Portishead
Dummy (Platten der Neunziger)
Sicher, die eigentliche Initialzündung für die vielleicht richtungsweisendste musikalische Errungenschaft der Neunziger Jahre – ich spreche vom TripHop – geschah noch einige Jahre früher mit Massive Attacks „Blue Lines” (siehe Platz 86). Sieht man jedoch von der zweifellos wichtigen musikevolutionären Bedeutung dieses ersten ‘Bristol-Sound’-Albums einmal ab, muss man festhalten, dass erst dem käsigen DJ Geoff Barrow und der introvertierten Sängerin Beth Gibbons die wirkliche Perfektionierung dieses neuen Stils gelang: Echte Musik aus dem Computer, künstlich erstellte und trotzdem hochauthentische, analog klingende Songwriting-Kunst. HipHop-Beats mit einschmeichelndem weiblichen Leadgesang. Elektronikmusik mit maximalem Tiefgang, voll von imaginären Bildern, voller Emotionalität. Arrangements in der absoluten Schwebe, wie kristallines Liquid, das die Kunst des Auslassens in einer nie gehörten Präzision beherrscht. Songs zwischen tiefer Psychose, produktioneller Perfektion und betörender Simplizität. Unglaubliche Assoziationen hervorrufende Sounds: Ob nun Film Noir, eine nächtliche Autobahnfahrt, eine neblige Moorlandschaft, französischer Chanson, italienischer Spaghetti-Western, eine verqualmte Zigarette, dunkle Alpträume oder euphorisierende Glücksmomente, arktische Kälte oder vertraute Wärme – diese Platte ist alles und nichts davon. Beth Gibbons’ Leadgesang ist die vielleicht traurigste weibliche Stimme, die man jemals gehört hat – unwiderstehlich, unwiederbringlich, unnahbar. Immer präsent, doch nie greifbar. Und „Dummy” ist der perfekte Soundtrack für den an seiner Einsamkeit erstickenden Suizid-Kandidaten.