Neige, die graue Eminenz hinter Alcest, kann im Vorfeld noch so viel darüber erzählen, wie viel düsterer und druckvoller als “Shelter” das neue Album geworden sei: verträumter, zugänglicher und soundmäßig fokussierter als hier, waren die Blackgazer nie. Das liegt zum großen Teil daran, dass in ihrer Musik neuerdings der erste Teil der Genreverschmelzung, die Bands wie Deafheaven und Wolves In The Throne Room ins popkulturelle Kurzzeitgedächtnis eingehämmert haben, beinahe komplett ausgedient hat. Black Metal überlebt die musikalische Evolution der Franzosen auf “Kodama” lediglich in den eingestreuten Kreisch-Passagen, die sich aber vor allem im Hintergrund abspielen und mehr an die Postrock-Screamo-Vermenger Envy als an Black-Metal-Urgewalten erinnern, und in den kurzen Blastbeat-Gewittern im passend “Oiseaux de proie” (zu Deutsch: Raubvögel) betitelten Song und in “Je suis d’ailleurs”. Stattdessen entwickeln sich Alcest bereits mit dem eröffnenden Titeltrack stärker in Richtung sphärischer, raumgreifender Postrock mit Shoegazing-Elementen, den sie im letzten Drittel mit süßlichem, männlich-weiblichem Doppelgesang garnieren. Dieses gesangliche Stilmittel führt allerdings ein wenig in die Irre, denn thematisch und textlich bleibt auch “Kodama”, das seinen Namen den japanischen Baumgeistern entlehnt hat, schwere Kost. Der hypnotische Mystizismus, der das Album wie ein blickdicht gewobener Mantel umhüllt, speist sich nicht nur aus dem Studio-Ghibli-Meisterwerk “Prinzessin Mononoke” und seiner Verhandlung des Gegensatzes zwischen Natur und Kultur. In “Je suis d’ailleurs” vertonen Alcest zudem die Kurzgeschichte “Der Außenseiter” von Horror-Urvater H.P. Lovecraft – eine Parabel über Ausweglosigkeit und das Gefühl, nicht dazu zu gehören – mit schleppend-melancholischer Gitarrenarbeit zwischen halligem Postrock und wuchtigem Post Metal mit beinahe sakralem Gesang im Hintergrund. “Untouched” hingegen stapelt tribalistisch anmutende Gesänge auf sich behutsam aufschichtende Melodien. Das Schlüpfen aus ihrem eigenen Kokon, das die Band im entsprechend betitelten “Éclosion” thematisiert, gelingt Alcest letztendlich weniger durch den konzeptuellen Überbau, als dadurch, dass sie sich auf vielsichtige Weise vom zum Trend ausgerufenen Blackgaze lossagen – durch die Fokussierung auf gut und gelungen erzählte Geschichten, vielschichtige Melodiebögen und einen beinahe spirituellen Anstrich, der ihrem Postrock-Shoegaze-Posthardcore-Hybriden ganz besonderen Glanz verleiht.
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