Wenn diese Platte dich nicht durch die Sommernachtstristesse trägt, schafft es keine. Leere ist nicht poetisch. Leere ist hässlich und traurig und unglaublich langweilig. Genau “so langweilig und ekelig”, wie Nagel es im vorletzten Lied singt, das in der Schreibblockade beginnt und im Textfluss endet: “Plötzlich tatsächlich” hat er es geschafft. Muff Potter haben nicht den weltersten Song über das Songschreiben geschrieben, aber einen der wenigen; und vielleicht den einzigen, der mit den Mitteln schroffer, dunkler, wuchtiger Rockmusik wirklich abzubilden vermag, was für ein Kampf Kreativität sein kann, wahrscheinlich muss. Nagel wird keine Interviews brauchen, um das zu betonen, kein Ringen-mit-den-inneren-Dämonen-Gerede, um zu erklären, warum “Steady Fremdkörper” der Brocken von Album wurde, der es ist. In “Plötzlich tatsächlich” hat er es längst gesagt: wie das weiße Blatt Papier vor ihm lag und ihn verhöhnte und wie erst der Frust darüber ihn schreiben ließ. Wut ist ein Motor, Leere schreibt Lieder. Hässliche, traurige, unglaublich langweilige Leere. Schöne, mutige, unglaublich vielseitige Lieder. Man macht kein Album wie “Steady Fremdkörper”, ohne über sich selbst zu staunen. Nicht, wenn man in rotzigem Deutschpunk gestartet ist und ihn 13 Jahre und fünf Alben später zwischen den Koordinaten Indiepop, Hardrock und New Wave ausformuliert. Euphorie mit Weltschmerz paart, dunkles Laut mit hellem Leise. Muff Potter deshalb vorzuwerfen, mit “Steady Fremdkörper” endgültig die Ideale des Punk verraten zu haben, ist Kuhmist. Wer, wenn nicht Punk, sollte sich solche Freiheiten rausnehmen dürfen? Wem sonst geht es so sehr um Emanzipation und gegen den Strich, in seiner eigenen kleinen Scheißwelt festzustecken? Entscheidend ist, dass jeder Song auf “Steady Fremdkörper” etwas über dich und dein Leben erzählen kann, dass er deine Sprache spricht, dich meint. Egal, ob Nagel im “ich” singt, im “du” oder im “er/sie/es”, wenn Kabelarm-Strichholzbein Finkelmann wie irre Gewichte stemmt oder Oma Rixdorf vor Einsamkeit dem klingelnden Vertreter die Tür aufschließt. Denn das ist überhaupt der Trick: Muff Potter sind immer gleich direkt. In Liedern über religiöse Verblendung oder lähmenden Kulturpessimismus wie in Liedern über die Sackgasse Leben oder das Ende einer Beziehung. So zu schreiben gelingt nicht vielen, ihnen fast immer. Wenn “Steady Fremdkörper” einen Fehler hat, dann den heimlichen, dass in letzter Minute die Songreihenfolge durchgeschüttelt wurde und dabei das scharlachrote “Requiem auf die gute Laune” aus dem Album purzelte, um nun, statt das in vieler Hinsicht virtuose Schlusslied einzuleiten, ein B-Seiten-Dasein auf der “Fotoautomat”-Single zu fristen. Geschenkt. Wer hören will, wie viele Sprachen deutscher Punkrock heute sprechen kann, wie fließend und gewandt, hört “Steady Fremdkörper”. Und zwar so laut, wie’s geht. Muff Potter haben ihr bestes Album gemacht, Himmel, Hölle, Arsch und Zwirn! Es gibt kein gutes Leben ohne Blasphemie.
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