Eine halbe Stunde vor Beginn des Konzerts ist Amanda Palmer im Foyer des Colosseums unterwegs. Bewaffnet mit Zettel und Stift sammelt sie Songwünsche, erlaubt ist alles, Coversongs oder Eigenes, egal. Kurz darauf sind die Augen der Zuschauer im Saal gebannt auf den blau beleuchteten Flügel gerichtet – eine Falle! Die Dresden Dolls-Sängerin liebt es, mit Erwartungen zu brechen. Sie betritt den Saal mit ihrer Ukulele und den Akkorden von Radioheads “Creep” durch eine der hinteren Türen, wandert durch die Sitzreihen und eint alle Anwesenden durch den gemeinsamen Gesang der letzten Zeilen: “But I’m a creep/ I’m a weirdo/ What the hell am I doing here?/ I don’t belong here”. Damit ist das Eis gebrochen, der Weg ist frei für den einzigen weiteren Ukulele-Song “In My Mind”.
Was dann kommt, hat bis auf die Person, die sich den Song eine halbe Stunde zuvor wünschte, wohl niemand kommen sehen: “Der Song wurde heute während der Anti-Nazi-Demo hier in eurer Stadt gespielt, ich habe ihn zuvor noch nie gecovert, kannte ihn vom Hören und habe ihn während des Soundchecks einfach mal so angespielt. Als ich dann eben in die Lobby kam und diese Frau sich den Song wünschte, dachte ich nur: Woher weißt du das, bist du eine Hexe?”, scherzt Palmer. Es folgt “Schrei nach Liebe” von Die Ärzte. Mitten im Song bricht Palmer ab, “Scheiße, ich hab’ vergessen, wie es weiter geht”, “Gitarrensolo!” ruft ein Mann aus dem Publikum, “Ach ja!” nickt sie und haut in ihrem energischen Stil, der auch mal Ellenbogen und Füße beinhaltet, in die Klaviertasten.
Es folgen mit “Astronaut”, “The Killing Type”, “Ampersand” und “Oasis” Songs ihrer beiden Soloalben “Who Killed Amanda Palmer” und “Theater Is Evil”. Jeden unterfüttert sie mit persönlichen Geschichten und Anekdoten, die herzzerreißend oder politisch sind, manchmal auch beides. Erzählt werden diese mit so viel Humor, dass Lachen und Weinen während des dreistündigen Konzerts sehr nah beieinander liegen. “Humor ist gefährlich, aber das muss er auch sein”, erklärt Palmer zwischen zwei Schlucken Wein, “es ist die Aufgabe des Künstlers auf diese Weise Licht in die Dunkelheit zu bringen.” Wie recht sie hat, beweist kurz darauf “A Mother’s Confession”, ein Song vom neuen Album “There Will Be No Intermission”, den sie mit einer rührenden Anekdote über ein Gespräch mit ihrem vierjährigen Sohn einleitet und mit Zeilen wie “But that’s not really bad compared to/ When we left the baby in the car/ At least he wasn’t in there very long/ And not directly in the sun/ And thank god no one walking by happened to notice what we’d done/ I’m even scared to put these lyrics in a song” befreiendes Gelächter beim Publikum hervorruft. Durch die gewünschten Songs ihrer aktuellen Platte, rutscht Palmer ganz automatisch in einige Elemente ihrer ursprünglichen Show zurück, bringt mit Kurzzusammenfassungen der eigentlich vor den Songs stehenden, sehr umfangreichen Monologe das Publikum erneut zum Lachen. Sie ordnet die zuvor notierten Songwünsche mit einem Textmarker während der Show in eine schlüssige Reihenfolge, hakt ab, was schon gespielt wurde und scherzt dabei: “Hier sehen Sie den Künstler in seinem natürlichen Lebensraum.”
Düster und ernst wird es mit den letzten beiden Songs des Abends. “Ich weiß nicht, ob ich euch das antun soll. Es ist eine wirklich deprimierende Geschichte”, gesteht Palmer. Das Publikum jedoch wünscht es sich, und da heute nun mal eine Request-Show stattfindet und die Komfortzone bei Amanda-Palmer-Shows generell nicht auf der Gästeliste steht, erzählt sie die Geschichte, wie sie an Weihnachten vor zwei Jahren, schwanger mit ihrem zweiten Kind, in einem Hotel eine Fehlgeburt durchsteht, allein ohne medizinische Hilfe. Als zugehörigen Song wählt sie den ebenfalls gewünschten Disney-Song “Lass jetzt los”. Als Zuschauer fühlt man sich plötzlich wie in Banksy’s “Dismaland”: Einer Dekonstruktion der glitzernden heilen Traumwelt, die bittere Wahrheit freilegt. Palmer geht auf der emotionalen Ebene noch einen Schritt weiter und konzentriert sich auf die daraus erwachsende Stärke, wodurch der auf Deutsch vorgetragene Text nicht unpassend wirkt, im Gegenteil. Am Ende dieses außergewöhnlichen Konzerts steht der Song “The Ride” und exemplarisch für den Abend die folgende Zeile daraus: “Everyone’s reaching to put on a seatbelt/ But this kind of ride comes without them”. “Da muss ich erst nach Essen kommen, um zu merken, dass ich einen Großteil meiner Show streichen kann und es so viel besser funktioniert”, stellt Palmer im Anschluss grinsend fest und wirkt dabei sehr erleichtert.
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