Ein Albumtitel ist natürlich auch nur ein Albumtitel, aber man sollte die Geste dahinter diesmal nicht unterschätzen: Kaum jemand muss sich schließlich so viel Bullshit anhören wie Newsom, die nun wirklich nicht Jedermanns Musik schreibt und doch die eine Künstlerin zu sein scheint, zu der man nicht keine Meinung haben kann. Wer die erschütternde Wahrhaftigkeit ihrer ersten beiden Platten “The Milk-Eyed Mender” und “Ys” nicht gehört hat, wird sie höchstwahrscheinlich auch diesmal nicht hören und dann eben weiterhin behaupten, Newsom sei die Nebelkrähe mit der Harfe, die Fortsetzung von Kate Bush mit noch größerer Esoterik-Klatsche. Die 28-jährige Kalifornierin kommt trotzdem wieder mit ausgestreckter Hand und Lächeln im Gesicht auf einen zu; freundlicher denn je sogar, weshalb “Have One On Me”, ob nun bewusst oder unbewusst, auch zu einem Album wird, auf dem sie gegen ihr Bild in der Öffentlichkeit anspielt und -komponiert. Es gab da zuletzt sowieso ein paar Risse: Wie kann diese vermeintlich ernsthafte, angeblich prätentiöse Frau mit einem halbberühmten Comedian zusammen sein? Und wie ist aus dem naturnahen Mädchen der “Milk-Eyed Mender”-Zeit ein solches Fashion Victim geworden, das sich in Hochglanz-Fotoshoots und nun auch auf dem Cover von “Have One On Me” räkelt? Die Antworten auf diese und alle anderen Fragen, die man sich jemals gestellt hat, stecken in einem Album, das Newsom als Persönlichkeit zeigt, die so gefestigt und vielseitig wie die Rockmusik selbst erscheint. Es gibt Songs auf “Have One On Me”, die einen mit der donnernden Orchester-Gewalt von “Ys” überrennen, Stücke, die im Stil der “Ys Street Band-EP” im kleineren Kreis und mit großer Genauigkeit ausarrangiert wurden und Sololieder an der Harfe, die dem Sinn des Lebens nie näher kamen als in den erleuchtenden vier Minuten von “81”. Es gibt aber auch Barjazz-Klavierstücke und das Klavier überhaupt als beinahe gleichberechtigtes zweites Leadinstrument. Es gibt E-Gitarren, Handclaps und Heiterkeit. Newsom als zweite Stimme in ihrem eigenen Kopf, Newsom im Joni-Mitchell-Folkjazz-Modus, Newsom als Pfadfinderin, die dem kurzen Country-Schlenker des “Ys”-Openers “Emily” noch ein paar Schritte weiterfolgt oder am Ende von “Baby Birch” ein lustiges Geklimper aus ihrer Harfe herauskitzelt, das nach fernem Osten und großer Anstrengung klingt. Und im letzten Song schließlich gibt es die Auflösung des Ganzen, als erschöpftes Rauschen einer Postrock-Band, die von sich selbst gezeichnet die Waffen streckt. Dazu die Texte? Können wir im nächsten Heft noch besprechen. Bis dahin gilt: Das Jahr ist vorbei, ihr könnt alle einpacken.
weitere Platten
Divers
VÖ: 23.10.2015
Joanna Newsom & The Ys Street Band (EP)
VÖ: 06.04.2007
Ys
VÖ: 10.11.2006
The Milky Eyed Bender
VÖ: 01.01.1900