Es war ein bezeichnender Blick in das Seelen- und Arbeitsleben von Robert 3D del Naja während der 100th Window-Phase: Das damals einzige verbliebene Massive-Attack-Mitglied empfing im eigenen Studio – ein schummriges Loch, bis unters Dach vollgestopft mit Elektronik-Gedöns, dessen Leuchtdioden-Geblinke wie Morsezeichen an eine derangierte Psyche wirkten. Passend dazu 3D, der den Eindruck erweckte, seit Jahren kein Sonnenlicht gesehen zu haben. Eine Studio-Kellerassel par excellence, wie ein Statist aus Blade Runner, der nicht mitbekommen hatte, dass alles nur ein Film war. Genauso klang die Platte: Sie war die fraglos perfekt inszenierte, aber frustrierend weltabgewandte musikalische Entsprechung eines Borderline-Kranken mit suizidalen Tendenzen.
Auch auf Heligoland ist jetzt nicht alles eitel Sonnenschein, dafür sind 3D und der aus der Babypause zurückgekehrte Grant Daddy G Marshall einfach nicht geschaffen. Das Dunkle im Sound regiert weiterhin, aber es hat jetzt eine Tönung des Lebensbejahenden. Wo 100th Window nachtschwarz war, lebt Heligoland von einer enormen Dichte an schillernden Grautönen, fast so, als habe man an all dem Schwarz die unterschiedlichsten Stimmungsaufheller und Antidepressiva ausprobiert, um zu schauen, wie der Patient der ewigen Seelennacht darauf reagiert. Zumal es durchaus dunkel genug bleibt, schon allein inhaltlich: Heligoland behandelt die Schwierigkeiten interkultureller Durchmischung in unseren modernen Vielvölkerstaaten, in denen sich jeder nur noch selbst der Nächste zu sein scheint. Das sagt schon der Titel: Die englische Entsprechung des deutschen Helgoland darf man gerne als Hell-Ego-Land lesen.
Stilistisch führt all das zu einem spannenden Egotrip der Protagonisten, der sie mehrmals rund um die Welt und in die Hände vieler Gäste und Freunde spült. Die drücken dem bisher offensten Massive-Attack-Album interessante Stempel auf. Saturday Come Slow, der Song mit Damon Albarn, wird mit Akustikgitarre als Melodieinstrument ausstaffiert. Das kurios zwischen Boshaftigkeit und Schönheit schillernde Flat Of The Blade singt Elbow-Kopf Guy Garvey, und Pray For Rain, der vermutlich große Singlehit der Platte, wird von TV On The Radios Samtstimme Tunde Adebimpe intoniert.
Nichts an diesem Album ist Zufall – wie sollte es auch sein, nach zig zuvor fertig gestellten Versionen sowie einem kompletten weiteren Album, das vor zwei Jahren im Müll landete. Im Gegenteil: Heligoland ist in seiner ruhig-bedächtigen, aber niemals berechenbaren Art eines der durchdesigntesten Alben der jüngeren Vergangenheit. Nicht der kleinste Staubfussel stört die Klarheit der Musik. Wenn man aber spürt, wie unter den glatten Oberflächen das Blut pulsiert, die Muskeln zucken und virtuose Kämpfe zwischen Organischem und Künstlichem um die Albumvorherrschaft stattfinden, dann wird die glatte Ebene plötzlich zum morastig-blubbernden Tümpel, in den man tatsächlich gerne eintauchen möchte.
weitere Platten
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