Der Frontmann von Okkervil River ist ein Analytiker, ein Mann, der über vieles Bescheid weiß und gerne zugibt, dass er sich mit seiner Denkerei schon mal selbst im Weg steht. Die fünf bisherigen Okkervil-River-Alben kann er sich nicht mehr anhören, weil er sie zu oft und zu ausführlich erklärt hat, weshalb am Anfang von “I Am Very Far” der Wille stand, sich das nicht mehr anzutun. Die beste Versicherung gegen Erklärungen ist natürlich, Musik zu schreiben, die selbst für den Komponisten unerklärlich ist – und so schwor Sheff allen Konzepten von Charakterstudien und historischen Situationsbeschreibungen ab, die sein Songwriting bisher bestimmt hatten, um sich ganz der Ungewissheit hinzugeben. Die Musik, die dabei herausgekommen ist, ist noch immer unverwechselbar Okkervil River, stürmischer Indie- und betretener Folkrock, in der ersten Albumhälfte sogar ordentlich abgewechselt. Der Weg dorthin war aber anders diesmal, geprägt von Alleingängen und undemokratischen Entscheidungen.
Sheff schrieb die Texte, während er bei seinen Großeltern wohnte, ihnen Cocktails mixte und sich Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg anhörte, was möglicherweise das große Blutvergießen und den beachtlichen Bodycount auf “I Am Very Far” erklärt. Danach bestellte er sich seine Musiker zu mehreren Intensiv-Sessions in verschiedene Studios, ließ tagelang dieselben Songs spielen und arrangierte und produzierte sich aus den Aufnahmebändern schließlich sein Album zusammen. Im stampfenden, dampfenden “Wake And Be Fine” hört man deshalb 13 Musiker, sieben davon mit Gitarren. “White Shadow Waltz” ist weniger Walzer als Walze, der Sound einer Band, die sich sehr langsam durch etwas sehr Dickflüssiges hindurchkämpft und dann Aktenschränke gegen die Wand wirft.
Okkervil River waren nie eine zimperliche Band, aber “I Am Very Far” ist auch für ihre Verhältnisse ein bemerkenswert garstiges, unterschwellig aggressives Album. Die Gitarrensoli klingen nach gerissenen Saiten und blutenden Fingerkuppen, der Bandsalat aus der Boombox von Piratess macht einen selbst ganz hitzig. Selbst die Streicher, Bläser und Backgroundchöre, alles, was Okkervil River bisher eine gewisse Feingeistigkeit geben konnte, spielt diesmal gegen die Songs an, entlastet sie nicht, wird zum weiteren Unruheherd. Sheff hat es nicht so geplant, aber doch zumindest heraufbeschworen: Er wollte eine unkontrollierbare Platte, er hat sie gekriegt, und er meistert sie letztlich, weil er eben nicht nur Kopfmensch, sondern auch Kämpfertyp ist.
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