Zwischen den Generationen X, Y und Praktikum hat sich das Einverständnis eingeschlichen, dass deutschsprachige Rockmusik nicht mehr direkt sein darf. Unverblümte Sentimentalität ist nur in Kombination mit linker Vergangenheit, vernölter Stimme oder Geschraddel erlaubt. Bosse ist anders. Ohne Bruch, ohne Diskurs, ohne sich zu fragen, warum man angeblich nicht mehr hemdsärmeligen Rock mit dem Herzen auf der Zunge machen darf. Unter der herrlichen Produktion von Moses Hess (Tocotronic, Kante) ist seine Band bei sich selbst ankommen. Der war überrascht von der Diskrepanz zwischen dem halbherzigen Gewusel des Debüts und der Live-Präsenz der Band und ließ sie das zweite Album schnörkellos live einspielen. Ergebnis ist ein überwältigend bratziger, offensiver Sound, der an US-Emorock und den Produzenten sogar an Motorpsycho und Kyuss denken lässt, während jeder Song funktioniert. Es gibt keine Füller. “Die Irritierten” und “Guten Morgen, Spinner!” sind mitreißende Rockromantik zwischen Taking Back Sunday und Kettcar, “Plötzlich” und “Eigentlich” geile Bretter, “Schlafen” und “Seemannsblau” überzeugende, rahmende Skizzen. Dass bei Bosse alles schnell geht, ist wahr. Er ist ein impulsiver Mensch, der sieht, fühlt und handelt. Seit der letzten Platte hat er sich verliebt, geheiratet, ein Kind gezeugt. Auf “Frankfurt/Oder” – dem Song für seine Frau – spielt Sven Regener Trompete, weil ihn das Lied bewegte. Man muss jung und naiv sein, um sich von diesem Rock bewegen zu lassen; oder reif genug, es sich wieder zu erlauben.
Oliver Uschmann 9
Viel getan hat sich nicht seit letztem Jahr. Gut, die Single heißt diesmal “Die Irritierten” statt “Kraft” und das Album “Guten Morgen Spinner” statt “Kamikazeherz” – aber sind Schall und Rauch einmal verflogen, entblößt sich die zweite LP aus dem Hause Bosse schnell als neuer Aufguss nach altem Rezept. Neudeutscher Schlager für ganz Junggebliebene. Ein ganz passabler Radiohit, dazu noch drei, vier Lieder mit ähnlich leicht erhöhtem Tempo und Zweizeilenrefrain, außerdem die obligatorischen “ungekünstelten” Balladen und dazwischen: ganz viel Füller. Da fällt es nicht schwer zu glauben, dass Axel Bosse sein neuestes Werk “fast wie nebenbei” geschrieben haben will. Genauso nebenbei wohl, wie er beim Schreiben Die Sterne, Wir sind Helden und Rio Reiser gehört haben muss, was sich auf “Guten Morgen, Spinner!” in zwar ganz findig geklauten, aber allerhöchstens halb umgesetzten Ansätzen niederschlägt. Und aus denen holen gute Produktion und die eine oder andere nette Idee auch nicht mehr raus als die alte Erkenntnis, dass es im deutschen Poprock sicher Schlechteres gibt – aber auch reichlich Besseres. Für einen weiteren Sommer als Festivalvorband mag das reichen, und wer bei den drei Madsen-Brüdern weiche Knie bekommt, wird auch zu Axel rocken, bis die Zahnspange hakt. Für die nächste Saison aber sei Bosse mit auf den Weg gegeben, dass ein bisschen Mühe manchmal nicht schadet. So ganz nebenbei.
Britta Helm 4