Es hat natürlich einen Grund, dass “Ex Lives” das erste Metalcore-Album seit zehn Jahren ist, das den Soundcheck abräumt – denselben Grund, aus dem Every Time I Die eine der wenigen verbliebenen Bands ihres Genres sind, bei denen man sich lieber auf neue Platten freut als auf die Auflösung: Metalcore gehört zu den tragischeren Bewegungen der Rockmusik, die noch schneller ausbrannten, als sie Feuer gefangen hatten. Einerseits weil Metalcore kommerziell ausgeschlachtet wurde, bis das Publikum übersättigt war und weiterzog; andererseits weil die Bands selbst erstaunlich schnell verschlissen und leergeschrieben wirkten. Ein Paradebeispiel dafür sind The Used. 2002 wählte VISIONS ihr Debütalbum zur Platte des Monats und gab die damals so ernstgemeinte wie heute unerklärliche Prognose ab, es möglicherweise mit “einer der prägenden Bands dieses Jahrzehnts” zu tun zu haben. Leider hatten wir diese Rechnung ohne The Used gemacht, die sich danach nur noch in einem Punkt kreativ zeigten: auf wie viele Weisen sich eine Band selbst runterwirtschaften kann.
Den Aufstieg von Every Time I Die etwa zur gleichen Zeit verfolgten wir vergleichsweise verhalten. Dabei verlief und verläuft die Formkurve der Band mit dem notorischen Bassisten-Problem (mehr Ex-Bassisten als Alben) genau entgegengesetzt: In über zehn Jahren haben sich Every Time I Die auf sehr natürliche Weise aus dem Untergrund von Buffalo/New York in die Führungsspitze des Metalcore gespielt: kaum Image, kaum Marotten, keine PR-Power im Rücken und als äußerstes Zugeständnis an die Gesetze des Marktes 2008 ein Plattenvertrag mit Epitaph. Eine nur auf den ersten Blick abwegige Kombination: Every Time I Die haben ein großes Herz für Punkrock, was auf “Ex Lives” besonders deutlich zu Tage tritt – im knackig-kratzigen Sound, in den galligen Polit-Tiraden ihres Sängers Keith Buckley und nicht zuletzt auf dem Coverfoto, das 2010 bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Toronto entstanden ist und zeigt, wie die Polizei einen Demonstranten in die Mangel nimmt. Er trägt ein Shirt von Every Time I Die.
Rein musikalisch hingegen hat sich die Band nie stärker Richtung Hardcore und Sludge Metal gelehnt. “Ex Lives” setzt so den Weg seines Vorgängers “New Junk Aesthetic” fort und definiert Härte und Kompromisslosigkeit im Kontext Every Time I Die noch einmal neu: elf Songs, elf Angriffe auf die gute Laune, elfmal das Keine-Gefangenen-Prinzip. Da kann sich ein Stück wie “Partying Is Such Sweet Sorrow” sogar ein echtes Hillbilly-Intro mit Banjo gönnen – nichts verwässert nachhaltig die Vision der Band von einer hochdynamischen, fuchsteufelswilden Metalcore-Platte, die immer genau in dem Augenblick neue Haken schlägt, wenn man gerade zu wissen glaubt, wohin die Reise geht; die eine ideale Balance aus Melodie und Brutalität gefunden hat und die bei aller Klaustrophobie das Luftholen nicht vergisst. “Ex Lives” ist die neue Platte der besten Metalcore-Band und die Lebensversicherung eines Genres, das längst als hoffnungslos galt. Sie kommt kurioserweise in einem Monat, in dem “The Saddest Landscape” ganz ähnliche Berge versetzen.
weitere Platten
Radical
VÖ: 22.10.2021
Low Teens
VÖ: 23.09.2016
Salem (EP)
VÖ: 18.04.2015
From Parts Unknown
VÖ: 27.06.2014
New Junk Aesthetic
VÖ: 11.09.2009
The Big Dirty
VÖ: 14.09.2007
Gutter Phenomenon
VÖ: 22.08.2005
Hot Damn!
VÖ: 15.03.2004