Tocotronic
Kapitulation
Text: Markus Hockenbrink / Jan Schwarzkamp
Man kann sie natürlich immer noch hassen, wenn man möchte. Nur muss man sich dafür inzwischen andere Gründe suchen. Und bessere. Denn die Hamburger Schule brennt, und mit den vorgekauten Slogans ist inzwischen auch Schluss. Es ist ein wenig so, als trauten Tocotronic ihm selber noch nicht so ganz, ihrem Gitarrenalbum. Am Anfang wollten sie einmal mehr “nicht nerdig” sein und auch “nicht akademisch”, am Ende haben sie es tatsächlich geschafft. Denn “Kapitulation” ist ein Schauspiel. Es ist hypnotisch, ein bisschen gothic und zeitweise sogar sexy. Und es ist, mit Verlaub, leicht. “Du musst nie wieder in die Schule gehen”, singt Dirk von Lowtzow auf der Zweiminutensingle, und das hört gerne, wer sich vom bandeigenen Verdauungstempo schon mal gelähmt gefühlt hat. Aber das war einmal. Man kann sich so einiges selber unter diesen Songs vorstellen, und Tocotronic können loslassen, diesmal. Sie nehmen sogar das Wort “rocken” in den Mund, und dabei sind es ganz andere Worte, die hängen bleiben. Ein Luxusproblem. Denn von Lowtzows Texte sind direkt wie nie, seine Bilder leuchtend, und die ganze Platte klingt, als hätte man ihr vorletztes Album in irgendeiner Vorhölle verchromt. Also cool. Hat Rick McPhail Tocotronic cool gemacht? Oder bloß die Gitarre? Es macht mit einem mal Spaß, sich solche Fragen zu stellen, schließlich erlebt man nicht alle Tage eine Wiedergeburt. Tocotronic sind jetzt ‘ne Rockband – “verrückt, denn alles stimmt genau.”
10/12 Markus Hockenbrink
Ich kapituliere. Tocotronic hatten es beinahe geschafft. Von der Stufe meiner ihnen gegenüber empfundenen Egalheit sind sie über Jahre und Singles hinweg auf die Stufe des Ganz-okay-Seins gestiegen. Eine Stufe, auf der sie mit dem flotten Klopper “Sag alles ab” hätten heimisch werden können. Allerdings hängt an dem Stück, dieser ersten irritierenden Single, noch ein ganzer Rattenschwanz von Album. Extralang, extraöde, extradiffus. Das mäandert grau in grau vor sich hin, schlurft ständig über die Vier-, Fünfminutengrenze. Dirk von Lowtzow nölt in seiner unnachahmlichen Art Phrasenhülsen (“Dein geheimer Name ist ein Zauberwort für mich” oder auch: “Alles gehört dir, eine Welt aus Papier”) darüber als wäre Lethargie sein zweiter Vorname. Kollege Hockenbrink oben spricht vom Gitarrenalbum der Band. Ja was waren denn die frühen Werke? Tubapartituren? Sicher schichten sich hier Gitarren über Gitarren, aber nur sehr selten in prägnanter Form. Dieses vorgeschossene “Sag alles ab” hat im Zusammenhang nur noch Alibifunktion. Tocotronic verlaufen sich in der brennenden Hamburger Schule, verbarrikadieren sich in der modrigen Turnhalle. Die ist groß genug für ihre Egos, ihre Container voll gähnender Exaltiertheit und viel zu lange Songs. Aber von Lowtzow schafft es tatsächlich, meinen Punkt zu formulieren. Zumindest irgendwie: “Dein Schlimm ist mein ganz Schlimm”.
4/12 Jan Schwarzkamp
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