Endlich, denn als wir einst kapitulierten und alles absagten, stellte man uns zur Rede. Und als wir bei Tocotronic nachfragen wollten, waren die längst weiterzogen, in das letzte Drittel ihrer Berlin-Trilogie, die vor drei Jahren mit dem formvollendeten Album “Schall und Wahn” ihr Ende fand. Dann ruhten Tocotronic, bevor sie verkündeten, es stehe ein Antwort-Album an. Das gibt ja auch schon der Titel her: “Wie wir leben wollen”. Man denkt an scheißkluge Werbung, ausgedacht von einer scheißerfolgreichen Berliner Agentur mit ironischem Namen. Oder an den Slogan einer nur manchmal erfolgreichen Partei, die große Visionen verfolgt, aber an organisatorischen Fragen scheitert. In dieser Hinsicht muss man bei Tocotronic keine Angst haben. Die Band ist super organisiert, nichts bringt sie mehr auseinander. Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und Rick McPhail sind glücklich mit den Rollen, die sie bei Tocotronic spielen. Die Frage lautet: Können zufriedene Bands exzellente Platten aufnehmen? Schwierig. Also müssen Konflikte her. Von Lowtzow schaut in den Spiegel. Nicht das Magazin, sondern das Ding im Bad. Er findet dort einen Künstler, der im März 42 Jahre alt wird. Der morgens graue Haare zählt, seinen Körper an den falschen Stellen fühlt und statistisch gesehen zu viel Alkohol konsumiert. Ist das ein Thema? Leserinnen des exzellenten Missy Magazine werden sagen: nicht unbedingt. Wir sagen: Na klar, her mit den Antworten. Aber die können wehtun. In “Neutrum” geht es um desolaten Sex. Ein Lied heißt “Ich möchte für dich nüchtern bleiben”; der Protagonist verspricht sich dadurch nicht nur mehr und weniger desolaten Sex, sondern auch mehr Freiheit und weniger Scham. Von dieser Scham kann auch die Heldin von “Vulgäre Verse” erzählen, dem Herzstück der Platte. Im Walzertakt lässt von Lowtzow eine alte Diva aus ihrem vulgären Leben erzählen. Handelt es sich um Marlene Dietrich? Helmut Berger? Von Lowtzow selbst? Zur Musik: Nach dem direkten Klang der letzten drei Platten lässt Produzent Moses Schneider auf “Wie wir leben wollen” mehr Hall zu. Dadurch klingen die Songs wattiger und verträumter, mehr nach den 60ern als den 90ern. Das war zuletzt auf dem von Tobias Levin produzierten “Tocotronic” der Fall, und dieses Shoegazer-hafte steht der Band nach wie vor ausgezeichnet – zumal von Lowtzow am Gesang gearbeitet hat und seine Stimme spielend die Räume füllt, die sich hier ergeben. Ach ja, ein ironischer Smash-Hit über zum Beispiel Selbstbefriedigung fehlt. Wir sind hier nicht bei den Ärzten.
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VÖ: 21.08.2020
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>20<
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Pure Vernunft darf niemals siegen
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