Von wegen “sofort los”. Zwei Minuten und zwei Sekunden dauert es, bis Casper auf seinem dritten Album zum ersten Mal die Stimme erhebt. Eine Ewigkeit nach Pop-Maßstäben. Casper hat die Ruhe weg und “Im Ascheregen” alle Zeit der Welt, sich großzumachen. Erst hört man Schritte, dann eine Orgel, danach ein Klavier. Trommelschläge und Gitarrenwirbel, ein halbes Orchester, gefolgt vom “Oh! Oh! Oh!” des Chors. Mit der Engelsgeduld eines Sadisten stellt sich Casper stumm, dann endlich lenkt er ein: “Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen.” So also lautet die meistersehnte Comeback-Zeile eines Rappers 2013: Casper spricht zum Auftakt vom Ende, lässt das Früher im Flammenmeer verwinken und fährt “sofort los, sorglos, ohne groß Fokus Richtung Zukunft.” Vor einigen Wochen kam Caspers Promoter in die Redaktion und spielte uns das Album vor. Als das ausufernde “Ascheregen”-Intro vorbei war, fragten wir nach der gekürzten Radio-Edit, die es von dieser ersten Single doch sicher geben werde. “Es wird keine geben”, sagte Caspers Promoter. “Wenn die Radioleute eine kürzere Version wollen, müssen sie sich wohl eine zusammenschneiden.” Solche Sätze bringt das Selbstverständnis auf den Punkt, das Casper und die Menschen mit denen er sich umgibt, derzeit an den Tag legen. “Alles, aber zu eigenen Konditionen” fungiert als unausgesprochener Leitspruch seiner Berliner Schaltzentrale, diesem Think Tank einer neuartigen Crossover-Kultur, die Casper mit seinem gefühlten Debüt “XOXO” (2011) etabliert hat. Auf “Hinterland” nun lösen sich die Grenzen zwischen Indierock und HipHop endgültig auf. Faustformel: Ohne Caspers Raps hätte man es hier in weiten Teilen mit einer lupenreinen Indieplatte zu tun, die in verschwenderisch arrangierten Stücken wie “Hinterland”, “20qm” oder “Im Ascheregen” vom Talent ihres Teilproduzenten Konstantin Gropper alias Get Well Soon profitiert. Nur würde dann natürlich die textliche Schlagkraft des Albums fehlen: Lyrics, in denen Casper tief blicken lässt; oft noch tiefer als auf “XOXO”, wenn man sie autobiografisch auffasst. Seelenstrips sind die neuen Muskelspiele im HipHop – nicht erst seit Casper, aber seit Casper ganz besonders. “Hinterland” ist trotz allem keine makellose Platte: Der Element-Of-Crime-mäßige Chanson-Ausflug “La Rue Morgue” wirkt auch in diesem Meer an Sound- und Stilmöglichkeiten wie ein Fremdkörper, mehr noch als Gastrefrain von Editors-Sänger Tom Smith in “Lux Lisbon”. Und das mit “Ganz schön okay” ausgerechnet die Bro-Hymne mit Kraftklub ganz schön mittelmäßig geraten ist, deutet an, dass Casper etwas zu viel wollte für sein drittes Album. Das letzte war tatsächlich das homgenere; “Hinterland” hingegen bildet Caspers breiten Musik-Background besser ab, von street-krediblem HipHop à la “Jambalaya” über seine romantisch verklärte Hardcore-Vergangenheit in “Alles endet (aber nie die Musik)” bis hin zu norwegischem Black-Metal, seinem Untermalungswunsch fürs VISIONS-Titelshoot der letzten Ausgabe. “Leben im Augenblick”, singt er im letzten Track. Und genau darum geht es hier. Elf Tracks, elf Variationen derselben Botschaft.
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