Wenige Stunden vor Beginn des Konzerts sitzt Kendrick Lamar noch zwischen etlichen Monitoren, Mischpulten und Kameras im Zuschauerraum. Der gefeierte Rapper stellt höchstpersönlich sicher, dass die Show in der Pariser Accor Arena – seine erste seit fünf Jahren hier in der Stadt – perfekt vorbereitet ist, sämtliche Kameras genau nach seinen Vorstellungen ausgerichtet sind. Ein erster Beweis dafür, wie akribisch das Conscious-HipHop-Genie an der erfolgreichen Übertragung des Konzertes im Rahmen der Tour zu seinem aktuellen Album “Mr. Morale & The Big Steppers” arbeitet. Die Platte beschäftigt sich mit Generationstraumata, Religion, Untreue und dem Druck des Ruhmes – und bietet sich mit ihrem therapeutischen Charakter sehr dafür an, wie ein modernes Theaterstück inszeniert zu werden. Das wird am Ende mit satten 15 Songs gut die Hälfte des zweistündigen Sets für sich beanspruchen.
Zu Beginn läuft “Savior –Interlude” mit einem Sample über Opferrollen des Selbsthilfebuch-Autors Eckhart Tolle zu hektischen Streichern. Dazu betreten elf Tänzer:innen den Laufsteg in der Mitte der Halle. Erst als sie sich im Gleichschritt die Hauptbühne erreichen, hebt sich der weiße Vorhang und enthüllt Lamar, der ab sofort von “Therapeutin” Helen Mirren aus dem Off als “Mr. Morale” angesprochen wird. Er sitzt am Klavier, mit einer ihm nachempfunden Bauchrednerpuppe, und trägt im zweistimmigen Gesang den jazzigen Albumopener “United In Grief” mit seinem Ebenbild vor. Es fällt auf, dass die Tänzer:innen nicht in einer Weise sexualisiert werden, wie man es von einigen Westcoast- und G-Funk-Rappern erwarten würde. Ihr Auftreten erinnert eher an die Sorte Performance-Kunst, die man bestenfalls im Nachtprogramm von einschlägigen TV-Sendern mit Kunst-Fokus sieht.
Dort könnte auch der wohl aufwendigste Teil der Show stattfinden, den das unter verzerrten Trap-Bässen pumpende “N95” und “Element” einleiten: Der riesige Vorhang hinter auf der Hauptbühne zeigt eine überlebensgroße Silhouette des Rappers und dessen ruckartige Bewegungen. Die Projektion ist allerdings aufgezeichnet, und die Choreografie wurde von Lamar bis ins kleineste Detail einstudiert, um sie minutiös nachzuahmen.
Die Show endet wiederum denkbar schmucklos: Lamar bedankt sich, lächelt kurz und verschwindet ohne Zugabe backstage. Es zeigt die Bodenständigkeit des Rappers, die für einen Musiker mit seinem Standing ein Alleinstellungsmerkmal ist. Lamars technische Finesse mit dichten Erzählungen, Double- und Triple-Time-Flow mal ganz außen vor, demonstriert der auf Social-Media abstinente Lamar mit dem heutigen Abend abermals, dass er die introspektive, selbstreflektierende Antithese zu Egomanen wie Kanye West darstellt.
Was die messerscharfe Übertragung über Amazon Prime und Twitch nicht in vollem Umfang wiedergeben kann: Die mit über 20.000 Gästen ausverkaufte Accor Arena tobt. Immer wieder ploppen Moshpits an den Seiten des Stegs auf. Stunden zuvor ist das noch undenkbar: Alles wirkt wie ein Filmset, Anspannung liegt in der Luft. Zwei Monate hat sich das 109-köpfige Streaming-Team auf den heutigen Abend vorbereitet. Die gesamte vorangegangene US-Tour diente gewissermaßen als Trockenübung, und am ebenfalls ausverkauften Konzert am Tag zuvor liefen bereits testweise die Kameras mit, um heute Abend nichts dem Zufall zu überlassen.
“Ich bin Mr. Morale”, stellt sich Lamar nach einer guten halben Stunde vor. Es folgt der Überhit “Humble”, den er – wie viele weitere Songs des Abends – erst frech teast, indem er lediglich die Melodie am Klavier andeutet, bevor das Publikum unter knirschende E-Gitarren und 808-Bass registriert, welchen Song Lamar hier eigentlich spielt. Mit “King Kunta” und “Alright” enthält das Set allerdings nur zwei Songs der Jazz-Soul-Fusion-Platte “To Pimp A Butterfly” (2015), die sowieso besser mit Liveband funktionieren. Für “Alright” senkt sich eine Box mit durchsichtigen Plastikplanen über Lamar, der auf einer Plattform durch ein Hydrauliksystem gen Decke befördert wird – David Blaine lässt grüßen. Szenen, die nicht nur spektakulär wirken sollen, sondern auch seinen Umgang mit einer Covid-Erkrankung widerspiegelt. “You’ve been contaminated.”
Damit das auch auf den Bildschirmen zu Hause so beeindruckend aussieht, arbeiten Regisseure Mike Carson, Dave Free und Mark Ritchie mit 19 Filmkameras, die Lamar aus jedem erdenklichen Winkel während solcher Einlagen einfangen sollen. Darunter auch eine freihängende Spider-Cam, für deren Einsatz über Publikum erst eine Sondergenehmigung eingeholt werden musste. Draußen stehen zwei mit modernster Technik eingerichtete Trucks: Im größeren der beiden arbeiten allein 25 Mitarbeiter:innen am Schnitt des Videomaterials, um es mit nur wenigen Minuten Verzögerung zu übertragen. In dem anderen wird der in der Arena schon hervorragende Sound mit Lamar-Vertrauten für die Übertragung abermals abgemischt.
Der Abend steht nicht nur im Zeichen der aktuellen Platte, sondern fällt auch auf den Tag genau auf das zehnjährige Jubiläum seines Durchbruchsalbums “Good Kid M.a.a.D. City”, mit dem er 2012 zeitgenössischem Sensations-HipHop den Mittelfinger zeigte und durch seine atmosphärischen Beats und subtile Instrumentierung neue Maßstäbe setzte, womit er zur Galionsfigur des sogenannten Progressive Raps wurde.
Nur den Stellenwert davon spürt man in Paris heute nicht wirklich. Lediglich fünf Songs stammen von der Platte; darunter eine Performance von “Bitch, Don’t Kill My Vibe” vor der Projektion eines Sonnenuntergangs, dem ätherischen “Monkey Trees” und “m.A.A.d. City”. Die Setlist hebst sich damit kaum von anderen Shows seiner 60 Stopps umfassenden Welt-Tournee ab. Höchstens das technisch anspruchsvolle “Backstreet Freestyle” spielt hinter den verschleppten Beats, mit der sich wiederholenden Zeile “I pray my dick get big as the Eiffel Tower/ So I can fuck the world for seventy two hours” explizit auf die französische Hauptstadt an.
Der Song folgt dem Konzept von Lamars zweiten Album, das ein Tag im Leben seines jugendlichen Ichs nachzeichnet – auf den Straßen seiner Heimatstadt Compton voller ernüchternder Realitäten, Bandengewalt und Chancenlosigkeit. Für den ebenfalls aus Compton stammenden Tim Hinshaw, Head of Hip-Hop & R&B bei Amazon Music, der eng mit Lamar und seinem Kreativkollektiv PgLang für das Event zusammenarbeitet, schließt sich mit der Show zehn Jahre nach Veröffentlichung allerdings ein Kreis: “Man muss nur Worte sprechen, bis sie wahr werden. 2012 rappte er nur in ‘Backseat Freestyle’ darüber und heute Abend rappt er ‘Backseat Freestyle’ – in Paris.”
Dass in der Live-Industrie ein Umdenken stattfinden muss, dürfte nach den letzten zwei äußerst schwierigen Jahren voller Absagen, zunehmenden logistischen Problemen und ausbleibenden Fans allen klar sein. Doch welche Rolle kann oder muss Streaming sogar als alternative Live-Erfahrungen einnehmen? “Es wird von jüngeren Zuschauer:innen mittlerweile erwartet”, sagt Global Head of Artist Marketing bei Amazon Music Kirdis Postelle. “Ich glaube zwar nicht, dass sowas jemals ein echtes Konzert ersetzen wird, aber ich denke, dass diese Art von Livestreaming den Künstler:innen die Möglichkeit gibt, mehr Fans zu erreichen. Vor allem für diejenigen, die es sich nicht leisten können, auf so eine große Tour zu gehen.”
Dafür arbeitete das Team von Amazon Music bereits mit Metallica oder etwa Tyler, The Creator zusammen. Mit dem Aufwand, der Größenordnung und Reichweite des heutigen Events im Hinterkopf könnten aber noch mal neue Maßstäbe in puncto Relevanz für Streaming gesetzt werden, wenn wie hier so anschaulich der Release eines Albums, Tour und ein liveübertragener Konzertfilm ganzheitlich gedacht werden. “Das Ausmaß des Streams heute ist so bedeutsam, auch weil Kendrick nun mal der Künstler ist, der er ist”, so Postelle. Dass sich aber auch nur Ausnahmekünstler wie Kendrick Lamar mit einem riesigen Team im Rücken so etwas leisten können, eben auch.
Die Show wurde am 22. Oktober über Amazon Prime und Twitch live übertragen. “Kendrick Lamar Live From Paris” ist auch weiterhin als Stream über Amazon Prime verfügbar.