Amyl And The Sniffers
Cartoon Darkness
Text: Stefan Reuter | Erschienen in: VISIONS Nr. 380
Es ist schon eine seltsame Vorstellung, dass Amyl And The Sniffers im kommenden Sommer vor bis zu zehntausend Menschen ein Konzert in Berlin spielen sollen. Nicht, weil sie das nicht verdient hätten. Auch nicht, weil ihnen dafür die Songs fehlen, dazu gleich mehr. Vielmehr schreit ihre wild pöbelnde Mischung aus Punk und Garage Rock nach Schlägereien an versifften Tresen und nicht nach Freiluft vor malerischer Kulisse. Aber auch darin sind sie inzwischen geübt, unter anderem Dank Support-Slots für Green Day und die Foo Fighters.
In deren Studio 606 in Los Angeles ist “Cartoon Darkness” entstanden, wieder in Zusammenarbeit mit Nick Launay (Nick Cave And The Bad Seeds, Idles, Yeah Yeah Yeahs). Der hatte schon bei “Comfort To Me” (2021) gezeigt, dass er genau versteht, wie sich die rohe Energie von Sängerin Amy Taylor und ihren drei Atzen einfangen lässt, ohne die Feinheiten niederzubrüllen, die das Ganze so richtig gut machen. Zunächst fällt “Jerkin’” jedoch mit der Tür ins Haus: „You’re a dumb cunt/ You’re an asshole/ Every time you talk you mumble-grumble“, poltert Taylor zu stampfendem Hardrock.
Wer auch immer da sein Fett wegkriegt, er braucht nicht zu denken, dass sie weitere Gedanken an ihn verschwenden würde: „I don’t wanna be stuck inside that negativity.“ Genau darum geht es auf dem dritten Album der Australier*innen: Während die reale Welt in vermeintlich jeder Hinsicht zu einer reinen Shitshow verkommen ist und die digitale, die dazu maßgeblich beiträgt, nicht weniger kaputt ist, suchen sie nach dem Echten, nach Spaß.
“Motorbike Song” etwa reißt das altbekannte Bild der Harley Davidson, die in den Sonnenuntergang brettert, an sich und übersetzt es ausgesprochen australisch in den Bandkontext: „I wanna feel like a moty b going down the highway/ Going overspeed.“ Es geht um Sex, es geht um Freiheit, eben um genau dieses ungefilterte Leben. Das ist Punk, genau wie es auch “Pigs” und das rabiate “It’s Mine” sind. “Tiny Bikini” behandelt auf clevere Weise das Dasein als Frau in einer männerdominierten Musikwelt: „I know it’s technically my space/ But I’m the only one here in a bikini.“ Bissiger Kommentar und Einladung zum gemeinsamen Hinternwackeln in einem.
In eine ähnliche Kerbe schlägt “Me And The Girls”, wenn man so möchte Amyl And The Sniffers’ “Girls Just Want To Have Fun”: „Me and the girls are out having fun/ You and the boys are playing your Xbox.“ Der Beat zieht direkt auf die Tanzfläche, ein trashiger Vocoder-Effekt verpasst den letzten Schliff für einen famosen Hit. Damit wäre man auch wieder auf den großen Bühnen angelangt: Es wird eine helle Freude sein, der Band zuzusehen, wie sie die mit ihren charmanten Schimpftiraden erobert. Mit dem zunächst resigniert wirkenden und dann doch ausholenden “Big Dreams” und dem lässigen Herzschmerz-Ohrwurm “Bailing On Me” finden sich auf “Cartoon Darkness” auch Stücke, die aus einem Festivalpublikum einen Kneipenchor machen können.
DNA:
The Chats – “Get Fucked”
2022, Bargain Bin
The Chats aus Queensland sind ähnlich schnoddrig wie Amyl And The Sniffers und klingen dabei so durch und durch australisch, dass es fast wie Satire anmutet. Wie “Cartoon Darkness” ist auch “Get Fucked” ein großer Spaß. Ein Duett zwischen Amy Taylor und Eamon Sandwith steht noch aus, dürfte aber an lakonischer Coolness kaum zu überbieten sein.
Blondie – “Parallel Lines”
1978, Capitol
Streng genommen müsste hier ein Album von Riot-Grrrl-Pionierinnen wie Bikini Kill, Bratmobile oder L7 stehen. Doch obwohl sie deutlich weniger Punk sind, lassen sich Parallelen zum wohl besten Album der New-Wave-Band ziehen: Auch Blondie entwickelten ihren Stil weiter und trauten sich, größer zu denken. Dass Amy Taylor eine charismatische Frontfrau wie Debbie Harry ist, steht außer Frage.
AC/DC – “Dirty Deeds Done Dirt Cheap”
1976, Atlantic
Ob sie wollen oder nicht, an AC/DC führt für Bands aus Australien kein Weg vorbei. Für Amyl And The Sniffers ist das nicht weiter wild, haben sie deren Musik doch mit der Muttermilch aufgesogen. Musikalisch macht sich das allenfalls am Rande bemerkbar, dafür haben Amy und ihre Jungs Angus & Co. eines voraus: Hier ist Musik noch gefährlich und wirklich hungrig.
Zweitstimmen:
Jonas Silbermann-Schön: „Mid-Tempo-Stomper, Vocoder, Balladen und der Produzent von INXS? Auch wenn Amyl And The Sniffers mit diesem Album dem Pub entwachsen, macht es nur noch mehr Spaß sich von der australischen Wendy O. Williams und ihrer Vokuhila-Gang die Fresse polieren zu lassen.“
Florian Schneider: „Stillstand ist der Tod – und so verändern Amyl And The Sniffers ihren Sound weiter. Allenfalls hätte man sich noch mehr Experimente wie den Disco-Stomper ‘U Should Not Be Doing That’ mit freidrehendem Saxofon und Cowbell gewünscht, aber auch so gehen die Australier:innen ihren Weg.“
weitere Platten
Comfort To Me
VÖ: 10.09.2021
Amyl And The Sniffers
VÖ: 24.05.2019