Der Schlüssel zu “There Is No Year” ist “Misophonia”. Das Gedicht, das auf Cover und Innenhülle des Albums gedruckt ist, hat Algiers-Sänger Franklin James Fisher geschrieben und daraus seine Songtexte extrahiert. Erste Auszüge aus dem Gedicht stellten Algiers im Video zum Spoken-Word-Stück “Can The Sub_Bass Speak” vor. Darin rekonstruiert Fisher einen fiktiven Dialog, in dem die Grenze zwischen gut und gut gemeint schnell überschritten wird. Was nach Smalltalk klingt, ist nichts weiter als Rassismus, der sich als vermeintliches Verständnis tarnt. Ausweis einer Überforderung durch eine Band, die so divers ist wie unsere Welt: ethnisch, sexuell, geo- und biographisch. Wörtlich übersetzt bezeichnet “Misophonia” Hass auf Geräusche. Ein Teil der Forschung zu dieser Erkrankung geht davon aus, dass Misophonie durch klassische Konditionierung entsteht, Betroffene unbewusst negative oder traumatische Ereignisse mit einem bestimmten Geräusch verbinden. Bei Fisher und Algiers ist dieses traumatische Geräusch, das unterstreicht “Can The Sub_ Bass Speak” (dessen Titel auf einen der Schlüsseltexte der postkolonialen Theorie anspielt) in aller Deutlichkeit, die unerträgliche Herabsetzung und Verwüstung, die von Sprache ausgeht. Algiers würden auf die Frage, wie man Veränderungen anstößt, deshalb immer “durch Sprache” antworten. Und die universellste Sprache, die sie und wir haben, ist Musik. Weil Algiers aber auch wissen, dass subversive Ideen am besten ins Bewusstsein sickern, wenn sie entsprechend affirmativ verpackt sind, ist “There Is No Year” ihr musikalisch bislang zugänglichstes Album, ein Text-Wolf im Song-Schafspelz. In der Single “Dispossession” unterlegen sie Zeilen wie Seen the kings and their soldiers all dethroned and consumed/ Run and tell it to everybody underground/ Freedom is coming soon mit fiebrigem Soul. Der Glaube an die Veränderung, die auf die derzeit herrschende Finsternis folgen muss, treibt Algiers an. Im Interview zum Vorgänger hatten sie bereits angedeutet, ein ganzes Album voller Gospel machen zu können. Mit “There Is No Year” haben sie das eingelöst – und gehen doch weit darüber hinaus. Um dieses Album, das wie kaum ein zweites durch seine Gegensätze aufwühlt, in Gänze zu verstehen, wird es Zeit brauchen. Wer sich die nimmt, wird mit einem Album für die Ewigkeit belohnt und genügend Anstößen, endlich etwas zu verändern – am besten das eigene Sprechen. Worauf warten wir noch?
weitere Platten
Shook
VÖ: 24.02.2023
1st November 1954
VÖ: 23.08.2018
The Underside Of Power
VÖ: 23.06.2017
Algiers
VÖ: 29.05.2015