat die selbsternannte “Swamp Princess” mit einer grandiosen All-Girls-Band im Rücken ein “Tiny Desk Concert” gespielt. Unbedingt angucken – die wahrscheinlich besten 24 Minuten HipHop, die 2024 zu bieten hatte.