Die Geschichte hinter “Descensus” ist hart und bitter. Sie hätte auch gänzlich anders ausgehen können. Im besten Falle wäre dann nur dieses fünfte Album der Band aus Philadelphia nicht erschienen oder die Band hätte sich aufgelöst, im schlimmsten Fall wäre Sänger Anthony Green nicht mehr am Leben. Dass mit “Descenus” nun auch noch die intensivste und wahrscheinlich sogar beste Platte der bisherigen Bandgeschichte erscheint, ist letztlich auch auf die Freundschaft der Bandmitglieder zurückzuführen, die sich in ihren dunkelsten Stunden bewährt hat. Doch der Weg dorthin führte über persönliche Abstürze, frustrierte Saufgelage im Proberaum und die Erkenntnis, dass Sänger Anthony Green während seiner Arbeit am nächsten Soloalbum in eine heimliche und teuflische Heroinabhängigkeit gerutscht war, die den Familienvater bis zum Selbstmordgedanken trieb. Die Konfrontation mit seinen Bandkollegen und das Eingeständnis seiner Schwäche und Sucht konnten ihn gerade noch rechtzeitig wachrütteln. Es spricht für die Freundschaft und Stärke von Circa Survive, dass sie in diesem Moment den Menschen über ihre Karriere stellten und ihm anboten, die Band aufzulösen, wenn diese seinem Neuanfang im Weg stehen würde. Die Musikwelt kann sich glücklich schätzen, dass Green lieber den weiteren gemeinsamen künstlerischen Weg wählte und mit der Band nahezu ohne Vorarbeit ins bereits lange vorab gebuchte Studio ging, um in fünf Wochen ihr erstes drogenfreies Album aufzunehmen. In diesem Sinne könnte man Descensus neben “Juturna” stellen und von einer Art zweitem Debüt sprechen, aber das wäre nicht richtig: Ohne die Erfahrungen, ohne die Entwicklung der Band in den letzten zehn Jahren wäre “Descensus” überhaupt nicht denkbar gewesen. Vielmehr waren sich Circa Survive ihrer eigenen Zerbrechlichkeit bewusst und haben ihre Qualitäten – getrieben vom Zeitdruck und den Dämonen der Vergangenheit – verdichtet und losgelassen, und zwar ohne das monatelange hadern und diskutieren, wie es sonst immer der Fall gewesen war. Das Ergebnis dieser Direktheit ist eindrucksvoll: Der Opener “Schema” ist hart und direkt, ein regelrechter Posthardcore-Brecher, wären da nicht diese typischen schwebenden Strophen, über die Green seine ätherischen Melodien singt. Solche Ausbrüche gibt es immer wieder, auch im darauf folgenden “Child Of The Desert” mit seinem furiosen Finale, während sich die Melodie von “Always Begin” unmittelbar in den Synapsen festsetzt und das instrumentale Interlude “Who Will Lie With Me Now” einen Moment des Innehaltens fordert. Das knapp siebenminütige “Nesting Dolls” ist ein weiterer Höhepunkt, elegisch und befreiend gleichzeitig singt Green zur Pianobegleitung: “I dont want to feel like this/ Ever again.” Das Stück tastet sich langsam durch die Dunkelheit weiter, beginnt loszulassen, aber endet dieses Mal eben nicht in einem stürmischen Finale, sondern klingt in der Ewigkeit aus. “Phantom” ist dagegen fast ein loungiges Jazzstück, dem der Gesang Struktur und Richtung gibt. “Descensus” ist Circa Survives Album, auf dem ihre vielfältigen musikalischen Einflüsse so deutlich hervortreten wie nie zuvor: Postrock, Shoegaze – und natürlich Prog und Alternative Rock. Trotzdem klingt es in seiner Gesamtheit ausgeglichen wie nie zuvor.
weitere Platten
Two Dreams
VÖ: 16.12.2022
A Dream About Death (EP)
VÖ: 04.02.2022
A Dream About Love (EP)
VÖ: 22.10.2021
The Amulet
VÖ: 22.09.2017
Blue Sky Noise
VÖ: 28.05.2010
On Letting Go
VÖ: 22.06.2007
Juturna
VÖ: 20.06.2005